Bewerten im Kunstunterricht.
Vier Methoden
Georg Peez
Ästhetisch motivierte Entscheidungen sind im Alltag
von Jugendlichen gang und gäbe. Im Bereich der visuellen Gestaltung
äußert sich dies schon morgens beim Aufstehen in der Frage,
welche Kleidung man anzieht. Die Dekorierung des eigenen Zimmers etwa
mit Postern spielt ebenso eine Rolle wie das Thema der Körpergestaltung
mit Tatoos oder Piercings. Nicht zuletzt unterliegen die fotografischen
Selbstdarstellungen in SchülerVZ, MySpace oder Facebook, mit denen
Jugendliche gerne experimentieren, ästhetischen Urteilen.
Die Stärkung der ästhetischen Urteilsbildung ist zweifellos
ein zentrales fachliches Ziel des Kunstunterrichts. Insbesondere geht
es darum, ästhetische Urteile zwischen subjektiver Empfindung und
objektivierender Wahrnehmung zu verorten. Die subjektive Empfindung meint
den emotionalen, individuellen Anteil einer Bewertung, wohingegen die
objektivierende Wahrnehmung eher die bewussten, reflexiven und vermittelbaren
Anteile markiert. Beide Aspekte fließen in ein ästhetisches
Urteil ein.
Einteilung der Bewertungsmethoden
Unsere Herausforderung lautet: In der Schule müssen komplexe ästhetische
Urteile - oft, aber nicht immer - in eine Ziffernzensur umgesetzt werden.
Hierfür gibt es im Fach Kunst unterschiedliche Traditionen und aktuelle
Methoden, die sich in drei Gruppen einteilen lassen.
1. Gruppe: Auf Spontaneindrücken bzw. Evidenzurteilen der Lehrerin/
des Lehrers beruhende Bewertungsverfahren (evident = offensichtlich, augenscheinlich)
enden meist nur mit einer Note auf der Rückseite des Zeichenblockblattes.
Der Vorteil für die Lehrkraft ist klar: Die Bewertung geht schnell.
Vom Standpunkt der Förderung und des Nutzens von Lernchancen wiegen
die Nachteile jedoch schwer: Die fehlende Transparenz erweckt den Eindruck
von Willkür, denn die Benotung ist für die Schülerinnen
und Schüler kaum nachvollziehbar. Und die konkreten Lernziele des
Unterrichts verbleiben häufig im Hintergrund.
2. Gruppe: Mittels kriterien- bzw. kategorienorientierter Bewertungsverfahren
stehen die Beurteilungskriterien deutlich im Fokus. Die Klasse weiß
von Beginn an, worauf es ankommt. Häufig werden Punkte für bestimme
Aufgabenbereiche vergeben. Oder es wird mit Zahlenskalen gearbeitet, die
leicht zu einer Ziffernnote umgerechnet werden können. Hier dominiert
die gemeinsame objektivierende Wahrnehmung vor der subjektiven Empfindung
(der Lehrerin bzw. des Lehrers).
3. Gruppe: Bewertungsverfahren im reformpädagogisch orientierten,
offenen Unterricht beruhen ebenfalls auf den den Schülerinnen und
Schülern vorab bekannten Kriterien; meist wurden die Kriterien mit
der Klasse vorab zusammen erarbeitet. Die Bewertung selbst erfolgt dann
ausführlich verbal, mit Anteilen der Selbstbewertung. Die inhaltlichen,
dialogischen Aspekte stehen hier im Mittelpunkt, nicht die sofort geäußerte
Zahl der Ziffernnote, die dann freilich meist, aber nicht immer, auch
am Ende des Bewertungsprozesses steht.
Diese Einteilung der Bewertungsmethoden ist eine idealtypische, theoretische
Trennung. Für die zweite und dritte Gruppe werden im Folgenden Beispiele
vorgestellt, in denen versucht wird, die Vorteile dieser beiden Verfahrensgruppen
miteinander zu kombinieren.
Die "Werte-Station"
Die "Werte-Station" nach Thomas Michl (in Peez 2008, S. 22ff.)
initiiert Beurteilungsgespräche zwischen Schülerin bzw. Schüler
und Lehrerin bzw. Lehrer anhand zuvor vereinbarter Kriterien. Die Kriterien
werden auf Blätter geschrieben und jeweils über eine Skala von
0 bis 100 Punkten gehängt. Es sollten der Übersicht halber nicht
mehr als fünf Kriterien sein und sie müssen sich nachvollziehbar
auf die bildnerische Aufgabenstellung beziehen. Neben den Skalen wird
ein Taschenrechner angebracht, mit dem dann der Mittelwert der erreichten
Punktzahl und anhand einer Umrechnungstabelle die Ziffernnote ermittelt
werden kann. Fertig ist die "Werte-Station" (Abb. 1). Diese
befindet sich im hinteren Teil des Klassen- oder Kunstraums. Hat eine
Schülerin bzw. ein Schüler nun eine Aufgabe beendet, trifft
sie/er sich mit der Lehrkraft vor der Werte-Station, pinnt das Arbeitergebnis
neben die Skalen und tritt dann in einen kriterienorientierten Dialog
mit der Lehrkraft ein. Der Schüler selbst setzt jeweils den Magnetstein
auf die Skala nachdem er in einem intensiven Einzelgespräch mit dem
Lehrer Merkmale der eigenen Arbeit in Bezug auf das jeweilige Kriterium
erörtert hat. Die Kriterien können Formales (z.B. "Technik,
sauberes Ausmalen") und Inhaltliches (z.B. "Eigene Einfälle,
Ideen") betreffen. Im Schüler-Lehrer-Einzelgespräch wird
die Kompetenz gefördert, sich seiner objektivierenden Wahrnehmung
bewusst zu werden und die reflexiven und vermittelbaren Anteile ästhetischer
Urteilsbildung zu schulen. Freilich kommt es auch immer wieder vor, dass
die Schüler auf Gestaltungsaspekte ihrer Arbeiten hinweisen, die
die Lehrkraft leicht übersehen hätte. Persönliche Anteile
des eigenen Werks können so zur Sprache kommen, die nicht vor der
gesamten Klasse ausposaunt werden müssen.
"Wenn man eine Bewertung mit der Werte-Station als reinen Beurteilungszeitraum
begreift, ist der Zeitaufwand viel zu hoch. Stellt man aber die Intensivierung
des Unterrichts durch den differenzierten Austausch über die eigene
Arbeit und die vertiefte Ergebnissicherung in den Vordergrund, ist der
Aufwand in jedem Fall gerechtfertigt." (Michl in Peez 2008, S. 26)
Emanzipatorische Anteile und die Selbstbewertung spielen in diesem Bewertungsverfahren,
das bevorzugt in fünften und sechsten Klassen anzuwenden ist und
das das gegenseitige Vertrauen fördert, eine wichtige Rolle.
Der Bewertungsbogen mit "Gewichtungsfaktor"
Ein zweites Verfahren, das ebenfalls die Selbstbewertung stärken
kann, ist der Bewertungsbogen, der kriterienorientiert auf alle Schülerarbeiten
im Kunstunterricht der Sekundarstufe I angewandt werden kann (Peez 2008,
S. 44ff.). Im Gegensatz zur Werte-Station berücksichtigt er nicht
nur das gestaltete Endprodukt ("1. Praktischer Teil"), etwa
in Form eines gemalten Bildes, sondern auch die Reflexion des bildnerischen
Prozesses ("2. Schriftlicher Teil"), das soziale Verhalten ("3.
Arbeitsatmosphäre") und die Vorstellung der eigenen Arbeit,
etwa vor der Klasse ("4. Präsentation"). Die Besonderheit
dieses von Sabine Nier entwickelten Bewertungsbogens ist seine Spalte
für den Gewichtungsfaktor (Spalte "GF", s. Peez 2008, S.
44ff.) Mithilfe dieser Option ist der Bewertungsbogen praktisch für
jeden Kunstunterricht einsetzbar. Sehr vorteilhaft ist, dass man deshalb
nicht für jede Aufgabe im Kunstunterricht einen neuen Bewertungsbogen
entwerfen muss! Mit dieser Absicht lassen sich auch leere Zeilen einfügen,
die dann z.B. handschriftlich ergänzt werden können. "Durch
diese Flexibilität eignet sich der Bogen durchaus auch zur Selbsteinschätzung
der Schülerinnen und Schüler und ihrer bildnerischen Prozesse,
Produkte, Reflexionen und Präsentationen – sowohl für
die Einzel- als auch für die Gruppenarbeit." (Nier in Peez 2008,
S. 44)
Die Portfolio-Methode
Eine Mappe mit eigenen Arbeiten zu erstellen, um bildnerische Prozesse
und Produkte zu dokumentieren und zu reflektieren, ist eine der wichtigsten
Bewertungsmethoden im offenen Kunstunterricht. Das Portfolio ist zwar
ein in jedem Schulfach anwendbares Verfahren; es kommt aber ursprünglich
aus der Kunst: nämlich die "Mappe" mit einer Auswahl künstlerischer
Arbeiten, etwa für eine Bewerbung oder eine Präsentation. Kennzeichen
des Portfolios ist die sehr individuelle und zugleich sachbezogene Bewertung.
Die "subjektive Relation" ist hier bestimmend, also der Bezug
zur einzelnen Schülerin bzw. zum einzelnen Schüler, die Ausrichtung
an deren/ dessen Fähigkeiten, individuellen Lernfortschritten und
durchaus auch Vorlieben. Eine Vergleichbarkeit der einzelnen Schüler-Portfolios
untereinander sollte deshalb nicht an erster Stelle stehen. Doch müssen
die Besonderheiten des "Prinzips Portfolio" den Schülerinnen
und Schülern zunächst vermittelt werden. Diese kunst-gemäße
Möglichkeit, ein individuelles Portfolio mit Bewertungs- und Selbstbewertungsanteilen
zu erstellen, lässt sich sehr effektiv und für alle einsichtig
im Stationenunterricht exemplarisch einüben (Abb. 2).
Man baut zum Beispiel ein Setting aus sieben Einzel-Stationen auf, in
dem unterschiedliche Zeichenmaterialien zu erkunden sind, um deren Charakteristika
kennen zu lernen. Etwa: Zeichenkohle, Rötelkreiden, Tusche und Federn,
Edding-Marker, Blei- bzw. Grafitstifte in unterschiedlichen Härtegraden,
Tinte und Rohrfeder sowie Pastellkreiden - mit jeweils geeigneten Papieren.
In einem zweiten Durchgang durch diese Stationen ist eine kleine "materialgerechte"
Zeichnung anzufertigen. Kurze schriftliche Hintergrundinformationen -
etwa zur Gewinnung oder Zusammensetzung des Zeichenmaterials - liegen
außerdem bereit. Im Portfolio sind dann die ersten Zeichenexperimente
sowie die späteren Zeichnungen selbst zu sammeln. Die Aufgabe lautet
konkret: "Bearbeite mindestens fünf von sieben Stationen und
wähle davon die besten drei Arbeiten zur Bewertung für deine
Mappe aus und begründe deine Auswahl einzeln für jede Arbeit."
In einem Stationenprotokoll, das jede Schülerin bzw. jeder Schüler
führt, ist aufzulisten bzw. anzukreuzen, welche Stationen der / die
Einzelne bereits durchlaufen hat. Dieses Arbeitsprotokoll ist der eigenen
Mappe beizulegen. Eine Variante der Aufforderung zur Zusammenstellung
eines Portfolios kann lauten: "Nachdem du mindestens fünf Stationen
durchlaufen hast: Suche dir jetzt drei Arbeiten heraus, die ich als Lehrer/in
bewerten soll, und dann gib sie mir im Hefter ab. Erkläre bitte kurz,
warum du diese drei Arbeiten ausgesucht hast!" (Dohnicht-Fioravanti
in Peez 2008, S. 65ff.) Falls dieser Schritt zur Selbstbewertung für
einen "Anfänger" zu unvermittelt sein sollte, können
an jeder Station Fragen und Aufforderungen zur Reflexion ausgelegt werden,
die zu beantworten sind; z.B. "Was ist das Besondere an diesem Zeichenmaterial?
Beschreibe!" - "Was ist das Besondere an dieser Zeichentechnik?
Liste Vor- und Nachteile auf!" - "Welche Motive oder Strukturen
lassen sich mit dieser Zeichentechnik gut zeichnen?" So lernen die
Jugendlichen, ihr Vorgehen und ihre Meinungen zu begründen.
"Individuelle Würdigungen in schriftlicher
Form"
Im Zentrum der vierten, von Klaus-Jürgen Fischer entwickelten Bewertungsmethode
(Fischer in Peez 2008, S. 126ff.) stehen schriftliche Rückmeldungen
der Lehrerin bzw. des Lehrers an die Schülerinnen und Schüler
auf ihre bildnerischen Arbeiten. Merkmal dieser Würdigungen ist der
Respekt vor der Schülerin bzw. dem Schüler und ihrem bzw. seinem
individuellen Ausdruck. Insbesondere verweist bereits die Bezeichnung
"Würdigungen" auf diesen respektvollen Umgang, bei dem
die positiven Aspekte herausgestellt werden, wobei zugleich Verbesserungsvorschläge
nicht vermieden werden. Doch vor allem scheint in diesen Lehrer-Kommentaren
das auf, was sonst im schulischen Unterricht leicht verloren zu gehen
droht: ein Urteil aus dezidiert künstlerischer Sicht. Jede Schülerarbeit
wird wie ein Kunstwerk empathisch und wertschätzend mit bewusst subjektiven
ästhetischen Kunstkriterien - vor allem in Bezug auf Originalität,
Mut zum Fragment oder Expressivität - abwägend beurteilt. Eine
solche Würdigung lässt sich eigentlich nicht auf eine Ziffernnote
reduzieren, sondern nur verbal vermitteln. Die allseits angewandten schulischen
Kriterien, wie Sauberkeit in der Ausführung, gute Blattausfüllung
oder Detailreichtum spielen hier kaum eine Rolle. Somit vermitteln diese
"individuellen Würdigungen" häufig gerade den Jugendlichen
ein positives Feedback, die den (Sekundär-)Tugenden wie Ordnung,
Fleiß und Disziplin wenig genügen. Zugleich wird die Schülerin
/ der Schüler auch sehr direkt persönlich angesprochen. Die
folgende beispielhafte Rückmeldung zu einer Schülerarbeit (Abb.
3 ) aus einer 9. Klasse, eine Monotypie (d.h. Einmaldruck), soll dies
veranschaulichen.
"Jiri, du bist schwungvoll bei der Sache gewesen. Mit einem breiten
Spachtel hast du zuerst die schwarze Farbe auf der Platte großzügig
waagerecht aufgetragen. Dabei hast du wohl bereits den Bereich rechts
oben ausgespart: ein helles Rechteck auf deinem Gesamtblatt. Eine helle,
dynamische Waagerechte bildet den Horizont oder die Grundlinie, auf der
du wenige Landschaftselemente mit lockerem Strich anordnest: einen Baum,
der deutlich eine Palme ist, sowie Berge oder ein Felsmassiv im Hintergrund.
Hiermit gestaltest du gekonnt Tiefe in deiner Monotypie: Im Vordergrund
unten sehen wir einen dunklen Streifen, vielleicht Wasser oder eine Wiese.
Im Mittelgrund: die helle Palme vor einem dunklen Wald. Dadurch, dass
du diese Palme auf die linke Seite des Bildes setzst, schaffst du den
großzügigen Ausblick in die helle Tiefe rechts. Vorder- und
Mittelgrund sind dunkel, der Hintergrund ist hell: Hierdurch bekommt dein
Bild zusätzlich Raum.
Ganz locker und cool bringst du rechts unter der Palme noch eine kleine,
ganz helle dynamische Fläche an. Sie erinnert mich an den Rumpf eines
Bootes, das am Strand liegt.
Auf deinem Bild ist dir zusätzlich etwas Bemerkenswertes gelungen:
Und zwar hast du die helle rechteckige Fläche oben rechts - die zwei
rechten, hellen Berge mit Himmelbereich - auf deinem Gesamtblatt ganz
von selbst so angelegt und angeordnet, dass es dem Goldenen Schnitt entspricht.
Der Goldene Schnitt ist die ideale Proportion in Kunst und Architektur,
er steht für Harmonie und Schönheit. Er teilt das Blatt waagerecht
und senkrecht jeweils in das Verhältnis von einem Drittel zu zwei
Drittel. – Du hast kühn und locker ein echtes Meisterwerk geschaffen!"
Fazit
Je nach Unterrichtssituation und Lerngruppe mag die eine Beurteilungsmethode
sinnvoll sein, eine andere weniger sinnvoll. Zudem lassen sich - wie an
den vier vorgestellten Verfahren gezeigt - häufig Elemente unterschiedlicher
Methoden auch kombinieren.
Die Entscheidung über Bewertungsmethoden - nicht nur - im Kunstunterricht
unterliegt grundsätzlich vier Gütekriterien:
1. Kontext: Die Methode sollte kontext- bzw. situationsangemessen sein,
z.B. hinsichtlich der Aufgabenstellung oder der Besonderheiten der jeweiligen
Lerngruppe.
2. Transparenz: Die Entscheidungsfindung sollte für die Schülerinnen
und Schüler stets verständlich und durchsichtig sein. Dies beinhaltet
auch die Debatte, wie und warum ästhetische Normen gesellschaftlich,
intersubjektiv und subjektiv entstehen.
3. Motivation: Die Ermutigung ist dem pädagogischen Ethos geschuldet.
Demotivation und Kränkung sind keine adäquaten Erziehungsmittel
der Schule.
4. Pluralität: Gemäß dem hier Geschriebenen sollte man
nicht immer nur eine Bewertungsmethode anwenden, sondern verschiedene
Verfahren einsetzen.
Selbstverständlich sollten die Schülerinnen und Schüler
die Möglichkeit haben, ihre Meinung zu angewandten Bewertungsmethoden
zu äußern.
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