Rezension von Dr. Barbara Bader zu: Glaser-Henzer, Edith / Diehl, Ludwig / Diehl Ott, Luitgard / Peez, Georg: Zeichnen: Wahrnehmen, Verarbeiten, Darstellen. Empirische Untersuchungen zur Ermittlung räumlich-visueller Kompetenzen im Kunstunterricht. München (kopaed) 2012

Rezension von Dr. Barbara Bader zu:

Glaser-Henzer, Edith / Diehl, Ludwig / Diehl Ott, Luitgard / Peez, Georg: Zeichnen: Wahrnehmen, Verarbeiten, Darstellen. Empirische Untersuchungen zur Ermittlung räumlich-visueller Kompetenzen im Kunstunterricht. München (kopaed) 2012

Empirisch begründete Kompetenzbeschreibungen, die nicht auf allgemeinem Erfahrungswissen basieren oder – mit Wolfgang Legler gesprochen – Postulatdidaktik betreiben und Könnensbehauptungen aufstellen, sind in der kunstpädagogischen Forschung nach wie vor Mangelware.
Die Untersuchungen zur räumlich-visuellen Kompetenz von Kindern und Jugendlichen, die Edith Glaser-Henzer, Ludwig Diehl und Luitgard Diehl Ott in Zusammenarbeit mit Georg Peez in vorliegendem Band „Zeichnen: Wahrnehmen, Verarbeiten, Darstellen“ präsentieren, setzen einen Kontrapunkt und dies gleich in mehrerlei Hinsicht: Zum einen leistet die Publikation einen Beitrag zur generellen Kompetenzdiskussion, die angesichts der Popularität standardisierter Leistungs- und Outputmessungen zunehmend wichtig wird; zum Anderen zeigt sie beispielhaft, wie empirisch-qualitative Forschung konzipiert, reflektiert und präsentiert werden kann und hat forschungsmethodischen Modellcharakter für Folgestudien in anderen gestalterisch-künstlerischen Kompetenzbereichen. Beide Aspekte sind allerdings bloss Nebenprodukte des Raviko-Projektes, welches von 2007-2010 an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz durchgeführt und von der Jacobs Foundation sowie dem LBG finanziell unterstützt wurde.
Im Kern stehen die empirisch ermittelten Beschreibungen der Kompetenz des räumlich-visuellen Wahrnehmens von Kindern und Jugendlichen sowie des zeichnerischen Darstellens von Räumlichkeit auf der Fläche, und, in einem zweiten Schritt, die Etablierung von Niveau-Unterscheidungen innerhalb dieser Kompetenzen im Kunstfach. Darüber hinaus macht die Studie Aussagen zum Geschehen im Unterricht und den daraus resultierenden Wirkungen sowie Aussagen zu den Faktoren, welche diese Wirkungen beeinflussen. Die Basis dafür bildet ein umfangreicher Datenkorpus aus Kinderzeichnungen, Videografien des Entstehungsprozesses der Zeichnungen sowie audiovisuell fest gehaltenen Interviews mit den jungen Zeichnerinnen und Zeichnern. Mit der Fokusverlagerung vom kognitivistisch orientierten Stufenmodell der Kinderzeichnungsforschung hin zu subjekt- und prozessbezogenen Kompetenzen sind die Ergebnisse der vorgelegten Studie insgesamt anschlussfähig an die gegenwärtigen fachbezogenen und erziehungswissenschaftlichen Diskurse um Kompetenzen und deren Niveaus.
Die Publikation beginnt mit einer Einführung und Begriffsklärung gefolgt von Ausführungen zu den Forschungsschwerpunkten und -methoden. Die didaktischen Settings werden übersichtlich und anschaulich dargestellt, die Forschungsergebnisse zur Raumdarstellung und zu räumlich-visuellen Verarbeitungskompetenzen sind für die Leser/in dank der begleitenden Abbildungen sowie den Primärmaterialien im Anhang gut nachvollziehbar. Wie bereits erwähnt bildet die Differenzierung zwischen resultat- und prozessorientierten Ergebnissen, d.h. zwischen Raumdarstellung und der komplexeren, räumlich-visuellen Verarbeitungskompetenz, das Kernstück der Ergebnisdiskussion. Ein Resümee, ein Aufriss des weiteren Forschungsbedarfs sowie der kunstdidaktischen Implikationen vervollständigen die Ausführungen zum Zeichnen im Kontext Wahrnehmen, Verarbeiten und Darstellen.
Mit ihren herausfordernden und komplexen Aufgabestellungen unterbreitet diese Publikation der Leserschaft schliesslich auch ein Plädoyer für neue Erfahrungs- und Lernformen im schulischen Kunstunterricht. Die Arbeit mit Parcours, fantastischen Erzählungen und Raum-Zeit-Reisen widerspiegeln konsequent und beispielhaft die empirisch belegten Aussagen zum komplexen Zusammenhang zwischen Wahrnehmenserfahrung, Vorstellungsbildung und Raumdarstellung. Es ist zu hoffen, dass diese Dimension von „Zeichnen: Wahrnehmen, Verarbeiten, Darstellen“ in der Curriculums- und Lehrmittelentwicklung im Rahmen des Lehrplans21 ihren Niederschlag finden wird.

erschienen in: Heft 06. Publikation des Verbandes der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer für Bildnerische Gestaltung LBG-EAV. März 2013, S. 353-355