Schmieren, Wischen, Zoomen - Fingerbewegungen von Kleinkindern und Smartphone-Nutzern

Georg Peez

Das Schmieren von Kleinkindern mit Essensresten und die Bedienung eines berührungssensitiven Bildschirms weisen Gemeinsamkeiten auf. Welche sind dies und warum? Haben Sie schon einmal kleine Kinder dabei beobachtet, wie sie auf Smartphones oder Tablet-Computern mit ihren Fingern direkt auftippen, wischen und Programme, sogenannte Apps, starten?

Stolze Eltern stellen Videos ihrer Sprößlinge ins Internet, auf denen man den routinierten Umgang der Anderthalb- bis Dreijährigen betrachten kann (z.B. Suche mit Stichwort "iPad Baby"). Doch unabhängig von der Problematik, ob es pädagogisch sinnvoll ist, Kinder so früh an den Computer zu lassen, soll hier der Frage nachgegangen werden, wie sich dieses Phänomen erklären lässt, also warum kleine Kinder, offensichtlich intuitiv, schnell und routiniert Smartphones oder Tablet-Computer bedienen können.

Mobile Computer im Alltag
Nicht in der Kita, aber zuhause sind solche Situationen durchaus alltäglich zu beobachten: Kleinkinder kommen im wahrsten Sinne des Wortes mit Tablet-Computern, Smartphones, also elektronischen mobilen Geräten, die durch die direkte Eingabe mit dem Finger gesteuert werden, in Berührung. "Neugierig interessieren sich die Kinder dafür, was ihre Eltern quasi überall machen: auf Smartphones schauen und diese bedienen." Nicht in jedem, aber doch in immer mehr Haushalten gehören diese Kleincomputer zum Alltag. Neugierig interessieren sich die Kinder dafür, was ihre Eltern quasi überall machen: auf Smartphones schauen und diese bedienen. Sie wollen es selber ausprobieren. Und die Eltern lassen sie häufig gewähren. Zudem gibt es inzwischen eine unüberschaubare Anzahl an speziellen Programmen, die für die direkte Nutzung der Kleinkinder auf den mobilen elektronischen Geräten gemacht sind: Spiele, Lernprogramme, Bilderbücher oder Mal- und Zeichenprogramme, um nur die wichtigsten zu nennen.

Touchscreens wecken unsere frühesten Erfahrungen
Die hier vertretene Annahme lautet, dass die Bedienung des Touchscreens an früheste Erfahrungen anknüpft. Die sensomotorische Unmittelbarkeit der Handhabung macht den großen Erfolg dieser Eingabeform plausibel. Sich Wissensaspekte über das Tippen mit dem Zeigefinger zu erschließen, diese aber auch durch seitliches Wegwischen wieder zu verwerfen oder durch das Zoomen mittels Pinzettengriff näher zu betrachten, schließt an die frühesten Erfahrungen von Selbstwirksamkeit und die elementarsten Formen der Koppelung des Gehirns mit dem motorischen System an. Wie ist diese These zu begründen?

Abb. 1 u. 2

Wie Kinder zeichnen
Seit etwa zehn Jahren beobachte ich in Form von Einzelfallstudien Kleinkinder im Alter zwischen ca. 8 und 13 Monaten in folgender Situation: Vor das an einem Tisch sitzende Kind wird ein bisschen Karottenbrei auf die Tischplatte gekleckst. Die Erkundungen dieses Breiflecks durch das Kind werden foto- oder videografisch aufgezeichnet. Denn in der bis dahin publizierten Literatur zur Kinderzeichnung wurde das ästhetisch-bildnerische Verhalten von Kindern erst ab dem ersten Kritzeln systematisch erforscht, also mit ca. anderthalb Jahren, wenn sie einen Stift oder eine Wachsmalkreide mit der Faust greifen und hiermit auf einem Blatt Papier Spuren erzeugen können.
Doch zweifellos ist das Schmieren von Kleinkindern mit den Fingern - sei es mit Spucke an einer Fensterscheibe oder mit Brei, Suppe, Marmelade sowie mit anderen Essensresten oder Materialien auf einer Tischplatte - ein sehr verbreitetes Phänomen. Solche Schmieraktivitäten lassen sich laut dem Kunst- und Heilpädagogen Hans-Günther Richter etwa um den 8./9. Lebensmonat erstmals beobachten (Richter 5 1997, S. 79). In seinem Standardwerk zur Entwicklung der Kinderzeichnung resümiert Richter: "Von den frühesten Ausdruckshandlungen des Kindes, welche in den sichtbaren Objektivationen der sog. Schmierspuren enden, wissen wir kaum etwas. Zwar kann jeder, der Kinder im ersten Lebensjahr beobachten konnte, über (unwillkürliche und zunehmend koordinierte) Bewegungen berichten, die in und mit einem Material wie Brei und anderen pastösen Substanzen vollzogen werden, aber sowohl der Ablauf dieser 'Schmierhandlungen' wie die objektivierten Resultate sind bisher nicht hinreichend dokumentiert." (ebd., S. 371)
Diese Forschungslücke ist zumindest in Teilen inzwischen geschlossen, weil eine Studie zum Schmieren mit Bezug zum frühen Kritzeln im Jahre 2008 vorgelegt wurde (Stritzker/Peez/Kirchner 2008). Diese Studie enthält Fallbeispiele sowie eine Längsschnittstudie eines Kindes über mehrere Monate hinweg, aus denen sich eine Systematik des Schmierens von Kleinkindern ableiten lässt.

Strukturmerkmale des kleinkindlichen Schmierens
Auf die alltägliche Situation, mit einem Klecks Brei auf der Tischplatte konfrontiert zu werden, reagieren Kleinkinder im Alter von 8 bis 13 Monaten ähnlich:
1. Die Eingangsphase ist von der meist vorsichtigen Kontaktaufnahme bestimmt: Das Kind berührt das Schmiermaterial zunächst mit dem Zeigefinger und taucht diesen daraufhin in den Klecks ein. An der Fingerkuppe befinden sich viele sensible Rezeptoren, die u.a. taktile und thermische Reize, welche das Material auslöst, aufnehmen. Es findet eine langsame, oft bedächtige Erkundung mit dem Zeigefinger statt.
2. Verbleibt der Zeigefinger im Breiklecks, so wird das Kind ihn in Richtung seines Körpers ziehen, wodurch eine kurze gerade, lineare Bewegungsspur entsteht. Das Kind sieht die Veränderung, die es durch seine Bewegung erzeugt: eine erste Spur auf sich selbst bezogen.
3. Nachfolgend werden oft Hin- und Her-Bewegungen dominant. Diese leicht schwingenden Bewegungen können zunächst auf engem Raum nur mit dem Zeigefinger oder wenigen Fingern erfolgen; hierbei erfassen die Finger das Schmiermaterial und verteilen es seitlich wischend. Gewinnt das Kind feinmotorisch Sicherheit, Interesse und Gefallen an diesem Bewegungsmuster, so wird es hierfür mehrere Finger, bis hin zur Hand mit der Handinnenfläche benutzen und das Schmiermaterial weiter nach rechts und links verteilen.
4. Die orale Erkundung geschieht mit Hilfe des sogenannten Pinzettengriffs, also indem Zeigefinger und Daumen aufeinander zubewegt werden bis sie sich berühren. Auf diese Weise wird etwas Brei mit beiden Fingern aufgenommen und zum Mund geführt. Manche Kinder wenden den Pinzettengriff sofort an, wenn sie den Brei unmittelbar als Nahrungsmittel erkennen.

Analogien zwischen Schmier- und Kritzelbewegungen
Das 2008 ermittelte Ergebnis lautete, dass die Schmierbewegungen und die erst einige Monate später auftretenden Kritzelbewegungen sehr ähnlich sind, da sie auf der gleichen Sensomotorik von Finger, Hand und Arm beruhen: Hin-und-her-Wischen, Auf-und-ab-Schlagen. Für die kognitive Verarbeitung ist die Erkenntnis des Kindes entscheidend, dass es mit einer bestimmten Bewegungsabfolge auch bestimmte Spuren hinterlassen kann. Je älter das Kind wird, desto differenzierter, absichtlicher und kontrollierter werden die Bewegungen und erzeugten Spuren (Stritzker/Peez/Kirchner 2008). Inzwischen – insbesondere seit der Einführung des iPhones im Jahre 2007 mit seinem Multi-Touchscreen – erscheinen diese Forschungsergebnisse in einem neuen Licht.

Bewegungsmuster auf den Multi-Touchscreen
Ein Multi-Touchscreen ist ein berührungssensitiver Bildschirm, der nicht nur auf einen, sondern auf die Berührung mehrerer Finger reagiert.
Die vier Strukturmerkmale des kleinkindlichen Schmierens korrespondieren auffällig mit den Grundbewegungen zur Smartphone- oder Tablet-Bedienung:
1. Das Antippen eines Icons oder eines Links mit der Kuppe des Zeigefingers löst eine Aktion aus: Daraufhin öffnet sich beispielsweise die gewünschte App. Viele weitere Funktionen sind mit dieser Bewegung verknüpft. Auch die Zeitdauer, wie lange man mit der Fingerspitze eine bestimmte Stelle berührt, kann entscheidend für die Reaktion der Software sein.
2. Wer auf dem Smartphone seine SMS, E-Mails oder längere Listen durchsucht, wendet die lineare Bewegung mit dem Finger nach unten an. Freilich findet sich dieses Bewegungsmuster auf dem Bildschirm auch in entgegengesetzter Richtung: also vom Körper weg: nach oben.
3. Das seitliche, schwingende Hin-und-Her-Wischen mit dem Zeigefinger bzw. weiteren Fingern korrespondiert mit vielen Bedienungsfunktionen des Touchscreens. Durch solche leichte Wischbewegungen lassen sich Aspekte erschließen oder häufig auch löschen ("Wisch und weg"). Beim in den USA patentierten "Slide to unlock" auf dem iPhone wird durch das Wischen mit dem Finger über den Start-Bildschirm das Gerät aus dem Stand-by-Modus aktiviert.
4. Der Pinzettengriff bildet die Grundlage für das Zoomen, er ermöglicht das Vergrößern und Verkleinern von Bildern und Texten: Je nachdem, ob man Zeigefinger und Daumen auf dem Touchscreen voneinander wegbewegt oder aufeinander zubewegt, kann man beispielsweise einen Text oder ein Bild im Detail oder in der Übersicht betrachten.
Die Bedienung des Multi-Touchscreens knüpft offensichtlich an frühe motorisch-kognitiven Vorgänge an; ein Grund dafür weshalb die Computer-Bedienung mittels berührungssensitiver Bildschirme weitgehend intuitiv und weltweit sehr erfolgreich ist.

Verbindung zwischen Hirn und Hand
Der Münchner Neurologe und Kinderarzt Florian Heinen, der seit den 1990er Jahren das motorische System im Gehirn und dessen Kapazitäten untersucht, erläutert, dass die Nutzung des Touchscreens auf der Sensomotorik des Zeigefingers basiert und auf das reale Erfühlen und Begreifen zurückgeht. Mithilfe der neuronalen Verbindung vom Gehirn bis in die Kuppe des Zeigefingers und in Kombination mit der Bewegung des Zeigefingers erfährt der menschliche Körper seine "früheste feste Verdrahtung, die Myelinisierung" (Heinen 2013), d.h. der Ausstattung von Nervenfasern mit Myelin bzw. Marksubstanz, einer Isolationsschicht, die die "feste Verdrahtung" sichert.
Auf diese Weise etabliert jeder Mensch schon als Säugling und Kleinkind die direkteste Verbindung zwischen Hirn und Hand. Die hier vorgestellte These einer Verbindung zwischen dem beschriebenen Schmierverhalten von Kleinkindern mit unterschiedlichen Fingerbewegungen wurde neurologisch bisher allerdings noch nicht untersucht.

Blick in die Zukunft
Wurde dies alles von Computerherstellern so absichtlich bedacht und geplant? Haben sich die Elektroniker und Screen-Designer in Silicon Valley die Bewegungsmuster von Kleinkindern abgeschaut? Meinen Recherchen nach ist dies nicht der Fall. Die Korrespondenzen und Parallelen sind somit zwar nicht zufällig, aber auch nicht absichtlich.
Doch könnten diese Erkenntnisse in Zukunft durchaus stärker dafür genutzt werden, dass die Entwickler von berührungssensitiven Bildschirmen genauer das kleinkindliche Verhalten studieren, um noch weitere Bewegungsmuster hieraus zu ermitteln. Die Besonderheit solcher Bewegungsmuster ist, dass diese weitgehend kulturneutral sind, weil die kulturellen Einflüsse auf das Verhalten der Kleinkinder noch gering sind.

Fazit
Für die Frühpädagogik sollte dies freilich nicht heißen, dass die Computer mit berührungssensitiven Bildschirmen nun in die Kita ungebremst Einzug halten können, und zwar mit der Begründung, dass die Bedienung sowieso der Intuition der Kinder entspräche. Umgekehrt wäre es meiner Ansicht nach überzeugender: Kinder sollten schon im frühen Alter viele unterschiedliche sinnlich-ästhetisch anregende Materialien und hierauf bezogene Handlungsimpulse geboten bekommen. Über die gesamte Kitazeit hinweg können Kinder so sensomotorische Übungen mit den Fingern durchführen. Frühpädagogische Angebote leisten hier ganz offensichtlich unverzichtbare Grundlagen, die die Erfahrungen in Hinblick auf Selbstwirksamkeit ein Leben lang prägen können.

Literatur
Heinen, Florian (2013): Der Zeigefinger. Schlüssel einer neuen Kultur. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 111, 15. Mai 2013, N1.
Richter, Hans-Günther (5 1997): Die Kinderzeichnung. Entwicklung - Interpretation - Ästhetik. Berlin.
Stritzker, Uschi/Peez, Georg/Kirchner, Constanze (2008): Schmieren und erste Kritzel - Der Beginn der Kinderzeichnung. Norderstedt.


Bibliografische Angaben zu diesem Text:

Peez, Georg: Schmieren, Wischen, Zoomen. Fingerbewegungen von Kleinkindern und Smartphone-Nutzern. In: KiTa aktuell MO, 9 / 2014; S. 198-200


Georg Peez (http://www.georgpeez.de) Zuletzt geändert am 23.02.2015