Einführung
in die Thematik
Ästhetische Praxis ist von Anteilen geprägt, denen zugesprochen
wird, kompensatorisch zu wirken (Wichelhaus 1995; Benikowski/ Gösken
1999; Benikowski/ Bößer/ Schult 1999; Gösken 1999).
Ein Bild zu malen, eine Konstruktion aus Holz aufzubauen, mit einem
Instrument zu musizieren, Geschichten zu fabulieren und diese aufzuschreiben,
sich rhythmisch zu bewegen sind Tätigkeiten, die ausgleichend wirken
können auf soziale, kulturelle oder gesellschaftliche Entwicklungen.
Geht man beispielsweise davon aus, dass Heranwachsende heute in ihrem
Alltag nicht genügend sinnliche, materialbezogene Erfahrungen machen,
dann kann dieser Erfahrungsarmut pädagogisch entgegengewirkt werden.
Die Kinder und Jugendlichen erhalten etwa im schulischen Kunstunterricht,
auf der Kinderfreizeit oder in der Jugendkunstschule Möglichkeiten,
solche direkten senuellen Erfahrungen mit unterschiedlichen Materialien
nachzuholen: Sie sägen splitterndes Holz. Sie formen glitschigen
Ton. Sie hämmern auf harten Stein. Auch die gezielte Förderung
sozialer Kompetenzen in der Schule findet häufig unter kompensatorischen
Prämissen statt.
Demnach ist eine wichtige Legitimation für pädagogische Maßnahmen,
dass Defizite ausgeglichen werden sollen, die aus dem Alltag der Heranwachsenden
herrühren; sonst - so die Annahme - ist eine angemessene Entwicklung
des Individuums heute nicht möglich. Freilich muss zugleich eine
Abgrenzung zu therapeutischen - hier im engeren Sinne zu kunst-, musik-
oder tanztherapeutischen Maßnahmen - gezogen werden. Therapie
will heilend wirken, sie geht nicht nur von Defiziten, sondern von Störungen,
großem Leidensdruck oder Krankheiten aus. Zudem findet Therapie
stets in kleinen Gruppen oder gar Einzelsitzungen statt. Unterricht
in der Schule schließt dies bereits wegen Klassenstärken
von meist über 30 Schülerinnen und Schülern aus.
Eine Aufgabe ästhetischer Erziehung ist somit, die kompensatorischen
Anteile, die in ästhetischer Praxis bereits enthalten sind, pädagogisch
gezielt einzusetzen und zu nutzen. Ein solches Anliegen lässt sich
zweifellos bildungstheoretisch rechtfertigen; etwa in Rückgriff
auf Friedrich Schillers immer wieder neu ausgelegten und interpretierten,
nun auch im Internet in vollem Umfang und kostenlos verfügbaren
Klassikertext "Über die ästhetische Erziehung des Menschen
in einer Reihe von Briefen" (http://gutenberg.aol.de/schiller/erziehng/erziehng.htm)
von 1793/95. Aber im Folgenden geht es darum, ganz konkret eine Kunstunterrichtseinheit,
die kompensatorisch wirken soll, u. a. anhand eines Fallbeispiels
daraufhin empirisch zu untersuchen, ob sie wirklich kompensatorisch
wirkt und welche kulturellen, sozialen und gesellschaftlichen Defizite
hier ausgeglichen werden.
Empirische Forschungen in Bereichen Ästhetischer Erziehung
Unter dem Blickwinkel einer gestiegenen Sensibilisierung der Öffentlichkeit
und der Politik hinsichtlich der Qualitätsaspekte von Schule (PISA-Studie)
und außerschulischen Lernfeldern (Arnold 1999), offeriert Wirkungsforschung
pragmatische Wege, das zu "belegen", was zuvor an Absichten
statuiert wurde (Moser 1999; Schratz 1999). Dafür bieten sich insbesondere
Verfahren der qualitativ-empirischen Wirkungsforschung an, im Gegensatz
zu rein statistischen Evaluationen. Hier liegen Ziele nicht nur für
das Studium der Fächer im Bereich der ästhetischen Erziehung
und für die zweite Ausbildungsphase, das Referendaritat. Sondern
pädagogische Professionalität wird zukünftig grundsätzlich
auch das Element beinhalten, über Kompetenzen zu verfügen,
den eigenen Unterricht und den Unterricht von Anderen evaluieren zu
können.
Gerade in den Bereichen der ästhetischen Erziehung sind feldangemessene
empirische Untersuchungsmethoden zu entwickeln, die den Spezifika ästhetischer
Bildung gerecht werden. Qualitative empirische Forschung und Fallstudien
bieten hier adäquate Zugänge (Peez 2000). Sie pflegen den
Blick auf’s Detail, etwa indem Ausschnitte fokussiert werden. Oft
wird in der Interpretationsphase der Materialauswertung methodisch gezielt
eine gewisse Distanz oder auch Irritation gegenüber dem in Feld
erhobenen Forschungsmaterial entwickelt, um der Tendenz zu widerstehen,
auf den ersten Blick bereits alles verstanden und in "Schubladen"
eingeordnet zu haben. Durch die Verlangsamung der Deutungsprozesse und
die Schärfung der Wahrnehmung am Detail werden daraufhin neue Bedeutungszusammenhänge
sichtbar.
Der evaluierte Unterricht im Forschungskontext
Das im Folgenden dargestellte Unterrichtsprojekt im Fach "Bildende
Kunst" in zwei 6. Klassen wurde mit solchen qualitativ-empirischen
Interpretationsverfahren in seiner Wirkung auf die Schülerinnen
und Schüler hin untersucht. Verschiedene Forschungsmaterialien
wurden erhoben und mit vorwiegend phänomenologischen Analysemethoden
(Lippitz 2 1987; Rumpf 1991) interpretiert. Die Forschungsmaterialien
waren im Einzelnen:
- Fotos, die die Schülerinnen und Schüler mit der Digitalkamera
aufnahmen;
- Zeichnungen der Heranwachsenden;
- von den Kindern aufgeschriebene Geschichten zu ihren Zeichnungen;
- Transkriptionen von Interviews, die mit den Schülerinnen und
Schülern geführt wurden.
Das gesamte Material für diese Wirkungsforschung besteht also nur
aus Äußerungen der Heranwachsenden selbst. Und die hieraus
gezogenen didaktischen Schlüsse beruhen ausschließlich auf
diesen Äußerungen.
Doch zunächst sei der Unterrichtsverlauf, um den es hier geht,
umrissen: Mit einer Digitalkamera wurden von den insgesamt ca. 40 Schülerinnen
und Schülern aus zwei integrativen 6. Klassen einer Integrierten
Gesamtschule Nahaufnahmen im Außenbereich ihrer Schule gemacht,
vor allem von Flecken, u. a. auf dem Boden, an Wänden und
Bäumen (Abb.
1 a). Diese Unterrichtssequenz fand in Kleingruppen von ca.
vier bis fünf Kindern mit je einer Lehrerin bzw. eine Betreuerin
statt. In den isoliert gesehenen Formen sollten die Heranwachsenden
Fantasiegestalten frei assoziieren. In der nächsten Unterrichtsstunde
erhielten die Kinder hellgraue A4-Ausdrucke ihrer Fotos (fertig erstellt
mit dem so genannten Transparenzeffekt eines Bildbearbeitungsprogramms)
(Abb.
1 b). Auf die Ausdrucke malten und zeichneten sie diese Assoziationen
und Fantasiegestalten (Abb.
2). Zu ihren Bildern entwickelten die Schülerinnen und
Schüler Geschichten und schrieben sie auf. Die Bilder und Texte
wurden sowohl im Internet als auch in einer Ausstellung in der Schule
präsentiert. Nach Abschluss des Projekts wurden mit den Kindern
Leitfaden-Interviews geführt.
Der Unterricht fand statt im Rahmen des Bund-Länderprogrammes "Kulturelle
Bildung im Medienzeitalter" (http://www.kubim.de),
hier des Modellprojekts "MUSE COMPUTER - MUltiSEnsueller Kunstunterricht
unter Einbeziehung der COMPUTERtechnologie" (http://www.muse-computer.de).
In sechs beteiligten südhessischen Schulen werden adäquate
Räume geschaffen, in denen die digitalen Medien in Bezug auf Kunstunterricht
positioniert werden können. Den kompensatorischen Anteilen von
zukünftigem Kunstunterricht kommt innerhalb des Modellprojekts
Bedeutung zu. Die wissenschaftliche Begleitung und Evaluation des Modellprojekts
wurde vom Hessischen Kultusministerium Georg Peez und Michael Schacht
(Institut für Kunstpädagogik der J. W. Goethe-Universität,
Frankfurt a. M.) übertragen. Interessierte können sich
über den Fortgang dieser Untersuchung auf der Web-Site zur Begleitforschung
informieren: http://www.muse-forschung.de.
(Wie in der qualitativen Sozialforschung üblich, sind die Namen
aller Beteiligten maskiert bzw. anonymisiert.)
Einige Ergebnisse im Überblick
Als der Kern der kompensatorischen Wirkungen des evaluierten Kunstunterrichtsprojekts
ist die bildnerisch-produktive Auseinandersetzung mit der digital erstellten
Fotografie anzusehen, die die Schülerinnen und Schüler als
hellen Grau-Ausdruck im A4-Format in der zweiten Unterrichtsdoppelstunde
zum Übermalen bzw. Überzeichnen erhielten (Abb.
1 b). Die Kinder assoziierten nicht nur am Gegenständlichen
orientierte "Fantasiebilder", wie dies etwa die Schülerin
Heike ausdrückte, sondern sie wurden dazu aufgefordert, Geschichten
zu den Bildern zu erfinden, diese zu zeichnen und aufzuschreiben.
Die Inhalte dieser Geschichten wurden meist während des Zeichnens
und Malens entwickelt - die im Folgenden vorgestellte Schülerin
nennt dies "Fantasiemalen" (Interview J/01, Z. 103-120)
- und im Anschluss hieran verschriftlicht. (Die Quellenangaben zum erhobenen
Forschungsmaterial sind folgendermaßen zu lesen: Es handelt es
sich um ein Interview mit der Schülerin Janine im Jahre 2001. Die
zitierten Stellen finden sich in den entsprechend angegebenen Zeilen
der Transkription, die nach der Tonbandaufnahme des Interviews erstellt
wurde.) Häufig lag das Initial für die Grundzüge der
Erzählung bereits in der spontanen Assoziation beim entdeckenden
Suchen von interessanten Details mit der Digitalkamera auf dem Schulhof.
Diese Geschichten belegen die Qualität des fachdidaktischen Impulses
für kompensatorische Funktionen der ästhetischen Tätigkeit.
Und sie geben zugleich einen Einblick in die Psyche der Kinder. Denn
die Kinder verarbeiten in ihren Zeichnungen und Geschichten verschiedene
Aspekte ihrer Umwelt, die sie innerlich stark beschäftigen. Diese
sie bewegenden Aspekte kleiden die Heranwachsenden in Symbole. Sie benutzen
für diese Symbolisierungen ihnen vertraute kulturelle Muster, Elemente
aus den Massenmedien oder der kommerzialisierten Kinderkultur sowie
eigene Erlebnisse aus ihrem Alltag. Sie kombinieren diese Lebensweltaspekte
neu, so dass eine sehr persönliche Umsetzung die Folge ist. Gewalt,
Katastrophen, Ängste und Tod spielen hier genauso eine Rolle wie
polar hierzu Freundschaft, Liebe, Spiritualität und Geburt. Fast
immer entfalten die Geschichten existenzielle oder existenzbedrohende
Situationen. Ängste werden verarbeitet, sie werden in Wort und
Bild konkreter und oft innerhalb eines guten Endes der eigenen Geschichte
bewältigbar. Durch die intensive Verarbeitung dieser Themen, die
frei assoziativ von den Kindern "aus ihrem Inneren" heraus
entwickelt wurden, hat der Unterricht kathartische Wirkung: Die Heranwachsenden
kompensieren Ängste, sie gleichen ihren Bedarf nach existenziell
bedeutenden Lebenssituationen aus. Sie geben sich selbst Antworten auf
sie beschäftigende existenzielle Fragen.
Das Fallbeispiel "Janine"
Fast alle Erzählungen der interviewten Kinder sind - wie oben
bereits gesagt - von Situationen geprägt, die existenziell bedeutsam
sind. Sie haben einen stark emotional-erlebnishaften Charakter. Oftmals
werden Gegensätze wie Traurigkeit und Freude, Leben und Tod oder
Streit und Harmonie eng miteinander verbunden. Ein Wechsel von konträren
Gefühlen prägt das erzählte und bildnerisch umgesetzte
Geschehen. Viele der interpretierten Geschichten nehmen nach einem Wechsel
der Gefühle zwischen einem Geborgenheit spendenden Gemeinschaftserlebnis
und schicksalhafter Einsamkeit ein glückliches Ende. Die elfjährige
Janine wählte jedoch einen traurigen Schluss (Abb.
2):
"Janine: Soll ich vorlesen?
Interviewer: Wenn du magst, kannst du auch erzählen ...
Janine: Ja, O.K.
Interviewer: ... wie du's lieber magst.
Janine: Ja, also, ich les' vor: Der traurige Kapitän Rudi. Es war
mal ein Kapitän Rudi. Der liebte sein Schiff über alles. Seine
Crew war fantastisch. Eines Tages gingen sie auf See. Leider war von
der Crew das Radio kaputt, denn das Radio hatte einen heftigen Sturm
vorausgesagt. Also stachen sie in See. Als sie auf dem Meer waren, merkte
der Kapitän Rudi schon, dass es heute einen Sturm geben würde.
Er wusste aber nicht, wie stark das Unwetter werden würde. Unten
im Essensraum tranken alle gemeinsam ein Bier. Außer der Kapitän.
Er war oben und guckte sich die Wolken an, was sie machten. Plötzlich
stürmte der Kapitän Rudi runter zu der Crew. Er sagte, dass
ein Sturm aufzieht und sich alle darauf vorbereiten sollen. Alle rannten
in ihre Kabinen und zogen ihre Rettungswesten an. Dann gingen sie nach
oben. Das Unwetter war schon da. Sie versuchten das Schiff in die richtige
Seitenlage zu bringen. Aber es gelangte ihnen nicht. Das Schiff kenterte.
Alle waren tot, nur der Kapitän Rudi überlebte. Seitdem, seit
diesem Unglück, war er nie wieder auf See und auch immer ganz traurig."
(Interview J/01, Z. 103-120)
Liebe und Tod liegen in Janines Geschichte eng beieinander. Zerstörerisch
und todbringend wirkt sich das Szenario einer Naturkatastrophe mit "Unwetter"
und "Sturm" aus, das zwischen die harmonische Situation,
einer Gemeinschaft von Menschen, die Janine als "fantastisch"
bezeichnet, und Traurigkeit und Einsamkeit gesetzt ist. Die Existenz
dieser Gemeinschaft, der "Crew", ist an einen bestimmten,
begrenzten Raum bzw. flexiblen Ort - ein Schiff - gebunden, das die
Hauptperson "Kapitän Rudi" "über
alles" "liebte". Wird dieser Raum, der die
Gemeinschaft erst ermöglicht und sichert, zerstört, so geht
die Gemeinschaft in dieser existenzbedrohenden Situation selbst verloren.
Janine verarbeitet in ihrer Geschichte also komplexe Wechselbezüge
- nicht nur zwischen konträren Emotionslagen, sondern auch Wechselbezüge
des Verhältnisses von menschlichen Gemeinschaften und Sozialkontakten
zu deren materialer Umwelt. Die Bedeutung des Themas "Lebensraum"
für soziale Gruppen steht hier im Vordergrund.
Auffällig ist, dass Janine zweimal das Wort "Liebe" nicht
im Zusammenhang mit der "Crew", also den Menschen,
benutzt, sondern auf den "Lebensraum Schiff", der die Grundlage
der Existenz der Gemeinschaft ist, bezieht: "Der liebte sein
Schiff über alles. Seine Crew war fantastisch." (Interview
J/01, Z. 108) Und an anderer Stelle im Interview sagt sie im Zusammenhang
damit, wie die Geschichte entstand: "Dann schreib ich halt was,
dass er sein Schiff so geliebt hat und dass er auch 'ne Crew hatte und
nicht alleine segelte." (Interview J/01, Z. 130-132) Die oben
entwickelte These, dass das Thema "Lebensraum" der eigentliche
Kern ihrer Arbeit ist, wird hierdurch gestützt.
Kompensatorische Wirkungen des Unterrichts lassen sich an den Aussagen
und bildnerischen Arbeiten der Kinder - hier stellvertretend an Janines
ästhetischer Praxis - insofern ablesen, als sowohl der Unterrichtsimpuls
wie auch der Unterrichtsverlauf den Kindern Optionen bieten, Gefühlswandlungen
fiktiv "durchzuspielen". Die Intensität eines "fiktiven
Erlebnisses" misst sich in diesem Falle an den Extremen des emotionalen
Wechsels innerhalb kürzester Zeit.
Weitere Ergebnisse der Studie
Nach der Interpretation aller erhobenen Daten schälen sich fünf
verschiedene Motivstränge heraus, die die Geschichten der Kinder
prägen. Diese lauten stichwortartig:
- Naturgewalten und Katastrophen-Szenarien;
- Spirituelles, Märchen- und Sagenhaftes, Magisches und nicht Wirkliches;
- Wechsel intensiver Emotionalität innerhalb existenziell bedeutsamer
Situationen;
- Explizite biografische und autobiografische Bezüge;
- Darstellung und Verarbeitung von Aggressivität und Vulgärem.
Häufig ist es so, dass eine Geschichte nicht nur von einem Motivstrang
geprägt wird, sondern dass sich mehrere Motivstränge in ein
und derselben Erzählung finden. Janines Geschichte ist beispielsweise
primär von den Strängen "Naturgewalten und Katastrophen-Szenarien"
und "Wechsel intensiver Emotionalität innerhalb existenziell
bedeutsamer Situationen" durchzogen. Die plötzlich hereinbrechenden,
unkontrollierbaren Katastrophenszenarien - entweder ausgelöst durch
magische Wesen mit übernatürlichen Kräften (z. B.
Riesen, Hexen) oder durch Naturgewalten, wie bei Janine - zwingen die
Kinder oft dazu, sich ein Verhalten zu überlegen, wie hierauf angemessen
zu reagieren wäre. Dies gilt sowohl für die Katastrophe selbst
als auch für das Schicksal, mit dem nach der Katastrophe weiter
zu leben ist. Hiermit stellen sich die Kinder auch die Frage nach dem
Sinn solcher Ereignisse. Dass Janine nicht die Katastrophe selbst zeichnet,
sondern bildnerisch-formal sehr dominant die einsame Hauptfigur, deutet
darauf hin, dass sie sich - stellvertretend für die Hauptfigur
- gerade mit der Thematik der Sinnsuche in der Phase der Trauer beschäftigt.
Die Kinder verarbeiten Ängste und zugleich auch Faszination auslösende
Medienerfahrungen; im Falle von Janine eventuell aus Spielfilmen oder
Nachrichtensendungen. Sie verbinden diese mit fast archetypischen, die
Komplexität der Erwachsenenwelt oft reduzierenden Symbolen und
Elementen aus Märchen und Sagen sowie mit eigenen subjektiven lebensweltlichen
Erfahrungen. "Explizite biografische und autobiografische Bezüge"
prägen die Erzählungen vieler Kinder aus geschiedenen Ehen
insofern, als die Thematik des Verlassenwerdens und des Verlassenseins
viele der Geschichten dominiert. All diese Aspekte haben kompensatorische
Wirkungen auf die Kinder.
Kriterien für die zukünftige Unterrichtsplanung
In didaktischer Hinsicht gibt die Untersuchung Antworten auf die
Frage, ob sich der Einsatz digitaler Technologie mit den "traditionellen"
Zielen und Absichten der ästhetischer Erziehung überhaupt
vereinbaren lässt. Mit Blick auf die kompensatorische Funktion
ästhetischer Praxis kann dies klar bejaht werden. Einige verallgemeinerbare
fachdidaktische Merkmale und Schlussfolgerungen lassen sich über
die Art und Weise der Integration digitaler Medien in den Kunstunterricht
pragmatisch und praxisnah formulieren. Diese Kriterien können auch
als (Güte-) Kriterien für eine erfolgreiche Implementierung
des Digitalen in den bisher analog geprägten Unterricht angesehen
werden. Sie werden im hier beschriebenen Modellprojekt in einer zweiten
Phase überprüft.
• Keine Überforderung
Die Einführung digitaler Verfahren und Arbeitsweisen sollte über
die Nutzung möglichst einfacher Arrangements erfolgen. Häufig
dominiert die Technik das Denken und Handeln der Beteiligten und wird
als kompliziert erlebt. Dies gilt sowohl für viele Schülerinnen
und Schüler, erklärt aber auch die allerorts vorhandene Scheu
der Lehrenden, digitale Technologien im Unterricht zu nutzen. Ein Einstieg
sollte also nicht über komplexe Programme erfolgen. Sondern im
evaluierten Projekt stand exemplarisch ein sehr überschaubarer
Bereich im Vordergrund, ein recht kleiner Ausschnitt aus dem großen
Spektrum der Möglichkeiten. So wurde hier beispielsweise der Bereich
der digitalen Bildbearbeitung ausgespart. Die Nutzung der Digitalkamera
war geprägt von einem spielerischen, assoziativen, intrinsisch
motivierten Kennenlernen ihrer Möglichkeiten, das sich auch im
folgenden Interviewausschnitt niederschlägt: "Und ich hab'
halt so'n, äh, ähm, Kaugummi auf dem Boden gesehen. Und bei
mir war das irgendwie ganz komisch, weil, ähm, das war eher so'n
Gruppenbild. Und dann haben wir das im Computer gesehen und da hab'
ich gesagt: "Das nehm' ich gerne." Und da hab' ich halt 'n
Kapitän draus gemacht, sowas Ähnliches, wie'n Monster, und
hab' halt da so 'ne Mütze gesehen an dem und so was Ähnliches
wie 'ne große Nase und so'n Auge. Und da dran hab' ich dann halt
noch den Bauch und die Füße dran gemalt. Und dann, so ist
das halt, mein Bild entstanden. Ich hatte auch noch ganz viele andere
Dinge, z.B. 'n Baumstamm wo so'n Mann drauf gelegen hat, wo sich jemand
ausgeruht hat. Ja, so ist mein Bild eigentlich auch entstanden."
(Interview J/01, Z. 81-90)
• Keine Vorkenntnisse nötig
Viele Schülerinnen und Schüler bringen heute noch keine oder
wenige Vorkenntnisse für die Nutzung digitaler Geräte mit.
Vor allem gilt dies für Mädchen, wie die Studie deutlich zeigte.
Zwar lassen sich die bereits vorhandenen Kompetenzen und Fähigkeiten
vieler Jungen in Peer-Teaching-Modellen nutzen, doch wurde im hier dokumentierten
Unterricht eine entgegengesetzte Strategie verfolgt: Der Unterrichtsimpuls
war so "neu" und ungewöhnlich für alle, dass auch
die "Erfahrenen" sagten, diese Art des Umgangs mit der Digitalkamera
sei für sie sehr anregend und "spannend" gewesen. Zugleich
waren die "Unerfahrenen" intrinsisch hoch motiviert und berichteten
beispielsweise, dass sie gar nicht mehr aufhören konnten, zu fotografieren.
• Schulung der Wahrnehmung
Während der Nutzung der Digitalkamera erfuhren die Heranwachsenden
eine neue, experimentelle Sichtweise auf die ihnen wohl vertraute Umwelt
- hier auf den Schulhof. Es erfolgte eine ästhetische Sensibilisierung,
die von Aspekten einer unkonventionellen, tendenziell künstlerisch
orientierten Wahrnehmungsweise geprägt ist. Eine Parallele zu einem
Zitat Leonardo da Vincis (1452 - 1519) mag dies verdeutlichen: "…
wenn du in allerlei Gemäuer hineinschaust, das mit vielfachen Flecken
beschmutzt ist, oder in Gestein von verschiedener Mischung - hast du
da irgendwelche Szenerien zu erfinden, so wirst du dort Ähnlichkeiten
mit diversen Landschaften finden, die mit Bergen geschmückt sind,
Flüsse, Felsen, Bäume - Ebenen, große Täler und
Hügel in wechselvoller Art; auch wirst du dort allerlei Schlachten
sehen und lebhafte Gebärden von Figuren, sonderbare Physiognomien
und Trachten und unvermeidliche Dinge, die du auf eine willkommene und
gute Form zurückbringen kannst." (Leonardo da Vinci in Holeczek/
Mendgen 1992, S. 16) (Abb.
3a und b) Diese assoziative Wahrnehmungsweise verbindet offenbar
künstlerische und kindliche Rezeptionsmodi. So ist bei Janines
"Kapitän Rudi" eine Figur mit "sonderbarer Physiognomie
und Tracht" auszumachen. Und auch zeitgenössische Künstlerinnen
und Künstler, wie Antony Cragg, Hans-Peter Feldmann, Mike Kelley,
Ulrich Meister oder Naomi Tereza Salmon (Kämpf-Jansen 2001, S.
77, 79, 88, 92, 98), pflegen vielfach den assoziativen Blick auf’s
Detail.
• Ausgleich gegenüber pragmatischer Nutzung
Die ästhetischen Fächer bieten die Möglichkeit einer
"anderen" Sicht auf die Welt, aber auch eines "anderen"
Umgangs mit Materialien und Geräten. "Anders" bedeutet
in diesem Zusammenhang, dass nicht eine zweck- und zielorientierte Nutzung
vorherrscht, wie etwa in dem Schulfach Informatik, in welchem meist
lehrgangsartig ganz bestimmte rationale Kompetenzen antrainiert werden.
Sondern ein offenerer, assoziativer, nicht "verzweckter" Umgang
mit dem Digitalen kann ganz neue Einsichten eröffnen und Kompetenzen
fördern. Auf diese Weise erfolgt beispielsweise das Kennenlernen
eines wichtigen Merkmals der Digitalkamera (im Vergleich zu normalen
analogen, den Kindern aus ihrem Alltag bekannten Kleinbildkameras):
die extremen Nahaufnahmen bzw. Makroaufnahmen. Sie lernen, dieses Merkmal
unkonventionell einzusetzen und umzusetzen. Janine drückt diese
Lernerfahrung in der ihr eigenen Weise aus: "Ich hab’ jetzt
viel damit gelernt, was man damit machen kann. Ich dachte, man kann
nur filmen oder fotografieren und man kann halt viel mehr als fotografieren
überhaupt. Zum Beispiel Bilder malen. Das find’ ich ganz toll
eigentlich auch." (Interview J/01, Z. 303-305)
• Förderung sozialer Kompetenzen
Der evaluierte Unterricht bot zwei Optionen zur Arbeit in Gruppen: Zum
einen erkundeten die Schülerinnen und Schüler den Pausenhof
der Schule gemeinsam. Sie mussten sich eine Digitalkamera in einer Kleingruppe
von etwa vier bis fünf Personen teilen. Hier wurden Erfahrungen
in der Nutzung der Kamera geäußert, man profitierte gegenseitig
voneinander. Zusätzlich wurden teils sehr persönliche spontane
Assoziationen ausgetauscht, die eigene Wahrnehmung wurde mit den differierenden
Wahrnehmungen der anderen abgeglichen. Assoziationen wurden in Worte
gefasst und verbal und gestisch erklärt. Bei Janine wirkt sich
dieses gemeinschaftliche Entdecken als sehr prägend aus, wie sich
an ihrer Sprache ablesen lässt: "Und dann haben wir, ähm,
haben wir abwechselnd immer, also wir sind immer zusammen in der Gruppe
losgezogen. Und da sind wir immer zusammengeblieben und haben immer
zusammen auf den Boden geguckt und so. Und dann hat jemand gesagt: "Oh,
guck mal, das sieht doch klasse aus. Aber will das jemand von euch haben?",
oder so. Und dann hat man das sich halt zusammen angeguckt."
(Interview J/01, Z. 74-79) In diesem Abschnitt von Janines Erzählung
dominiert das Wort "zusammen", mit dem sie unterschiedliche
Tätigkeiten kombiniert: "zusammen losgezogen",
"immer zusammengeblieben ", "immer zusammen
auf den Boden geguckt" oder "zusammen angeguckt".
In der Phase des Zeichnens auf die Computerausdrucke stand zwar das
individuelle Zeichnen im Vordergrund. Jedoch wurde immer wieder nachgefragt,
ob die eigene Zeichnung im beabsichtigten Sinne von den anderen Mitschülerinnen
und Mitschülern verstanden wurde. Und in der folgenden Phase wurden
viele der aufzuschreibenden Erzählungen zur Zeichnung von den Tischnachbarinnen
und -nachbarn streckenweise gemeinsam entwickelt. Man gab sich Ideen,
Hinweise und Tipps.
Die Besprechung aller Arbeiten in der Klasse stand am Ende der Unterrichtseinheit
statt, einmal im Zusammenhang mit einer Ausstellung in schuleigenen
Räumen und zum zweiten, indem die Heranwachsenden ihre Bilder und
Geschichten im Internet - im schulischen Informatikraum und mit Beamerprojektion
- gemeinsam betrachteten und hierüber reflektierten.
• Reglementierender Gestaltungsimpuls
Eigentlich könnte man annehmen, klare Regeln und feste Vorgaben
würden die freie bildnerisch-ästhetische Gestaltung behindern
und eingrenzen. Doch ergab die Auswertung des Unterrichts das Ergebnis,
dass ein im künstlerischen Bereich vielfach beobachtetes Paradoxon
auftrat, wie es etwa aus den Bauhauslehren der Zwanzigerjahre des 20.
Jahrhunderts bekannt ist. Durch die Reduktion und Konzentration auf
wenige einzuhaltende Regeln erfolgte eine spezifische Anregung, die
erst die Möglichkeit für Offenheit und Freiheit zur Folge
hat. Nicht die Aufforderung "Malt was ihr wollt." führt
zu dieser Ausdrucksfreiheit, sondern ein gezielter, reglementierender
Impuls unterstützt die Ausgestaltung und Mitteilung individueller
Fantasien.
• Fantasie, Imagination und Kreativität
Die Förderung von Fantasie, Imagination und Kreativität erfolgte
in den verschiedenen Phasen des Unterrichtsprojekts durch die hohe ästhetische
und intrinsisch motivierende Anregungsqualität des fachdidaktischen
Impulses, der analoge und digitale Anteile miteinander verband. Hiervon
zeugen auch zwei weitere in diesem Zusammenhang erstellte und veröffentlichte
Fallstudien (Peez 2001a; Peez 2001b).
Literatur
Arnold, Rolf: Qualität ist viereckig - Reflexionen zum Umgang
mit Qualität in der Weiterbildung. In: PÄD Forum 1/ 1999,
S. 35-38
Benikowski, Bernd/ Gösken, Eva: Einführung in den Themenschwerpunkt
- Kunst, Beuys und das Soziale Atelier. In: PÄD Forum 2/ 1999,
S. 123
Benikowski, Bernd/ Bößer, Franz/ Schult, Simone: Leben und
Lernen im Sozialen Atelier. Die Soziale Skulptur von Beuys in der Sozialen
Arbeit und Pädagogik. In: PÄD Forum 2/ 1999, S. 124-128
Gösken, Eva: "Freude aus Verunsicherung ziehen" oder:
Alltagsgestaltung als ‚Soziale Kunst‘. In: PÄD Forum
2/ 1999, S. 129-135
Holeczek, Bernhard/ von Mendgen, Linda (Hg.): Zufall als Prinzip. Spielwelt,
Methode und System in der Kunst des 20. Jahrhunderts (Katalog zur Ausstellung
des Wilhelm-Hack-Museums in Ludwigshafen). Heidelberg 1992
Kämpf-Jansen, Helga: Ästhetische Forschung. Wege durch Alltag,
Kunst und Wissenschaft. Zu einem innovativen Konzept ästhetischer
Bildung. Köln (Salon Verlag) 2001
Lippitz, Wilfried: Phänomenologie als Methode? Zur Geschichte und
Aktualität des phänomenologischen Denkens in der Pädagogik.
In: Lippitz, Wilfried/ Meyer-Drawe, Käte (Hrsg.): Kind und Welt.
Phänomenologische Studien zur Pädagogik. Frankfurt a. M.
(Athenäum Verlag) 21987, S. 101-130
Moser, Heinz: Selbstevaluation und Schulentwicklung. In: PÄD Forum
3/ 1999, S. 206-210
Peez, Georg: Qualitative empirische Forschung in der Kunstpädagogik.
Methodologische Analysen und praxisbezogene Konzepte zu Fallstudien
über ästhetische Prozesse, biografische Aspekte und soziale
Interaktion in unterschiedlichen Bereichen der Kunstpädagogik,
Hannover (BDK-Verlag) 2000
Peez, Georg: Digitalfotografie und Kinderzeichnung. Kompensatorische
Aspekte ästhetischer Erziehung am Fallbeispiel, http://www.muse-forschung.de/texte/fred/fred.htm,
2001a
Peez, Georg: "Und hat keinen Freund, sondern ist einfach so ein
Siedler." Eine Fallstudie zu biografischen Aspekten der Kinderzeichnung
in Verbindung mit der Nutzung einer Digitalkamera, http://www.muse-forschung.de/texte/chris/chris.htm,
2001b
Rumpf, Horst: Die Fruchtbarkeit der phänomenologischen Aufmerksamkeit
für Erziehungsforschung und Erziehungspraxis (S. 313-335). In:
Herzog, Max/ Graumann, Carl F. (Hg.): Sinn und Erfahrung. Phänomenologische
Methoden in den Humanwissenschaften. Heidelberg (Roland Asanger Verlag)
1991
Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen
in einer Reihe von Briefen, http://gutenberg.aol.de/schiller/erziehng/erziehng.htm,
1793/95
Schratz, Michael: Selbstevaluation als Bemühen, Qualität zu
verstehen und zu entwickeln. In: PÄD Forum 3/ 1999, S. 219-222
Wichelhaus, Barbara: Kompensatorischer Kunstunterricht. In: Kunst+Unterricht,
191/1995, S. 35-39
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1 a: Janine (11 Jahre): Ausschnitt einer Wand; Digitalfoto
(Ausgangsbild für Abb. 2), August 2001
Abb.
1 b: Janine (11 Jahre): Ausschnitt einer Wand; Digitalfoto,
bearbeitet mit Transparenteffekt (Ausgangsbild für Abb. 2), August
2001
Abb.
2: Janine (11 Jahre): "Der traurige Kapitän Rudi",
farbige Zeichnung auf Computerausdruck, A4-Format, August 2001
Abb.
3a und b: Leonardo
da Vincis (1452 - 1519): Sonderbare Physiognomien, ohne Jahresangabe,
Royal Collection, Windsor (3a), Accademia von Venedig (3b)
Bibliografische Angaben zu diesem Text:
Peez, Georg:
"Das Unwetter war schon da..." Ästhetische Erziehung
analog und digital - mit Buntstift und Digitalkamera. Ein Fallbeispiel
aus einer 6. Klasse, Dezember 2001
Michael Schacht &
Georg Peez (http://www.muse-forschung.de)
Zuletzt geändert am
29.12.2001