mit Buntstift und Digitalkamera. Ein Fallbeispiel aus einer 6. Klasse
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Georg Peez
Einführung in die Thematik
Ästhetische Praxis ist von Anteilen geprägt, denen zugesprochen wird, kompensatorisch zu wirken (Wichelhaus 1995; Benikowski/ Gösken 1999; Benikowski/ Bößer/ Schult 1999; Gösken 1999). Ein Bild zu malen, eine Konstruktion aus Holz aufzubauen, mit einem Instrument zu musizieren, Geschichten zu fabulieren und diese aufzuschreiben, sich rhythmisch zu bewegen sind Tätigkeiten, die ausgleichend wirken können auf soziale, kulturelle oder gesellschaftliche Entwicklungen. Geht man beispielsweise davon aus, dass Heranwachsende heute in ihrem Alltag nicht genügend sinnliche, materialbezogene Erfahrungen machen, dann kann dieser Erfahrungsarmut pädagogisch entgegengewirkt werden. Die Kinder und Jugendlichen erhalten etwa im schulischen Kunstunterricht, auf der Kinderfreizeit oder in der Jugendkunstschule Möglichkeiten, solche direkten senuellen Erfahrungen mit unterschiedlichen Materialien nachzuholen: Sie sägen splitterndes Holz. Sie formen glitschigen Ton. Sie hämmern auf harten Stein. Auch die gezielte Förderung sozialer Kompetenzen in der Schule findet häufig unter kompensatorischen Prämissen statt.Demnach ist eine wichtige Legitimation für pädagogische Maßnahmen, dass Defizite ausgeglichen werden sollen, die aus dem Alltag der Heranwachsenden herrühren; sonst – so die Annahme – ist eine angemessene Entwicklung des Individuums heute nicht möglich. Freilich muss zugleich eine Abgrenzung zu therapeutischen – hier im engeren Sinne zu kunst-, musik- oder tanztherapeutischen Maßnahmen – gezogen werden. Therapie will heilend wirken, sie geht nicht nur von Defiziten, sondern von Störungen, großem Leidensdruck oder Krankheiten aus. Zudem findet Therapie stets in kleinen Gruppen oder gar Einzelsitzungen statt. Unterricht in der Schule schließt dies bereits wegen Klassenstärken von meist über 30 Schülerinnen und Schülern aus.
Eine Aufgabe ästhetischer Erziehung ist somit, die kompensatorischen Anteile, die in ästhetischer Praxis bereits enthalten sind, pädagogisch gezielt einzusetzen und zu nutzen. Ein solches Anliegen lässt sich zweifellos bildungstheoretisch rechtfertigen; etwa in Rückgriff auf Friedrich Schillers immer wieder neu ausgelegten und interpretierten, nun auch im Internet in vollem Umfang und kostenlos verfügbaren Klassikertext „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“ (http://gutenberg.aol.de/schiller/erziehng/erziehng.htm) von 1793/95. Aber im Folgenden geht es darum, ganz konkret eine Kunstunterrichtseinheit, die kompensatorisch wirken soll, u. a. anhand eines Fallbeispiels daraufhin empirisch zu untersuchen, ob sie wirklich kompensatorisch wirkt und welche kulturellen, sozialen und gesellschaftlichen Defizite hier ausgeglichen werden.
Empirische Forschungen in Bereichen Ästhetischer Erziehung
Unter dem Blickwinkel einer gestiegenen Sensibilisierung der Öffentlichkeit und der Politik hinsichtlich der Qualitätsaspekte von Schule (PISA-Studie) und außerschulischen Lernfeldern (Arnold 1999), offeriert Wirkungsforschung pragmatische Wege, das zu „belegen“, was zuvor an Absichten statuiert wurde (Moser 1999; Schratz 1999). Dafür bieten sich insbesondere Verfahren der qualitativ-empirischen Wirkungsforschung an, im Gegensatz zu rein statistischen Evaluationen. Hier liegen Ziele nicht nur für das Studium der Fächer im Bereich der ästhetischen Erziehung und für die zweite Ausbildungsphase, das Referendaritat. Sondern pädagogische Professionalität wird zukünftig grundsätzlich auch das Element beinhalten, über Kompetenzen zu verfügen, den eigenen Unterricht und den Unterricht von Anderen evaluieren zu können.Gerade in den Bereichen der ästhetischen Erziehung sind feldangemessene empirische Untersuchungsmethoden zu entwickeln, die den Spezifika ästhetischer Bildung gerecht werden. Qualitative empirische Forschung und Fallstudien bieten hier adäquate Zugänge (Peez 2000). Sie pflegen den Blick auf’s Detail, etwa indem Ausschnitte fokussiert werden. Oft wird in der Interpretationsphase der Materialauswertung methodisch gezielt eine gewisse Distanz oder auch Irritation gegenüber dem in Feld erhobenen Forschungsmaterial entwickelt, um der Tendenz zu widerstehen, auf den ersten Blick bereits alles verstanden und in „Schubladen“ eingeordnet zu haben. Durch die Verlangsamung der Deutungsprozesse und die Schärfung der Wahrnehmung am Detail werden daraufhin neue Bedeutungszusammenhänge sichtbar.
Der evaluierte Unterricht im Forschungskontext
Das im Folgenden dargestellte Unterrichtsprojekt im Fach „Bildende Kunst“ in zwei 6. Klassen wurde mit solchen qualitativ-empirischen Interpretationsverfahren in seiner Wirkung auf die Schülerinnen und Schüler hin untersucht. Verschiedene Forschungsmaterialien wurden erhoben und mit vorwiegend phänomenologischen Analysemethoden (Lippitz 2 1987; Rumpf 1991) interpretiert. Die Forschungsmaterialien waren im Einzelnen:
– Fotos, die die Schülerinnen und Schüler mit der Digitalkamera aufnahmen;
– Zeichnungen der Heranwachsenden;
– von den Kindern aufgeschriebene Geschichten zu ihren Zeichnungen;
– Transkriptionen von Interviews, die mit den Schülerinnen und Schülern geführt wurden.
Das gesamte Material für diese Wirkungsforschung besteht also nur aus Äußerungen der Heranwachsenden selbst. Und die hieraus gezogenen didaktischen Schlüsse beruhen ausschließlich auf diesen Äußerungen.
Doch zunächst sei der Unterrichtsverlauf, um den es hier geht, umrissen: Mit einer Digitalkamera wurden von den insgesamt ca. 40 Schülerinnen und Schülern aus zwei integrativen 6. Klassen einer Integrierten Gesamtschule Nahaufnahmen im Außenbereich ihrer Schule gemacht, vor allem von Flecken, u. a. auf dem Boden, an Wänden und Bäumen (Abb. 1 a). Diese Unterrichtssequenz fand in Kleingruppen von ca. vier bis fünf Kindern mit je einer Lehrerin bzw. eine Betreuerin statt. In den isoliert gesehenen Formen sollten die Heranwachsenden Fantasiegestalten frei assoziieren. In der nächsten Unterrichtsstunde erhielten die Kinder hellgraue A4-Ausdrucke ihrer Fotos (fertig erstellt mit dem so genannten Transparenzeffekt eines Bildbearbeitungsprogramms) (Abb. 1 b). Auf die Ausdrucke malten und zeichneten sie diese Assoziationen und Fantasiegestalten (Abb. 2). Zu ihren Bildern entwickelten die Schülerinnen und Schüler Geschichten und schrieben sie auf. Die Bilder und Texte wurden sowohl im Internet als auch in einer Ausstellung in der Schule präsentiert. Nach Abschluss des Projekts wurden mit den Kindern Leitfaden-Interviews geführt.
Der Unterricht fand statt im Rahmen des Bund-Länderprogrammes „Kulturelle Bildung im Medienzeitalter“ (http://www.kubim.de), hier des Modellprojekts „MUSE COMPUTER – MUltiSEnsueller Kunstunterricht unter Einbeziehung der COMPUTERtechnologie“ (http://www.muse-computer.de). In sechs beteiligten südhessischen Schulen werden adäquate Räume geschaffen, in denen die digitalen Medien in Bezug auf Kunstunterricht positioniert werden können. Den kompensatorischen Anteilen von zukünftigem Kunstunterricht kommt innerhalb des Modellprojekts Bedeutung zu. Die wissenschaftliche Begleitung und Evaluation des Modellprojekts wurde vom Hessischen Kultusministerium Georg Peez und Michael Schacht (Institut für Kunstpädagogik der J. W. Goethe-Universität, Frankfurt a. M.) übertragen. Interessierte können sich über den Fortgang dieser Untersuchung auf der Web-Site zur Begleitforschung informieren: http://www.muse-forschung.de. (Wie in der qualitativen Sozialforschung üblich, sind die Namen aller Beteiligten maskiert bzw. anonymisiert.)
Einige Ergebnisse im Überblick
Als der Kern der kompensatorischen Wirkungen des evaluierten Kunstunterrichtsprojekts ist die bildnerisch-produktive Auseinandersetzung mit der digital erstellten Fotografie anzusehen, die die Schülerinnen und Schüler als hellen Grau-Ausdruck im A4-Format in der zweiten Unterrichtsdoppelstunde zum Übermalen bzw. Überzeichnen erhielten (Abb. 1 b). Die Kinder assoziierten nicht nur am Gegenständlichen orientierte „Fantasiebilder“, wie dies etwa die Schülerin Heike ausdrückte, sondern sie wurden dazu aufgefordert, Geschichten zu den Bildern zu erfinden, diese zu zeichnen und aufzuschreiben.Die Inhalte dieser Geschichten wurden meist während des Zeichnens und Malens entwickelt – die im Folgenden vorgestellte Schülerin nennt dies „Fantasiemalen“ (Interview J/01, Z. 103-120) – und im Anschluss hieran verschriftlicht. (Die Quellenangaben zum erhobenen Forschungsmaterial sind folgendermaßen zu lesen: Es handelt es sich um ein Interview mit der Schülerin Janine im Jahre 2001. Die zitierten Stellen finden sich in den entsprechend angegebenen Zeilen der Transkription, die nach der Tonbandaufnahme des Interviews erstellt wurde.) Häufig lag das Initial für die Grundzüge der Erzählung bereits in der spontanen Assoziation beim entdeckenden Suchen von interessanten Details mit der Digitalkamera auf dem Schulhof. Diese Geschichten belegen die Qualität des fachdidaktischen Impulses für kompensatorische Funktionen der ästhetischen Tätigkeit. Und sie geben zugleich einen Einblick in die Psyche der Kinder. Denn die Kinder verarbeiten in ihren Zeichnungen und Geschichten verschiedene Aspekte ihrer Umwelt, die sie innerlich stark beschäftigen. Diese sie bewegenden Aspekte kleiden die Heranwachsenden in Symbole. Sie benutzen für diese Symbolisierungen ihnen vertraute kulturelle Muster, Elemente aus den Massenmedien oder der kommerzialisierten Kinderkultur sowie eigene Erlebnisse aus ihrem Alltag. Sie kombinieren diese Lebensweltaspekte neu, so dass eine sehr persönliche Umsetzung die Folge ist. Gewalt, Katastrophen, Ängste und Tod spielen hier genauso eine Rolle wie polar hierzu Freundschaft, Liebe, Spiritualität und Geburt. Fast immer entfalten die Geschichten existenzielle oder existenzbedrohende Situationen. Ängste werden verarbeitet, sie werden in Wort und Bild konkreter und oft innerhalb eines guten Endes der eigenen Geschichte bewältigbar. Durch die intensive Verarbeitung dieser Themen, die frei assoziativ von den Kindern „aus ihrem Inneren“ heraus entwickelt wurden, hat der Unterricht kathartische Wirkung: Die Heranwachsenden kompensieren Ängste, sie gleichen ihren Bedarf nach existenziell bedeutenden Lebenssituationen aus. Sie geben sich selbst Antworten auf sie beschäftigende existenzielle Fragen.
Das Fallbeispiel „Janine“
Fast alle Erzählungen der interviewten Kinder sind – wie oben bereits gesagt – von Situationen geprägt, die existenziell bedeutsam sind. Sie haben einen stark emotional-erlebnishaften Charakter. Oftmals werden Gegensätze wie Traurigkeit und Freude, Leben und Tod oder Streit und Harmonie eng miteinander verbunden. Ein Wechsel von konträren Gefühlen prägt das erzählte und bildnerisch umgesetzte Geschehen. Viele der interpretierten Geschichten nehmen nach einem Wechsel der Gefühle zwischen einem Geborgenheit spendenden Gemeinschaftserlebnis und schicksalhafter Einsamkeit ein glückliches Ende. Die elfjährige Janine wählte jedoch einen traurigen Schluss (Abb. 2):„Janine: Soll ich vorlesen?
Interviewer: Wenn du magst, kannst du auch erzählen …
Janine: Ja, O.K.
Interviewer: … wie du’s lieber magst.
Janine: Ja, also, ich les‘ vor: Der traurige Kapitän Rudi. Es war mal ein Kapitän Rudi. Der liebte sein Schiff über alles. Seine Crew war fantastisch. Eines Tages gingen sie auf See. Leider war von der Crew das Radio kaputt, denn das Radio hatte einen heftigen Sturm vorausgesagt. Also stachen sie in See. Als sie auf dem Meer waren, merkte der Kapitän Rudi schon, dass es heute einen Sturm geben würde. Er wusste aber nicht, wie stark das Unwetter werden würde. Unten im Essensraum tranken alle gemeinsam ein Bier. Außer der Kapitän. Er war oben und guckte sich die Wolken an, was sie machten. Plötzlich stürmte der Kapitän Rudi runter zu der Crew. Er sagte, dass ein Sturm aufzieht und sich alle darauf vorbereiten sollen. Alle rannten in ihre Kabinen und zogen ihre Rettungswesten an. Dann gingen sie nach oben. Das Unwetter war schon da. Sie versuchten das Schiff in die richtige Seitenlage zu bringen. Aber es gelangte ihnen nicht. Das Schiff kenterte. Alle waren tot, nur der Kapitän Rudi überlebte. Seitdem, seit diesem Unglück, war er nie wieder auf See und auch immer ganz traurig.“ (Interview J/01, Z. 103-120)
Liebe und Tod liegen in Janines Geschichte eng beieinander. Zerstörerisch und todbringend wirkt sich das Szenario einer Naturkatastrophe mit „Unwetter“ und „Sturm“ aus, das zwischen die harmonische Situation, einer Gemeinschaft von Menschen, die Janine als „fantastisch“ bezeichnet, und Traurigkeit und Einsamkeit gesetzt ist. Die Existenz dieser Gemeinschaft, der „Crew„, ist an einen bestimmten, begrenzten Raum bzw. flexiblen Ort – ein Schiff – gebunden, das die Hauptperson „Kapitän Rudi“ „über alles“ „liebte„. Wird dieser Raum, der die Gemeinschaft erst ermöglicht und sichert, zerstört, so geht die Gemeinschaft in dieser existenzbedrohenden Situation selbst verloren. Janine verarbeitet in ihrer Geschichte also komplexe Wechselbezüge – nicht nur zwischen konträren Emotionslagen, sondern auch Wechselbezüge des Verhältnisses von menschlichen Gemeinschaften und Sozialkontakten zu deren materialer Umwelt. Die Bedeutung des Themas „Lebensraum“ für soziale Gruppen steht hier im Vordergrund.
Auffällig ist, dass Janine zweimal das Wort „Liebe“ nicht im Zusammenhang mit der „Crew„, also den Menschen, benutzt, sondern auf den „Lebensraum Schiff“, der die Grundlage der Existenz der Gemeinschaft ist, bezieht: „Der liebte sein Schiff über alles. Seine Crew war fantastisch.“ (Interview J/01, Z. 108) Und an anderer Stelle im Interview sagt sie im Zusammenhang damit, wie die Geschichte entstand: „Dann schreib ich halt was, dass er sein Schiff so geliebt hat und dass er auch ’ne Crew hatte und nicht alleine segelte.“ (Interview J/01, Z. 130-132) Die oben entwickelte These, dass das Thema „Lebensraum“ der eigentliche Kern ihrer Arbeit ist, wird hierdurch gestützt.
Kompensatorische Wirkungen des Unterrichts lassen sich an den Aussagen und bildnerischen Arbeiten der Kinder – hier stellvertretend an Janines ästhetischer Praxis – insofern ablesen, als sowohl der Unterrichtsimpuls wie auch der Unterrichtsverlauf den Kindern Optionen bieten, Gefühlswandlungen fiktiv „durchzuspielen“. Die Intensität eines „fiktiven Erlebnisses“ misst sich in diesem Falle an den Extremen des emotionalen Wechsels innerhalb kürzester Zeit.
Weitere Ergebnisse der Studie
Nach der Interpretation aller erhobenen Daten schälen sich fünf verschiedene Motivstränge heraus, die die Geschichten der Kinder prägen. Diese lauten stichwortartig:– Naturgewalten und Katastrophen-Szenarien;
– Spirituelles, Märchen- und Sagenhaftes, Magisches und nicht Wirkliches;
– Wechsel intensiver Emotionalität innerhalb existenziell bedeutsamer Situationen;
– Explizite biografische und autobiografische Bezüge;
– Darstellung und Verarbeitung von Aggressivität und Vulgärem.
Häufig ist es so, dass eine Geschichte nicht nur von einem Motivstrang geprägt wird, sondern dass sich mehrere Motivstränge in ein und derselben Erzählung finden. Janines Geschichte ist beispielsweise primär von den Strängen „Naturgewalten und Katastrophen-Szenarien“ und „Wechsel intensiver Emotionalität innerhalb existenziell bedeutsamer Situationen“ durchzogen. Die plötzlich hereinbrechenden, unkontrollierbaren Katastrophenszenarien – entweder ausgelöst durch magische Wesen mit übernatürlichen Kräften (z. B. Riesen, Hexen) oder durch Naturgewalten, wie bei Janine – zwingen die Kinder oft dazu, sich ein Verhalten zu überlegen, wie hierauf angemessen zu reagieren wäre. Dies gilt sowohl für die Katastrophe selbst als auch für das Schicksal, mit dem nach der Katastrophe weiter zu leben ist. Hiermit stellen sich die Kinder auch die Frage nach dem Sinn solcher Ereignisse. Dass Janine nicht die Katastrophe selbst zeichnet, sondern bildnerisch-formal sehr dominant die einsame Hauptfigur, deutet darauf hin, dass sie sich – stellvertretend für die Hauptfigur – gerade mit der Thematik der Sinnsuche in der Phase der Trauer beschäftigt. Die Kinder verarbeiten Ängste und zugleich auch Faszination auslösende Medienerfahrungen; im Falle von Janine eventuell aus Spielfilmen oder Nachrichtensendungen. Sie verbinden diese mit fast archetypischen, die Komplexität der Erwachsenenwelt oft reduzierenden Symbolen und Elementen aus Märchen und Sagen sowie mit eigenen subjektiven lebensweltlichen Erfahrungen. „Explizite biografische und autobiografische Bezüge“ prägen die Erzählungen vieler Kinder aus geschiedenen Ehen insofern, als die Thematik des Verlassenwerdens und des Verlassenseins viele der Geschichten dominiert. All diese Aspekte haben kompensatorische Wirkungen auf die Kinder.
Kriterien für die zukünftige Unterrichtsplanung
In didaktischer Hinsicht gibt die Untersuchung Antworten auf die Frage, ob sich der Einsatz digitaler Technologie mit den „traditionellen“ Zielen und Absichten der ästhetischer Erziehung überhaupt vereinbaren lässt. Mit Blick auf die kompensatorische Funktion ästhetischer Praxis kann dies klar bejaht werden. Einige verallgemeinerbare fachdidaktische Merkmale und Schlussfolgerungen lassen sich über die Art und Weise der Integration digitaler Medien in den Kunstunterricht pragmatisch und praxisnah formulieren. Diese Kriterien können auch als (Güte-) Kriterien für eine erfolgreiche Implementierung des Digitalen in den bisher analog geprägten Unterricht angesehen werden. Sie werden im hier beschriebenen Modellprojekt in einer zweiten Phase überprüft. • Keine ÜberforderungDie Einführung digitaler Verfahren und Arbeitsweisen sollte über die Nutzung möglichst einfacher Arrangements erfolgen. Häufig dominiert die Technik das Denken und Handeln der Beteiligten und wird als kompliziert erlebt. Dies gilt sowohl für viele Schülerinnen und Schüler, erklärt aber auch die allerorts vorhandene Scheu der Lehrenden, digitale Technologien im Unterricht zu nutzen. Ein Einstieg sollte also nicht über komplexe Programme erfolgen. Sondern im evaluierten Projekt stand exemplarisch ein sehr überschaubarer Bereich im Vordergrund, ein recht kleiner Ausschnitt aus dem großen Spektrum der Möglichkeiten. So wurde hier beispielsweise der Bereich der digitalen Bildbearbeitung ausgespart. Die Nutzung der Digitalkamera war geprägt von einem spielerischen, assoziativen, intrinsisch motivierten Kennenlernen ihrer Möglichkeiten, das sich auch im folgenden Interviewausschnitt niederschlägt: „Und ich hab‘ halt so’n, äh, ähm, Kaugummi auf dem Boden gesehen. Und bei mir war das irgendwie ganz komisch, weil, ähm, das war eher so’n Gruppenbild. Und dann haben wir das im Computer gesehen und da hab‘ ich gesagt: „Das nehm‘ ich gerne.“ Und da hab‘ ich halt ’n Kapitän draus gemacht, sowas Ähnliches, wie’n Monster, und hab‘ halt da so ’ne Mütze gesehen an dem und so was Ähnliches wie ’ne große Nase und so’n Auge. Und da dran hab‘ ich dann halt noch den Bauch und die Füße dran gemalt. Und dann, so ist das halt, mein Bild entstanden. Ich hatte auch noch ganz viele andere Dinge, z.B. ’n Baumstamm wo so’n Mann drauf gelegen hat, wo sich jemand ausgeruht hat. Ja, so ist mein Bild eigentlich auch entstanden.“ (Interview J/01, Z. 81-90) • Keine Vorkenntnisse nötig
Viele Schülerinnen und Schüler bringen heute noch keine oder wenige Vorkenntnisse für die Nutzung digitaler Geräte mit. Vor allem gilt dies für Mädchen, wie die Studie deutlich zeigte. Zwar lassen sich die bereits vorhandenen Kompetenzen und Fähigkeiten vieler Jungen in Peer-Teaching-Modellen nutzen, doch wurde im hier dokumentierten Unterricht eine entgegengesetzte Strategie verfolgt: Der Unterrichtsimpuls war so „neu“ und ungewöhnlich für alle, dass auch die „Erfahrenen“ sagten, diese Art des Umgangs mit der Digitalkamera sei für sie sehr anregend und „spannend“ gewesen. Zugleich waren die „Unerfahrenen“ intrinsisch hoch motiviert und berichteten beispielsweise, dass sie gar nicht mehr aufhören konnten, zu fotografieren. • Schulung der Wahrnehmung
Während der Nutzung der Digitalkamera erfuhren die Heranwachsenden eine neue, experimentelle Sichtweise auf die ihnen wohl vertraute Umwelt – hier auf den Schulhof. Es erfolgte eine ästhetische Sensibilisierung, die von Aspekten einer unkonventionellen, tendenziell künstlerisch orientierten Wahrnehmungsweise geprägt ist. Eine Parallele zu einem Zitat Leonardo da Vincis (1452 – 1519) mag dies verdeutlichen: „… wenn du in allerlei Gemäuer hineinschaust, das mit vielfachen Flecken beschmutzt ist, oder in Gestein von verschiedener Mischung – hast du da irgendwelche Szenerien zu erfinden, so wirst du dort Ähnlichkeiten mit diversen Landschaften finden, die mit Bergen geschmückt sind, Flüsse, Felsen, Bäume – Ebenen, große Täler und Hügel in wechselvoller Art; auch wirst du dort allerlei Schlachten sehen und lebhafte Gebärden von Figuren, sonderbare Physiognomien und Trachten und unvermeidliche Dinge, die du auf eine willkommene und gute Form zurückbringen kannst.“ (Leonardo da Vinci in Holeczek/ Mendgen 1992, S. 16) (Abb. 3a und b) Diese assoziative Wahrnehmungsweise verbindet offenbar künstlerische und kindliche Rezeptionsmodi. So ist bei Janines „Kapitän Rudi“ eine Figur mit „sonderbarer Physiognomie und Tracht“ auszumachen. Und auch zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler, wie Antony Cragg, Hans-Peter Feldmann, Mike Kelley, Ulrich Meister oder Naomi Tereza Salmon (Kämpf-Jansen 2001, S. 77, 79, 88, 92, 98), pflegen vielfach den assoziativen Blick auf’s Detail. • Ausgleich gegenüber pragmatischer Nutzung
Die ästhetischen Fächer bieten die Möglichkeit einer „anderen“ Sicht auf die Welt, aber auch eines „anderen“ Umgangs mit Materialien und Geräten. „Anders“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass nicht eine zweck- und zielorientierte Nutzung vorherrscht, wie etwa in dem Schulfach Informatik, in welchem meist lehrgangsartig ganz bestimmte rationale Kompetenzen antrainiert werden. Sondern ein offenerer, assoziativer, nicht „verzweckter“ Umgang mit dem Digitalen kann ganz neue Einsichten eröffnen und Kompetenzen fördern. Auf diese Weise erfolgt beispielsweise das Kennenlernen eines wichtigen Merkmals der Digitalkamera (im Vergleich zu normalen analogen, den Kindern aus ihrem Alltag bekannten Kleinbildkameras): die extremen Nahaufnahmen bzw. Makroaufnahmen. Sie lernen, dieses Merkmal unkonventionell einzusetzen und umzusetzen. Janine drückt diese Lernerfahrung in der ihr eigenen Weise aus: „Ich hab’ jetzt viel damit gelernt, was man damit machen kann. Ich dachte, man kann nur filmen oder fotografieren und man kann halt viel mehr als fotografieren überhaupt. Zum Beispiel Bilder malen. Das find’ ich ganz toll eigentlich auch.“ (Interview J/01, Z. 303-305) • Förderung sozialer Kompetenzen
Der evaluierte Unterricht bot zwei Optionen zur Arbeit in Gruppen: Zum einen erkundeten die Schülerinnen und Schüler den Pausenhof der Schule gemeinsam. Sie mussten sich eine Digitalkamera in einer Kleingruppe von etwa vier bis fünf Personen teilen. Hier wurden Erfahrungen in der Nutzung der Kamera geäußert, man profitierte gegenseitig voneinander. Zusätzlich wurden teils sehr persönliche spontane Assoziationen ausgetauscht, die eigene Wahrnehmung wurde mit den differierenden Wahrnehmungen der anderen abgeglichen. Assoziationen wurden in Worte gefasst und verbal und gestisch erklärt. Bei Janine wirkt sich dieses gemeinschaftliche Entdecken als sehr prägend aus, wie sich an ihrer Sprache ablesen lässt: „Und dann haben wir, ähm, haben wir abwechselnd immer, also wir sind immer zusammen in der Gruppe losgezogen. Und da sind wir immer zusammengeblieben und haben immer zusammen auf den Boden geguckt und so. Und dann hat jemand gesagt: „Oh, guck mal, das sieht doch klasse aus. Aber will das jemand von euch haben?“, oder so. Und dann hat man das sich halt zusammen angeguckt.“ (Interview J/01, Z. 74-79) In diesem Abschnitt von Janines Erzählung dominiert das Wort „zusammen„, mit dem sie unterschiedliche Tätigkeiten kombiniert: „zusammen losgezogen„, „immer zusammengeblieben „, „immer zusammen auf den Boden geguckt“ oder „zusammen angeguckt„.
In der Phase des Zeichnens auf die Computerausdrucke stand zwar das individuelle Zeichnen im Vordergrund. Jedoch wurde immer wieder nachgefragt, ob die eigene Zeichnung im beabsichtigten Sinne von den anderen Mitschülerinnen und Mitschülern verstanden wurde. Und in der folgenden Phase wurden viele der aufzuschreibenden Erzählungen zur Zeichnung von den Tischnachbarinnen und -nachbarn streckenweise gemeinsam entwickelt. Man gab sich Ideen, Hinweise und Tipps.
Die Besprechung aller Arbeiten in der Klasse stand am Ende der Unterrichtseinheit statt, einmal im Zusammenhang mit einer Ausstellung in schuleigenen Räumen und zum zweiten, indem die Heranwachsenden ihre Bilder und Geschichten im Internet – im schulischen Informatikraum und mit Beamerprojektion – gemeinsam betrachteten und hierüber reflektierten. • Reglementierender Gestaltungsimpuls
Eigentlich könnte man annehmen, klare Regeln und feste Vorgaben würden die freie bildnerisch-ästhetische Gestaltung behindern und eingrenzen. Doch ergab die Auswertung des Unterrichts das Ergebnis, dass ein im künstlerischen Bereich vielfach beobachtetes Paradoxon auftrat, wie es etwa aus den Bauhauslehren der Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts bekannt ist. Durch die Reduktion und Konzentration auf wenige einzuhaltende Regeln erfolgte eine spezifische Anregung, die erst die Möglichkeit für Offenheit und Freiheit zur Folge hat. Nicht die Aufforderung „Malt was ihr wollt.“ führt zu dieser Ausdrucksfreiheit, sondern ein gezielter, reglementierender Impuls unterstützt die Ausgestaltung und Mitteilung individueller Fantasien. • Fantasie, Imagination und Kreativität
Die Förderung von Fantasie, Imagination und Kreativität erfolgte in den verschiedenen Phasen des Unterrichtsprojekts durch die hohe ästhetische und intrinsisch motivierende Anregungsqualität des fachdidaktischen Impulses, der analoge und digitale Anteile miteinander verband. Hiervon zeugen auch zwei weitere in diesem Zusammenhang erstellte und veröffentlichte Fallstudien (Peez 2001a; Peez 2001b).
Literatur
Arnold, Rolf: Qualität ist viereckig – Reflexionen zum Umgang mit Qualität in der Weiterbildung. In: PÄD Forum 1/ 1999, S. 35-38Benikowski, Bernd/ Gösken, Eva: Einführung in den Themenschwerpunkt – Kunst, Beuys und das Soziale Atelier. In: PÄD Forum 2/ 1999, S. 123
Benikowski, Bernd/ Bößer, Franz/ Schult, Simone: Leben und Lernen im Sozialen Atelier. Die Soziale Skulptur von Beuys in der Sozialen Arbeit und Pädagogik. In: PÄD Forum 2/ 1999, S. 124-128
Gösken, Eva: „Freude aus Verunsicherung ziehen“ oder: Alltagsgestaltung als ‚Soziale Kunst‘. In: PÄD Forum 2/ 1999, S. 129-135
Holeczek, Bernhard/ von Mendgen, Linda (Hg.): Zufall als Prinzip. Spielwelt, Methode und System in der Kunst des 20. Jahrhunderts (Katalog zur Ausstellung des Wilhelm-Hack-Museums in Ludwigshafen). Heidelberg 1992
Kämpf-Jansen, Helga: Ästhetische Forschung. Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft. Zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung. Köln (Salon Verlag) 2001
Lippitz, Wilfried: Phänomenologie als Methode? Zur Geschichte und Aktualität des phänomenologischen Denkens in der Pädagogik. In: Lippitz, Wilfried/ Meyer-Drawe, Käte (Hrsg.): Kind und Welt. Phänomenologische Studien zur Pädagogik. Frankfurt a. M. (Athenäum Verlag) 21987, S. 101-130
Moser, Heinz: Selbstevaluation und Schulentwicklung. In: PÄD Forum 3/ 1999, S. 206-210
Peez, Georg: Qualitative empirische Forschung in der Kunstpädagogik. Methodologische Analysen und praxisbezogene Konzepte zu Fallstudien über ästhetische Prozesse, biografische Aspekte und soziale Interaktion in unterschiedlichen Bereichen der Kunstpädagogik, Hannover (BDK-Verlag) 2000
Peez, Georg: Digitalfotografie und Kinderzeichnung. Kompensatorische Aspekte ästhetischer Erziehung am Fallbeispiel, http://www.muse-forschung.de/texte/fred/fred.htm, 2001a
Peez, Georg: „Und hat keinen Freund, sondern ist einfach so ein Siedler.“ Eine Fallstudie zu biografischen Aspekten der Kinderzeichnung in Verbindung mit der Nutzung einer Digitalkamera, http://www.muse-forschung.de/texte/chris/chris.htm, 2001b
Rumpf, Horst: Die Fruchtbarkeit der phänomenologischen Aufmerksamkeit für Erziehungsforschung und Erziehungspraxis (S. 313-335). In: Herzog, Max/ Graumann, Carl F. (Hg.): Sinn und Erfahrung. Phänomenologische Methoden in den Humanwissenschaften. Heidelberg (Roland Asanger Verlag) 1991
Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, http://gutenberg.aol.de/schiller/erziehng/erziehng.htm, 1793/95
Schratz, Michael: Selbstevaluation als Bemühen, Qualität zu verstehen und zu entwickeln. In: PÄD Forum 3/ 1999, S. 219-222
Wichelhaus, Barbara: Kompensatorischer Kunstunterricht. In: Kunst+Unterricht, 191/1995, S. 35-39
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1 a: Janine (11 Jahre): Ausschnitt einer Wand; Digitalfoto (Ausgangsbild für Abb. 2), August 2001Abb. 1 b: Janine (11 Jahre): Ausschnitt einer Wand; Digitalfoto, bearbeitet mit Transparenteffekt (Ausgangsbild für Abb. 2), August 2001
Abb. 2: Janine (11 Jahre): „Der traurige Kapitän Rudi“, farbige Zeichnung auf Computerausdruck, A4-Format, August 2001
Abb. 3a und b: Leonardo da Vincis (1452 – 1519): Sonderbare Physiognomien, ohne Jahresangabe, Royal Collection, Windsor (3a), Accademia von Venedig (3b)
Bibliografische Angaben zu diesem Text:
Peez, Georg: „Das Unwetter war schon da…“ Ästhetische Erziehung analog und digital – mit Buntstift und Digitalkamera. Ein Fallbeispiel aus einer 6. Klasse, Dezember 2001