Zur Bedeutung ästhetischer Erfahrung für Produktion und Rezeption in gegenwärtigen Konzepten der Kunstpädagogik

Georg Peez

Der Kunst- wie auch der Musikunterricht sind gegenwärtig einem starken Legitimationsdruck ausgesetzt. Obwohl in Sonntagsreden hoch gelobt, findet auf der Stundentafel der Schule ein harter Verdrängungswettbewerb statt, den in der Regel die "Hauptfächer" zu ihren Gunsten entscheiden. Die Logik in der Zeit nach Veröffentlichung der ersten PISA-Studie (2001) lautet: Gerade die Fächer, die besonders schlecht abschnitten, bekommen noch mehr Stunden zugewiesen.
Kulturelle und ästhetische Bildung stellen sich neu auf, versuchen ihre Konzepte zu überdenken und auch die Fachdidaktiken schauen über den Zaun, was in anderen Bereichen diskutiert wird. Neben vorhandenen fundamentalen Unterschieden zwischen beiden Fächern, teilen Musik- und Kunstunterricht zweifellos stellenweise ähnliche Ziele. Der Bezug auf die ästhetische Erfahrung eint die Fächer der ästhetischen Bildung. In der Kunstpädagogik gibt es grundsätzlich zwei Bereiche, in denen ästhetische Erfahrungen gemacht werden können: Dies ist einerseits die Rezeption von Kunstwerken oder von visuellen Alltagsphänomenen und andererseits die Produktion von bildnerischen Objekten, hier beispielsweise das Malen von Bildern, das Fotografieren oder das Konstruieren eines Architekturmodells. Der Begriff des "Erfindens" spielt in der Kunstdidaktik keine Rolle. Eine Differenzierung im Produktionsbereich zwischen Erfinden, Nachahmen oder Interpretieren ist kaum Thema. Dies würde auch im Bereich der bildenden Kunst äußerst schwer fallen, wo seit dem Ready-Made Marcel Duchamps (1887-1968) und spätestens seit der Popart (Andy Warhol: "All is beautiful!") jeder massenindustriell hergestellt Alltagsgegenstand ohne bildnerische Veränderung bzw. kaum eine Veränderung Kunst sein kann. Also gibt es nur die Unterscheidung: Betrachte ich ein ästhetisches Objekt (Rezeption) oder stelle ich selber ein solches her (Produktion)? (Anm. 1)

Abb. 1 Fotografie eines Jungen (Alter: 15 Jahren; 4 Monate).

Strukturmerkmale ästhetischer Erfahrung
Im Bereich der bildnerischen Produktion wird zunächst anhand einer Fotografie eines 15-jährigen Jungen (Abb. 1) erläutert, was aus Sicht der Kunstpädagogik die Strukturmerkmale von ästhetischer Erfahrung sind. Diese Strukturmerkmale ästhetischer Erfahrung beruhen auf Ausführungen unterschiedlicher Autorinnen und Autoren (u. a. Dewey 1934; Duncker 1999; Mattenklott 2004; Seel 2004) und lassen sich chronologisch ordnen (Peez 2 2005, S. 19), von der ersten Aufmerksamkeit, die der 15-Jährige erlebte, bis hin zu seiner bildnerischen Handlung, dem Fotografien. Im Sinne der Kunstdidaktik ließe sich hier zweifellos von "Erfinden" sprechen, auch wenn ein Motiv "lediglich" "gefunden" und "festgehalten" wurde.
• Aufmerksamkeit für Ereignisse und Szenen, die Gefallen und Interesse wecken und hierdurch unmittelbares Spüren der Wahrnehmung bedingen: Der Jugendliche entdeckt in seinem Alltag, während der Fahrt mit der S-Bahn, auf der Fensterscheibe und bei entsprechendem Lichteinfall den Abdruck eines Gesichts. Unmittelbarkeit in der Wahrnehmung stellt sich u. a. durch die Nähe dieses "Gesichts" ein. Im Hintergrund sind eine Regenrinne und ein Hausdach mit Schneefanggitter zu erkennen.
• Offenheit und Neugier: Für seine Aufmerksamkeit benötigt der Jugendliche eine gewisse Aufgeschlossenheit für Ungewohntes und Interesse am Durchbrechen seiner Wahrnehmungsgewohnheiten.
• Versunkensein und emotionales Involviertsein im Augenblick: Beim eher abschweifenden Blick aus dem Fenster könnte das Motiv seine Aufmerksamkeit geweckt haben. Eine emotionale Bezugnahme lässt sich daran ablesen, dass der 15-Jährige dieses Motiv als fotografierenswert empfindet. Es hat ihn irritiert, angesprochen und auch wohl innerlich bewegt.
• Genuss der Wahrnehmung selbst mit hiermit verbundenem Lustempfinden: Ob der jugendliche Fotograf beim Entdecken des Motivs und Fotografieren Freude verspürte, kann aufgrund des Fotos nicht eindeutig gesagt werden; es ist jedoch hiervon auszugehen, ähnlich wie vom emotionalen Involviertsein. (Ein Interview mit dem Jungen könnte Gewissheit bringen.)
• Spannung und Überraschung, die Staunen vor dem wahrgenommenen Phänomen auslösen können: Eine Überraschung vor dem Motiv kann als durchaus gegeben unterstellt werden, denn nicht alltäglich begegnet einem ein solch klarer Gesichtsabdruck auf einer Fensterscheibe. Eine gewisse Spannung wird sich im Moment des Fotografierens ergeben haben: Fährt die S-Bahn wieder an bzw. schneller, geht auch der dunkle Hintergrund verloren und das Motiv ist nicht mehr sichtbar.
• Erleben von Subjektivität und Individualität im Wahrnehmungsprozess: Jede Wahrnehmung ist subjektiv, jeder Betrachter empfindet etwas anderes, wenn er dieses Motiv sieht, verarbeitet seine aktuellen Wahrnehmungen mit seinen früheren Erfahrungen. Manche mögen angesichts der "Lebendigkeit" und Unmittelbarkeit dieses Gesichtsabdrucks leicht erschrecken.
• Anregung der Fantasie durch Entdeckung von neuen Assoziationen zu scheinbar Bekanntem und Gewohntem: Durch die aktuellen Wahrnehmungen wird die je individuelle Fantasie angeregt: Der eine mag in dem Gesichtabdruck eine afrikanisch anmutende Maske sehen. Der andere glaubt Ähnlichkeiten mit Röntgenbildern zu erkennen. Wieder ein anderer Betrachter assoziiert eine Totenmaske oder gar eine spirituelle Erscheinung.
• Reflexion über die eigene Wahrnehmung und deren Prozesshaftigkeit mit hierdurch bedingter nötiger Distanz zum eigenen Wahrnehmungserleben: Teil jeder ästhetischen Erfahrung ist die Reflexivität. Ich setze mich der Wahrnehmungssituation zwar mit meiner Subjektivität unmittelbar aus. Aber in einem etwas späteren Stadium gewinne ich Abstand von diesem Augenblick und überlege, wie es zur Unmittelbarkeit kam. Der Jugendliche mag im Nachhinein überlegt haben, warum sich das Gesicht auf der Fensterscheibe abzeichnet. Ist hier jemand eingeschlafen? Wurde die Person mit Gewalt an die S-Bahn-Scheibe gedrückt? Warum erscheinen die Lippen auf diese Art und Weise deutlich, ja heller abgesetzt? Handelt es sich um den Abdruck einer Frau, die Lippenstift trug? Welche Lichtvoraussetzungen sind nötig, dass das Bild überhaupt erscheint?
• Voraussetzung für die Reflexion ist Wissen und Einsicht, die sich aus früherer Wahrnehmung und Erfahrung ergibt: Assoziationen und Reflexivität können sich nur auf der Grundlage bewusster, bereits verarbeiteter, bisheriger Wahrnehmungserlebnisse bilden.
• In-Beziehung-Setzen der eigenen ästhetischen Erfahrung mit kulturellen und künstlerischen Produkten: Dieser Aspekt wurde bereits bei den möglichen vielfältigen Assoziationen angesprochen und kann in dem Sinne weiterverfolgt werden, dass das Abbild auf der Scheibe und die Fotografie als Technik des Festhaltens von Seh- und Lichteindrücken dienen.
• Festhalten der ästhetischen Erfahrung in ästhetischer Produktion: Zweifellos geschieht dies dadurch, dass der 15-Jährige ein Foto macht.
• Mitteilen dessen, was die ästhetische Aufmerksamkeit zwingend erregte (kommunikativer Aspekt): Das Foto hat Mitteilungsfunktion, der Fotograf zeigt es u. a. seinen Freunden. (Anm. 2)
In manchen ästhetischen Theorien wird Kindern und Jugendlichen das Vermögen abgesprochen, ästhetische Erfahrungen machen zu können, da sie hierfür noch nicht kulturell reif genug seien. Doch der Philosoph Martin Seel stellt die folgende Verbindung her: "Ästhetische Erlebnisse jedoch haben wesentlich Bezug auf unser Lebensgefühl, unser körperliches Selbstgefühl und sind zutiefst mit Erfahrungen verwandt, bei denen wir das Prädikat ästhetisch kaum gebrauchen werden: mit der Erfahrung der Kinder, deren Merkwelt einerseits beschränkter ist, andererseits jedoch mit größerer Intensität erlebt wird, da bei ihnen die Wahrnehmungsfähigkeit noch nicht durch Gewohnheit und Routine eingeschränkt oder vernutzt ist." (Seel nach Mattenklott 2004, S. 18) Und die Erziehungswissenschaftlerin Gundel Mattenklott zieht hieraus den Schluss: "Kindern und Jugendlichen wird nicht nur die grundsätzliche Möglichkeit ästhetischer Erfahrung zugestanden - ihr Lebensalter würde sie sogar in besonderem Maße für solche Erfahrungen empfänglich machen." (Mattenklott 2004, S. 19)
Für die Kunstpädagogik gilt demnach als weitgehender Konsens die Zielperspektive: "Im Kunstunterricht geht es um mehr als Kunst, es geht um die ästhetischen Erfahrungsprozesse der Kinder und Jugendlichen - in ihrem Wahrnehmen, Handeln und Denken. Ihnen diese Prozesse zu eröffnen, sie darin zu begleiten und selbstständig werden zu lassen, ist Praxis und Konzept des Kunstunterrichts." (Kirchner/ Otto 1998, S. 1) Denn der Kern ästhetischer Bildung sind ästhetische Erfahrungen. Ästhetische Erfahrungen lassen sich sowohl rezeptiv als auch produktiv machen, d. h. sowohl in der Wahrnehmung ästhetischer Objekte und Phänomene als auch im eigenen Gestalten, sei es bildnerisch, musikalisch, dichterisch oder darstellerisch. Ästhetische Bildung ist ohne authentische ästhetische Erfahrungen nicht denkbar und möglich. Im Folgenden werden drei aktuelle einflussreiche kunstdidaktische Konzepte knapp konturiert.

Abb. 2 u. 3 Überreste des World Trade Centers, New York nach dem Anschlag am 11. September 2001

Bild-Orientierung / "Visuelle Kompetenz"
Wir alle kennen die Fotos der Überreste des World Trade Centers in New York aus den Tagen nach dem 11. September 2001 (Abb. 2 u. 3). Bildexpertentum in der Kunstpädagogik bedeutet, den historischen und aktuellen Bildern in Kunst und Medien nachzuspüren, ästhetische Erfahrungen (s. o.) hieran zu machen, Ähnlichkeiten und Differenzen zu reflektierten. Es lassen sich überraschende Analogien finden zwischen diesen Fotos und dem Gemälde "Eismeer" (1823/24) von Caspar David Friedrich (Abb. 4). Dieses Gemälde heißt im Untertitel "Gescheiterte Hoffnung": Man sieht, wie sich Eisschollen schräg auftürmen, die auf der rechten Seite ein Schiff unter sich begraben. Die Trümmer des WTC begruben auch die Hoffnung nach einer friedlicheren Welt, nachdem der Ost-West-Konflikt nur wenige Jahre zuvor überwunden war. Die Fotos vom Einsturz der Eissporthalle in Bad Reichenhall im Januar 2006 können wir mit diesen Bildern ebenfalls assoziieren (Abb. 5).

Abb. 4 Caspar David Friedrich (1774-1840): Eismeer. Die gescheiterte Hoffnung, 1821, Öl auf Leinwand, Hamburg Kunsthalle Abb. 5 Überreste der eingestürzten Eissporthalle von Bad Reichenhall Anfang Januar 2006

Und auch die zeitgenössische Kunst greift solche Motive auf, z. B. in einer groß angelegten Installation von Hans Haacke. Der Künstler gestaltete 1993 den Deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig. Das Werk gilt als einer der besten deutschen Biennale-Beiträge, und es wurde mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Haacke machte den im Stil national-sozialistischer Architektur erbauten deutschen Pavillon zum Thema an sich (Abb. 6). Das Großfoto im Eingang zeigte Adolf Hitler bei dessen Biennale-Besuch 1934 mit Benito Mussolini (Abb. 7 u. 8). Was geschah, wenn man in den Raum hinein ging, schildert ein zeitgenössischer Bericht: "Haacke hat den Fußboden aufhacken lassen und das Wort ‚Germania‘ (den Schriftzug wie außen am Pavillon) auf die gewölbte Rückwand des leeren Raumes gesetzt. Durch umhergehende Besucher geraten die berstenden Bodenplatten, Eisschollen gleich, geräuschvoll in Bewegung." (Nemeczek 1993, S. 56) Verbindungen zum Friedrich-Bild tun sich auf. Drei Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands, wenige Wochen nach dem Brandanschlag von Solingen als Höhepunkt einer Welle fremdenfeindlicher, rassistischer Anschläge auf Menschen ausländischer Herkunft in Deutschland warnte Haacke mit bildnerisch komplexen Mitteln. Doch kann man dieses Werk nur in seinen Dimensionen erfahren, wenn man die Bilder lesen und Bildbezüge herstellen kann.
Weltaneignung und Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen werden zweifellos von ihrem Bildgebrauch maßgeblich geprägt. Hierdurch ergibt sich ein ständig wachsender Bedarf an "Bildkompetenz". "‚Visuelle Kompetenz‘ meint eher die rezeptive, d. h. die erlebnishafte, analysierende und deutende Auseinandersetzung mit visuellen Gestaltungen unter Einbeziehung der räumlichen und haptischen Erfahrung, während der Begriff 'Bildkompetenz' auch den produktiv-gestalterischen Aspekt einbezieht." (Bering u. a. 2004, S. 9) Insofern müssten Erfahrungs- und Lernprozesse mit Bildern als unverzichtbare Elemente allgemeiner Bildung inzwischen eigentlich zu den Basisqualifikationen neben Lesen, Schreiben und Rechnen gezählt werden.

Abb. 6 u. 7 Hans Haacke (* 1936): Deutscher Pavillon auf der Biennale in Venedig 1993

Argumente "Pro Bild-Orientierung":
• Begründung des Schulfaches "Kunst" durch Anschluss an die Kompetenz-Diskussion (Bildlese-Kompetenz);
• Bedeutung des "Bildes" als Grundlage für "Bildung";
• Orientierung an den visuellen Medien-Welten der Jugend.
Argumente "Contra Bild-Orientierung":
• Gefahr der Marginalisierung von Kunst;
• Zu starke Betonung des rationalen "Verstehens" und "Erklärens";
• Verlust künstlerischer Authentizität des Faches.

Abb. 8 Hans Haacke (* 1936): Deutscher Pavillon auf der Biennale in Venedig 1993

Kunst-Orientierung / "Künstlerische Bildung"
Bei einer so starken Betonung des Bildes besteht die Gefahr, dass das zentrale Gegenstandsfeld des Kunstunterrichts, die Kunst, nur noch eine Nebenrolle spielt. Denn Kunst wird unter den Bildbegriff subsumiert. Hingegen sollte es nach dem Ansatz der "Künstlerischen Bildung" im Kunstunterricht darum gehen, Vermittlungs- und Handlungsprozesse ‚kunstanalog‘ zu initiieren. Mit der "Begründung der Kunstdidaktik aus der Kunst heraus" wird es Ziel, "künstlerische Formen des Denkens in kunstdidaktischen Prozessen auszubilden, die künstlerische Handlungsweisen praktizieren" (Buschkühle 2003, S. 19). Bereits an diesem kurzen Zitat wird deutlich, welch zentrale Rolle die Kunst in dieser Argumentation spielt. Durch die Öffnung und Erweiterung des Kunstbegriffs verschließt sich die "Künstlerische Bildung" zugleich nicht den pluralen Gegenstandsbereichen des Faches Kunst. Denn unter dem erweiterten Kunstbegriff nach Joseph Beuys (1921-1986) kann man sich auf praktisch "alles" beziehen. Kunstpädagogik, auch als Schulfach, solle deshalb nicht vom Bild, den bildgenerierenden Medien her gedacht werden, sondern "Künstlerische Bildung" meint die Etablierung von künstlerischen Denk- und Handlungsweisen im Bildungsgeschehen (Buschkühle 2003, S. 25).

Abb. 10 u. 11 aus: Zaake, Gerd-Peter: Atemluft in Darmblähungen. Gestalterische Versuche mit Rinderdärmen. In: Kunst+Unterricht, Heft 295, 2005, S. 36-39

Beispielhaft für diese Kunstorientierung ist die folgende Unterrichtseinheit "Atemluft in Darmblähungen. Gestalterische Versuche mit Rinderdärmen" von Gerd-Peter Zaake. Als Material hierfür benötigt man:
"- ein etwa 6 Meter langes Stück Rinderdarm - beim Schlachter für ca. 1 Euro pro 10 Meter billig und leicht zu erwerben,
- ein Mundstück, z. B. das leere Oberteil eines Billigkugelschreibers,
- zwei ca. 15 cm lange Bindfäden." (Zaake 2005, S. 36) (Abb. 10)
Die Aufgabe an die Schüler lautet: "Für den Blähversuch sollte die weiche Masse zusammengeschoben sein. Dann wird durch das Mundstück Atem eingeblasen. So dringt Luft in die Rinderdärme. Diese wachsen, sich blähend und bewegend, plastisch zu spiralförmigen Darmverschlingungen. Langsamkeit und Stille sind für die ersten 15 Minuten absolute Bedingung." (Zaake 2005, S. 36) (Abb. 11) Zur Reflexion des Erlebten - auch als Abschluss der ästhetischen Erfahrung (s. o.) - bekommen die Schülerinnen und Schüler (Klasse 7 oder 11) folgende schriftlich zu beantwortende Aufgabe: "Stell dir vor, du bist erwachsen. Du bist mit deinem privaten Leben und deinem Beruf zufrieden. Eines Tages kommst du nach Haus, da steht vor deiner Eingangstür ein Eimer mit Rinderdärmen. Wut und Ekel überkommen dich, doch dann kommt dir auf einmal der Gedanke, diese ekligen Dinger irgendwie für deinen Beruf zu nutzen. Du fasst sie an, pustest vielleicht hinein. In deinem Kopf entstehen Vorstellungen, die du gleich notierst und skizzierst, damit du sie nicht vergisst.
Wähle einen Beruf und notiere erste Ideen: Schlachter, Künstler, Fotograf, Naturwissenschaftler, Filmemacher." (Zaake 2005, S. 38) Auch für die Kunstrezeption hält Gerd-Peter Zaake solche Übungen für bedeutsam, da es sich um einen "sinnlichen Übungsweg" "als Hinführung zum Werk" handelt. Denn "in Verbindung mit sinnlichen Erfahrungen und gedanklichen Zusammenhängen aus der hier skizzierten Wahrnehmungsübung, ließen sich z. B. Kunstwerke ganz anders im Kunstunterricht aufschließen, als wenn die Lehrkraft ein Werk mehr oder weniger begründet serviert." (Zaake 2005, S. 37)
Durch Irritationen werden so bewusst Verfremdung ausgelöst und ästhetische Erfahrungen - nach der Diktion der "Künstlerischen Bildung": künstlerische Erfahrungen (Buschkühle 2003, S. 35f.) - angestoßen. Die Kunstdidaktik initiiert kunst-ähnliche Prozesse und ermöglicht auf diesem Wege neue Kunst- und Alltagserfahrungen mit dem hohen Ziel der ‚Lebenskunst‘.
Argumente "Pro Kunst-Orientierung":
• Besinnung des Faches "Kunst" auf seinen Kern;
• Thematisierung aller Lebensbereiche durch avantgardistische, zeitgenössische Kunst;
• Verfremdungen in der Kunst machen Welt neu ästhetisch erfahrbar.
Argumente "Contra Kunst-Orientierung":
• Zu starke Betonung irrationalistischer Kunsterfahrung;
• Überschätzung der Möglichkeiten des Nebenfaches "Kunst";
• zu wenige Verbindungen zwischen zeitgenössischer Kunst und der Lebenswelt von Heranwachsenden.

Subjekt-Orientierung / "Ästhetische Forschung"
In einem dritten Konzept - meist mit "Ästhetische Forschung" (Kämpf-Jansen 2001) oder "Biografieorientierung" (Kunst+Unterricht Hefte 280 u. 281 2004) benannt - steht die Schülerin bzw. der Schüler im Fokus. Der Schüler und seine ästhetisch forschenden Interessen sind hier der Ausgangspunkt. Es werden sehr offene Aufgaben gestellt bzw. Themenschwerpunkte festgelegt, die innerhalb eines werkstatt-ähnlichen Settings bearbeitet werden. Ästhetische und kulturelle Selbstbildungsprozesse können jedoch kunstpädagogisch angeregt und gefördert werden. Weil sich ästhetische Bildung durch das Merkmal des Erkundens einer selbst gewählten Thematik auszeichnet, liegt der Begriff der "Ästhetischen Forschung" nahe. Alles Material und jede Thematik kann genutzt werden, wenn sie für die einzelne Schülerin / den einzelnen Schüler bedeutsam sind.

Abb. 12 u. 13 aus: Nitsch, Alessandra: Ein "realistischer" Blick auf den Alltag. In: Kunst+Unterricht, Heft 258, 2001, S. 42-44

Ein Unterrichtsbeispiel: Schülerinnen und Schüler eines Grundkurses der Klassenstufe 11 erhielten den "Auftrag", ihren Alltag ästhetisch zu erforschen und sich dabei zu fragen, was Alltag für sie bedeutet. Sie sollten ermitteln, wie und warum in der Kunst Alltag thematisiert wird (Nitsch 2001, S. 42ff.). Der Unterricht gliederte sich in vier Schritte: (1.) "Im ersten Teil geht es um die Annäherung an das Phänomen Alltag. Die Schüler wurden aufgefordert, sich stumm für die Dauer einer Doppelstunde dem Alltag in der Schule und ihrer Umgebung auszusetzen und dabei neue Wahrnehmungen, Assoziation und Gedanken zu diesem Phänomen festzuhalten. (...) Alle hielten ihre Gedanken schriftlich fest, stichwortartig, in ganzen Sätzen und Texten oder in Form von Gedichten, und tauschten diese anschließend aus." (Nitsch 2001, S. 42) (2.) Erarbeitung des Phänomens Alltag anhand von Texten (z. B. "Über das Neue" von Boris Groys, "Spurensicherung" von Günter Metken) und Beispielen aus der Kunst. (3.) Eigenes praktisches Arbeiten der Schülerinnen und Schüler in Form individueller "Forschungsprojekte"; dies schloss ein: Verhaltens- und Praxisformen der Spurensicherung: Sammeln, Ordnen, Arrangieren, Basteln, Fotografieren, Zeichnen, Schreiben usw. (4.) Präsentation der Ergebnisse in der Schule mit "kleinen Führungen".
Die Kunstlehrerin Alessandra Nitsch stellte das Beispiel der ästhetisch forschenden Auseinandersetzung der Schülerin Svenja vor: "Svenja setzte sich mit der Problematik der latenten oder expliziten Ritualisierung unseres Alltags am Beispiel des alltäglichen Frühstücks mit ihren Eltern auseinander." (Nitsch 2001, S. 43) Sie fotografierte sich und ihre Eltern beim morgendlichen Frühstück und versah alle ihre Fotos mit genauer Uhrzeit (Abb. 12 u. 13). Die Lehrerin resümiert: Svenjas "Wahrnehmung wurde intensiviert, ihr Nachdenken wurde angestoßen, ihr Alltagsverhalten einer Reflexion unterzogen, ihr Interesse an existenziellen Fragen geweckt. Durch ihren Bilderatlas hat sie ihr Frühstücksritual aus einem herkömmlichen Kontext gelöst und durch die veränderte und bewusste Wahrnehmung bei sich und anderen sowohl persönliche als auch kollektive Erinnerungen ausgelöst und zum Nachdenken über individuelle und allgemeine Fragen des Alltags angeregt." "Ziel des Projekts - wie überhaupt jeder Form ästhetischer Forschung - ist es gewesen, durch intensives Arbeiten Erfahrungen zu sammeln, um alte Wahrnehmungsgewohnheiten in Frage zu stellen und neue auszuprobieren." (Nitsch 2001, S. 43)
Argumente "Pro Subjekt-Orientierung":
• Pädagogik muss immer vom einzelnen Menschen und dessen Individualität ausgehen.
• Die Biografie ist Grundlage jeder ästhetischen Erfahrung und jedes ästhetischen Verhaltens.
• Öffnung von Schule.
Argumente "Contra Subjekt-Orientierung":
• Zentrierung auf die persönliche, subjektbezogene Perspektive;
• Ausblenden des Fremden und Unbekannten;
• Gefahr der vorwiegenden Bearbeitung von Lieblingsthemen und Hobbys.

Fazit
Ästhetische Erfahrungen sind - wie aufgezeigt wurde - Erfahrungen der Diskontinuität. Und sie sind mithilfe aller drei kunstdidaktischen Richtungen zu sammeln, der Bild-Orientierung, der Kunst-Orientierung und der Subjekt-Orientierung. Unter allen drei Konzepten wird interessanter, spannender Unterricht gemacht. Aus Sicht der Praxis garantiert keines der Konzepte quasi per se kunstdidaktisch hochwertigen Unterricht. Dies ist durchaus auch als ein Plädoyer für Pluralität zu verstehen. Wenn aber mit allen Konzepten guter Kunstunterricht gemacht werden kann, dann wäre ja eigentlich egal, auf welches Konzept man sich beruft? - Egal ist es meines Erachtens jedoch nicht, denn die Legitimation nach außen gibt die Melodie vor, mit der die Kunstpädagogik, mit der das Schulfach Kunst wahrgenommen wird. Was stelle ich bei der Begründung meines Kunstunterrichts - etwa auch im Schul-Curriculum - in den Mittelpunkt?
Kurz: Orientiere ich meine Unterrichts-Ziele an dem Bild und damit der visuellen Kompetenz aus? Verstehe ich meinen Unterricht als kunstanalogen Prozess und stelle die Kunst ins Zentrum? Oder beginne ich meine didaktischen Überlegungen bei der einzelnen Schülerin / dem einzelnen Schüler und deren / dessen Biografie?

Anmerkungen
(1) Lediglich der Kunstdidaktiker Axel von Criegern differenziert den Produktionsbereich im Kontext der Kunstrezeption in drei Gruppen: Rekonstruktion (Ich ahme ein Kunstwerk nach, zeichne es beispielsweise ab.), Dekonstruktion (Ich gliedere das Kunstwerk in Teile, zerschneide beispielsweise eine Reproduktion und fertige aus diesen Teilen eine Collage an.) und Konstruktion (Ich lasse mich von einem Kunstwerk nur anregen, gestalte dann aber eigenständig ohne bestimmte Bezüge zu diesem Werk.) (Criegern 1999). Von Criegern wollte durch diese Systematik der kunstwissenschaftlich orientierten Kunstrezeption künstlerisch orientierte Rezeptionsweisen entgegensetzen. Zugleich zeigt dieses Beispiel, wie eng sich Produktion und Rezeption überlappen können.
(2) Qualitative empirische Forschung in der Ästhetischen Bildung/ Kunstpädagogik widmet sich u. a. der empirischen Rekonstruktion ästhetischer Erfahrung innerhalb und außerhalb von Kunstunterricht, z. B.: Mollenhauer 1996, S. 29ff.; Kirchner 1999, S. 244ff.; Peez 2005, S. 19ff.; Reuter 2007, S. 225ff.; Peez 2007.

Literatur
Buschkühle, Carl-Peter (Hg.): Perspektiven künstlerischer Bildung. Köln (Salon Verlag) 2003
Criegern, Axel von: Konzepte künstlerischer Auseinandersetzung. In: Kunst+Unterricht, Heft 233, 1999, S. 40-43
Dewey, John: Kunst als Erfahrung, 1934. Frankfurt a.M. 1980
Duncker, Ludwig: Begriff und Struktur ästhetischer Erfahrung. In: Neuß, Norbert (Hg.): Ästhetik der Kinder. Frankfurt a. M. (GEP Verlag) 1999, S. 9-19
Kämpf-Jansen, Helga: Ästhetische Forschung. Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft. Köln (Salon Verlag) 2001
Kirchner, Constanze: Kinder und Kunst der Gegenwart. Zur Erfahrung mit zeitgenössischer Kunst in der Grundschule. Seelze (Kallmeyer) 1999
Kirchner, Constanze/ Otto, Gunter: Editorial. Praxis und Konzept des Kunstunterrichts. In: Kunst+Unterricht, Heft 223/ 224, 1998, S. 1, 1-11
Mattenklott, Gundel: Ästhetische Erfahrungen in Kindheitserinnerungen. In: Mattenklott, Gundel/ Rora, Constanze (Hg.): Ästhetische Erfahrung in der Kindheit. Weinheim (Juventa) 2004, S. 113-132
Mollenhauer, Klaus: Grundfragen ästhetischer Bildung. Theoretische und empirische Befunde zur ästhetischen Erfahrung von Kindern. Weinheim (Juventa) 1996
Nemeczek, Alfred: Neue Kunst auf brüchigem Grund. In: art Das Kunstmagazin, Nr. 8, 1993, S. 48-57
Nitsch, Alessandra: Ein "realistischer" Blick auf den Alltag. In: Kunst+Unterricht, Heft 258, 2001, S. 42-44
Peez, Georg: Einführung in die Kunstpädagogik. Stuttgart (Kohlhammer Verlag) 2 2005
Peez, Georg: Evaluation ästhetischer Erfahrungs- und Bildungsprozesse. Beispiele zu ihrer empirischen Erforschung. München (kopaed) 2005
Peez, Georg (Hg.): Handbuch Fallforschung in der Ästhetischen Bildung / Kunstpädagogik. Qualitative Empirie für Studium, Praktikum, Referendariat und Unterricht. Baltmannsweiler (Schneider Verlag) 2007
Reuter, Oliver M.: Experimentieren. Ästhetisches Verhalten von Grundschulkindern. München (kopaed) 2007
Seel, Martin: Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung - Fünf Thesen. In: Mattenklott, Gert (Hg.): Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Hamburg 2004, S. 73-81
Zaake, Gerd-Peter: Atemluft in Darmblähungen. Gestalterische Versuche mit Rinderdärmen. In: Kunst+Unterricht, Heft 295, 2005, S. 36-39


Bibliografische Angaben zu diesem Text:
Peez, Georg: Zur Bedeutung ästhetischer Erfahrung für Produktion und Rezeption in gegenwärtigen Konzepten der Kunstpädagogik. In: Greuel, Thomas/ Heß, Frauke (Hg.): Musik erfinden. Beiträge zur Unterrichtsforschung. Aachen (Shaker Verlag) 2008, S. 7-26

Georg Peez (http://www.georgpeez.de) Zuletzt geändert am 06.01.2009