Georg Peez
Die Ergebnisse von Zufallstechniken lassen sich nur bedingt oder gar nicht vorhersehen. Dementsprechend reizvoll sind sie für Kinder. Zudem ist der Zufall eine ideale Voraussetzung für die Kreativitätsförderung. Entscheidend dabei ist, dass die Ergebnisse nicht für sich stehen bleiben. Es gilt, die Kinder zu weiterführenden Aufgaben herauszufordern.
Die Förderung von Kreativität ist ein Ziel des Grundschulunterrichts und lässt sich nicht einem bestimmten Fach zuordnen. Mit der Kreativität betrachten wir ein viel diskutiertes und komplexes Phänomen, welches hier unter dem Fokus der Anwendung von Zufallsverfahren in bildnerischen Bereichen beleuchtet werden soll. Der Kunstpädagoge Rudolf Seitz, welcher Zeit seines Lebens die Kreativität von Kindern erforschte, grenzte diesen so häufig unscharf benutzten Begriff ein: "Kreativität ist die Fähigkeit des Menschen, Denkergebnisse beliebiger Art hervorzubringen, die im Wesentlichen neu sind und demjenigen, der sie hervorgebracht hat, vorher unbekannt waren." (Seitz 1998, S. 24)
Merkmale der Kreativität
Bedeutendes personenbezogenes und somit auch schülerbezogenes Merkmal für einen kreativen Zugang ist unter anderem die Flexibilität. Gemeint ist damit die Fähigkeit, etwas nicht gleich einzuordnen, sondern es in unterschiedlichen Kontexten gedanklich oder mit Materialien durchzuspielen und in der Folge ganz unterschiedliche Ideen zu entwickeln.
Wenn sich ein Kind auf den Zufall einlässt, dann übt es sich unwillkürlich in Flexibilität. Für eine große Bandbreite an unterschiedlichen Assoziationen und Ideen (s. die zitierte Definition von Rudolf Seitz) ist zudem die Originalität eine wichtige Voraussetzung. Die Vielfalt an ungewöhnlichen Ideen macht sich beispielsweise durch die unvorhersehbare Neukombination einzelner Aspekte bemerkbar. Der Zufall kann hierbei zweifellos sehr helfen. Obwohl dies in der Schulklasse sicher oft anstrengend ist, braucht ein Kind des weiteren hierfür einen gewissen Anteil an Nonkonformismus. Unangepasstheit ist eine Voraussetzung für die Entwicklung von aus der Norm fallenden Ideen, selbst gegen den Widerstand der Umwelt.
Um in einer zufällig entstandenen bildnerischen Struktur, wie etwa einem Prägedruck oder einer Monotypie, überhaupt etwas zu "sehen", muss ein Kind auch über Sensitivität verfügen, d.h. Assoziationen zu etwas haben, das scheinbar unbedeutend oder kaum zu deuten ist.
Nicht zuletzt kommt es darauf an, gewohnte Klischees zeitweise zu umgehen und die so genannte Ideenflüssigkeit anzuregen. Daher kann auch die Kleingruppe oder Schulklasse fördernd sein. Wenn die Kinder Ideen und Assoziationen von anderen Kindern hören oder sehen, dann regt sie dies meist an, d.h. sie kommen selbst auf immer mehr neue Gedanken (Urban/Jellen 1995, S. 13).
Kreativitätsförderung durch Zufall
Will man als Lehrkraft den Zufall im Sinne der Kreativitätsförderung einsetzen, sollten fünf Phasen in den Blick genommen werden. In der ersten Phase ist zunächst immer ein gewisser Rahmen abzustecken, etwa durch die Materialien, die für Zufallsverfahren verwendet werden sollen oder durch die Art und Weise des Umgangs hiermit. Kinder tun dies durchaus von sich aus im Spiel. Im Kunstunterricht wird diese Phase didaktisch geplant und begründet (s. die Beiträge in diesem Heft). In der Kreativitätsforschung spricht man von der Themeneingrenzung, Fokussierung oder Formulierung einer Herausforderung bzw. eines Problems, welches vom Interesse des Kindes getragen sein sollte.
Das bildnerische Arbeiten mit dem Zufall in der zweiten Phase besitzt das Potenzial, die oben genannten Merkmale kreativen Verhaltens – und noch einige mehr (Urban/Jellen 1995, S. 13) – zu fördern. Voraussetzung ist, dass die Lehrkraft die Prozesse, die durch Zufälle ausgelöst werden, zunächst nicht zu eng führt, sondern die Offenheit und Freiheit der Gedanken und des Tuns betont. Experimentierfreude, Umdeutungen, verrückte Ideen, aber auch das Denken und Handeln außerhalb des gesteckten Rahmens sind in dieser Phase nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Freilich gelten Regeln wie der Respekt vor den Arbeiten der anderen oder das Gebot, nicht mutwillig zu zerstören. Wertungen von Zufalls(zwischen)ergebnissen sollten zunächst unterbleiben, da sie beispielsweise die Ideenflüssigkeit hemmen. Das Tun selbst steht im Vordergrund und wird als angstfrei und somit meist lustbetont empfunden. In der Kreativitätsforschung wird diese Phase als Präparation bezeichnet. Oft erleben sich hier diejenigen Kinder mit ihrer Spontaneität als selbstwirksam und wertgeschätzt, deren das schulische Lernen schwerer fällt.
In einer dritten Phase werden alle bildnerischen Zufallsergebnisse mit den hiermit zusammenhängenden Ideen und Assoziationen "auf den Tisch gelegt" und gesichtet. Nun kommt es jedoch darauf an, dass eine bestimmte Herausforderung, eine Aufgabe oder ein Problem formuliert – oder nochmals aus der ersten Phase ins Gedächtnis gerufen – wird. Dieses Problem, dieses Thema oder diese Herausforderung bedingen zwar eine gewisse Engführung des weiteren Handelns und Gestaltens, sie sind aber für einen ergebnisbezogenen bildnerischen Prozess wichtig. Denn sonst bestünde die Gefahr, dass eine Vielzahl von zufälligen bildnerischen Strukturen oder Objekten und Ideen in der Beliebigkeit verharren. Bleibt die Nutzung von Zufallsverfahren in dieser Phase der Willkür stecken, kann dies leicht zu Desinteresse und Gleichgültigkeit bei den Kindern führen. Meist nehmen die Kinder aber von sich aus Wertungen vor und äußern Präferenzen sowie ästhetische Urteile. Als Lehrkraft sollte man diese nicht nur zulassen, sondern einen argumentativen und reflexiven Austausch hierzu fördern. Die Kreativitätsforschung spricht von Inkubation: Man ist von der Suche nach einer "Lösung", nach einer tragenden Idee für das weitere Handeln angesteckt. In der Inkubationsphase auch ein Absenken des Problems ins Unterbewusste typisch und ein "scheinbares Beschäftigen mit anderen Dingen". Diese Phase ist mit hohen psychischen Anspannungen verbunden und sollte von der Lehrkraft nicht "helfend" unterbrochen und schon gar nicht bewertet werden.
Irgendwann schält sich eine Idee heraus, die man gestalterisch weiterverfolgen will, oft kommt diese Idee plötzlich und unvermittelt, weshalb man bei dieser vierten Phase von der Illumination, der Erleuchtung oder Eingebung spricht. Erst jetzt erfolgt in der letzten Phase die relativ zielgerichtete Ausarbeitung, die Verifikation, d.h. Umsetzung. Sie ist eine wichtige Bedingung für den Abschluss eines kreativen Prozesses, der mit einem (vorläufigen) Ergebnis und damit folgerichtig auch in einer gewissen Befriedigung enden sollte.
Ausdeutung des Zufalls
Man könnte flaspsig sagen: Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht! Das heißt, Flexibilität, Sensitivität, Flüssigkeit, Nonkonformismus und Originalität müssen gepaart sein mit didaktisch aufbereiteten Anregungen für die Kinder. So führen diese zielgerichtet zu der Ausarbeitung und Nutzung einiger zunächst zufällig geschaffener Ergebnisse und zu einem Ergebnis, das man "Gestaltung" nennen kann. Der geringste gestaltende Eingriff in dieser Hinsicht kann die Auswahl, Isolation oder Rahmung eines Zufallsergebnisses sein. So wählte etwa Max Ernst einzelne Stellen oder Flächen seiner Decalcomanien (Abklatschbilder) aus, die für ihn von besonderem Reiz und Interesse waren (Duderstadt 2003, S. 117). Bleiben die Schülerinnen und Schüler bei der Produktion von vielen gleichwertigen Zufallsergebnissen stehen (Phase 2), so fehlt ein zentrales Merkmal (bildnerischer) Kreativität, nämlich die Fokussierung und konzentrierte Ausarbeitung (Kirchner/Peez 2009). Man spricht in Bezug auf diese letzte Phase auch von der Fähigkeit zur Synthese (Zusammenfügung, abschließenden Verbindung), die zu fördern ist. Dies muss aber nicht zu gleichförmigen, dekorativen Bildern im Schulflur führen, wie die Beiträge dieses Heftes überzeugend belegen.
Literatur
Duderstadt, Matthias: Faktor Zufall. In: Duderstadt, Matthias: Improvisation und ästhetische Bildung. Ein Beitrag zur ästhetischen Forschung. Köln (Salon Verlag) 2003, S. 113-121
Kirchner, Constanze/Peez, Georg: Kreativität in der Grundschule erfolgreich fördern. Arbeitsblätter, übungen, Unterrichtseinheiten und empirische Untersuchungsergebnisse. Braunschweig (Westermann Verlag) 2009
Seitz, Rudolf: Phantasie und Kreativität. München 1998
Urban, Klaus K./Jellen H. G.: Test zum schöpferischen Denken – Zeichnerisch. Frankfurt a.M. (Swets) 1995
Bibliografische Angaben zu diesem Text:
Peez, Georg: Wie Kinder den Zufall kreativ nutzen. In: Grundschule Kunst, Heft 49 "Alles Zufall!?", November 2012, S. 34-36