Mit Fingerspitzengefühl zu Erfahrung und Wissen

Mit Fingerspitzengefühl zu Erfahrung und Wissen

Kasuistische Grundlagenforschung zur sensomotorischen Bedienung von Multi-Touchscreens

Georg Peez

Zusammenfassung

Weisen die Finger- und Handmotorik, welche sich bei Kindern im Alter von 8 bis 13 Monaten an deren Schmier- und Sudelaktivitäten beobachten lassen, Korrespondenzen auf zu der Bedienung von Handheld-Computern mit berührungssensitivem Monitor? Zur Beantwortung dieser Frage werden acht Fallstudien mit Kleinkindern, in denen Schmierhandlungen dokumentiert sind, phänomenologisch ausgewertet. Ähnlichkeiten zwischen der Benutzung des Multi-Touchscreens und den Schmierhandlungen von Kleinkindern werden exemplarisch vorgestellt sowie generalisiert und diskutiert.

Forschungsanlass

Auf Videoportalen finden sich unter dem Suchbegriff „iPad Baby“ kurze, meist im häuslichen Umfeld aufgenommene Sequenzen, die Kleinkinder beim Umgang mit Tablet-Computern zeigen. Für den Betrachter ist die Routine, mit der diese Ein- bis Zweijährigen die Funktionen auf dem Touchscreen ausführen, oft verblüffend. Manchmal erscheint das Verhalten der Kinder fast dressiert, ist aber wohl durch den alltäglichen Umgang mit medialen Angeboten des Tablet-Computers erklärbar. Nicht selten beherrschen die Kinder diese Grundfunktionen der Eingabe mit den Fingern auf dem Monitor noch bevor sie laufen und lange bevor sie sprechen können. „merz | medien + erziehung“ widmete dieser Thematik und den sich hieraus ergebenden medienpädagogischen Herausforderungen im letzten Jahrgang ein Themenheft („Frühe Medienerziehung digital“, 02/2013). Es verfestigt sich der Eindruck, dass der Umgang mit dem Tablet-Computer sowie dem Smartphone im wörtlichen Sinne (klein-) kinderleicht ist. Doch warum ist dies so? Antworten auf diese Frage wird im Folgenden im Sinne einer Grundlagenforschung kasuistisch nachgegangen.

Ursprüngliche Fragestellung

Unter dem Titel „Phänomenologische orientierte Fotoanalyse – Schmieren, der weitgehend unerforschte Beginn der Kinderzeichnung“ veröffentlichte der Autor vor acht Jahren eine Fallstudie über die Schmierbewegungen und -spuren eines neuneinhalb Monate alten Kleinkinds (Peez 2006, S. 69). In dieser Studie wurde erkundet, ob vor dem Beginn der sogenannten Kritzelphase nach dem 12. Lebensmonat (Richter 51997, S. 20ff.; Schuster 32010, S. 50ff.) bei Kindern bereits (andere) bildnerische Ausdrucksformen und spezifische Spuren zu beobachten sind. Im Bereich der Kinderzeichnungsforschung beginnen die Darstellungen in dem Moment, wo die Kinder einen Stift halten können und erste gestische Kritzel auf dem Papier oder auch an Wänden und vergleichbaren Oberflächen hinterlassen. Zwar gab es bis dahin in der Literatur zur Kinderzeichnungsforschung bereits hier und da Andeutungen, dass das Spurschmieren, etwa mit Speichel, Essensresten oder Brei bereits erste bildnerische Erfahrungen ermögliche, doch blieb es fast ausschließlich bei solchen vagen Hinweisen (Richter 51997, S. 23; Richter 2001, S. 23). Der Kunst- und Heilpädagoge Hans-Günther Richter stellt das Sudeln und Schmieren zugleich in eine wichtige Reihe: „Von diesen frühen Schmieraktivitäten führt über die vielen, uns allen bekannten Formen von Schlammschlachten, Wasserschlachten, Klecksen, Sudeln o. ä. in der Kindheit und Jugend ein direkter Weg zur Behandlung der Farbe und verwandter Materialien in expressiven Gestaltungen.“ (Richter 51997, S. 24) Er zieht sogar Verbindungen zu künstlerischem Ausdruck sowie zum Abstrakten Expressionismus der Kunst im 20. Jahrhundert (ebd.). Für Richter liegt die Schwierigkeit darin, „Differenzierungen in diesen Verhaltensweisen zu erkennen“ (Richter 2001, S. 23). Es ließen sich in den Schmier- und Sudelaktivitäten selbst kaum organisierte Formen entdecken, „die eine Art motorischer Performanz darstellen und die dabei auf spezielle psychomotorische Muster und Affektqualitäten“ hindeuteten (Richter 2001, S. 23). [Anm. 1]

Die grundsätzliche Frage tauchte anhand dieser Überlegungen auf, ob die Forschungsliteratur zur Entwicklung der Kinderzeichnung und des ästhetischen Verhaltens von (Klein-) Kindern an einem ontogenetisch früheren Zeitpunkt ansetzen müsste, nämlich bereits im Säuglingsalter und deutlich vor dem ersten Geburtstag, also vor der Kritzelphase.

Weitere Forschungen

Auf die oben kurz angesprochene Fallstudie mit der neuneinhalb Monate alten Lara (Peez 2006, S. 69ff.) folgten aufgrund entsprechend aufschlussreicher Interpretationen und (Zwischen-) Ergebnisse 2007 und 2008 insgesamt sieben weitere ähnliche Einzelfallstudien mit Kleinkindern im Alter zwischen 8 und 13 Monaten. Zudem führte die damalige Studentin Uschi Stritzker eine Längsschnittstudie mit ihrem eigenen Kind im Alterszeitraum von 8 bis knapp 12 Monaten durch. Sie videografierte im Rahmen ihrer Magisterarbeit die Schmierhandlungen des kleinen Finn und interpretierte vorwiegend anhand von Videostandbildern das Schmierverhalten bzw. die Veränderung und Entwicklung der Schmierspuren innerhalb dieser knapp fünf Monate. Daraufhin entstand eine Buchpublikation, in der all diese Fallstudien zusammengefasst sind (Stritzker/Peez/Kirchner 2008). [Anm. 2]

Sequenz aus einer Fallstudie

Ein kurzer Ausschnitt aus der ursprünglich ersten Fallstudie soll hier das forschungsmethodische Vorgehen darstellen, bei welchem das Schmierverhalten der neuneinhalb Monate alten Lara mit Einzelfotos, etwa im Abstand von je 10 bis 20 Sekunden aufgenommen wurde. Diese Fotos wurden phänomenologisch deskriptiv erschlossen sowie interpretiert (nach Wünsche 1991), auch unter Zuhilfenahme eines Protokolls einer parallel hierzu geführten bzw. im Nachhinein verschriftlichten teilnehmenden Beobachtung der Situation. [Anm. 3]

abb1 abb2
Abb. 1 Lara schmiert im Alter von neuneinhalb Monaten. Abb. 2 Lara schmiert im Alter von neuneinhalb Monaten (Detail aus Abb.1).

Das erste Foto (Abb. 1)

„Die 9 1/2 Monate alte Lara sitzt auf einem Kinderhochstuhl an einem Tisch mit weißer Tischplatte. Das Foto ist schräg von vorne sowie von oben aufgenommen. Ihr Oberkörper befindet sich in Berührung mit der Tischkante. Beide Hände bzw. Unterarme liegen auf der Tischplatte. Der Kopf des Mädchens ist nach unten geneigt. Es blickt vor sich auf die helle leere Tischplatte, auf der sich lediglich drei größere Flecken aufgetropften Karottenbreis (aus einem handelsüblichen Gläschen mit dieser Fertignahrung) befinden: der Fleck mit der größten Ausdehnung direkt vor ihr, zwei kleinere, etwa gleich große Flecken rechts von ihr. Hinzu kommen einige weitere kleine Breispritzer. Die Finger der linken Hand des Kindes sind gespreizt, die fünf Fingerkuppen liegen jeweils auf der Tischplatte, die Innenfläche der linken Hand liegt offenbar nicht oder kaum auf. Diese linke Hand befindet sich nahe am Körper, weiter entfernt von den Flecken. Von seiner rechten Hand hat das Kind den Zeigefinger gerade ausgestreckt, Mittel- und Ringfinger sind zur Handinnenfläche angewinkelt. Der kleine Finger rechts außen ist nur wenig angewinkelt; seine Fingerkuppe berührt die Tischplatte. Das erste Glied des Zeigefingers der rechten Hand ist ein wenig mit dem orangefarbenen Karottenbrei bedeckt. Bei genauerem Betrachten (im Detail; Abb. 2) sieht man an der kurzen Schmierspur auf der Tischfläche in diesem größten, direkt vor dem Kind befindlichen Fleck, dass dieser rechte Zeigefinger von rechts oben seitlich kommend nach links unten in dem Breifleck leicht bewegt wurde, denn die Zeigefingerkuppe schiebt ein wenig Brei nach links unten vor sich her. Mit einer leichten schwingenden Bewegung des Zeigefingers wurde der Brei offenbar in beide Richtungen auseinander getrieben bzw. auf dieser Spur verteilt. Zum Zeitpunkt der Aufnahme bewegt sich der Zeigefinger nach links unten, zur Körpermitte hin, erkennbar durch den Brei an der linken Seite des Fingers, der auch den linken Teil der Fingerkuppe, des Fingernagels bedeckt. Der ausgestreckte Zeigefinger wurde vom Kind nicht direkt in die Mitte des Flecks gesetzt, sondern offenbar eher an den (von ihm aus gesehen) rechten Rand. Durch die empfindlichen Sinneszellen der Haut, die ‚freien Nervenendigungen‘, die Kälte-, Wärme- und Tastrezeptoren in der Fingerkuppe, wird das feuchte und kühle Breimaterial wahrgenommen. Gezielte Berührung, sensorischer Eindruck, Wahrnehmung und erkundende Bewegung folgen eng aufeinander, sie bedingen sich. Der erste Kontakt mit dem Material sowie der erste Eindruck werden neugierig und vorsichtig von Lara zunächst durch die Berührung und im zweiten Schritt durch die Bewegung gesucht. Hierfür verwendet sie sehr differenziert nur einen Teil ihres „Werkzeugs“ Hand: Sie streckt den Zeigefinger aus und nutzt nur das erste Fingerglied. Ältere Kinder und Erwachsene würden sich zu Beginn einer solchen Erkundung wohl kaum anders verhalten. An dieser Stelle der phänomenologisch orientierten Interpretation lässt sich nicht klären, inwieweit es sich hierbei um ein durch Sozialisation oder durch Mimesis bereits in den ersten Lebensmonaten angeeignetes Verhalten handelt oder um eine durch Aufbau und anthropologische Funktion der Hand evolutionär bedingte Determinante (Gebauer 1997). Neugierde – mit Vorsicht gepaart – spielt bei der Erkundung des eigentlich bekannten Materials im ungewöhnlichen, neuen Arrangement als isolierte Flecken auf dem Tisch offenbar eine große Rolle. Der vorgestreckte Zeigefinger ist erkundendes Werkzeug, Ausdrucksinstrument und wird zugleich zum Wahrnehmungsorgan. Er vermittelt zwischen der Außenwelt und der Innenwelt des Kindes, zwischen der Dingwelt und dem Körper. Die Körperhaltung und die langsame, nachvollziehbare Bewegung des Fingers verraten höchste Konzentration des Kindes in der fotografierten Situation. (Schnellere Bewegungen der Hand führen in den folgenden Fotos zu fotografischen Unschärfen.)“ (Peez 2006, S. 77ff.).

abb3 abb4
Abb. 3 u. 4 Caspar wendet im Alter von fast 13 Monaten den Pinzettengriff an.

Generalisierung

Die phänomenologische Deskription dieser Fotografien im Rahmen einer daraufhin erfolgten Interpretation zeigt – zusammen mit den bereits oben angesprochenen acht weiteren Falluntersuchen – die folgenden vier unterschiedlichen Ausprägungen der Schmiermotorik der Finger. Diese sind generalisierbar für das Schmierverhalten von Kindern zwischen dem 8. und 13. Lebensmonat.

• Die meist erste Kontaktaufnahme des Kleinkindes mit dem Breifleck erfolgte durch das Antippen und die Berührung mit der Kuppe des ausgestreckten Zeigefingers.

• Mit Daumen und Zeigefinger, die sich aufeinander zubewegen und dann berühren, dem so genannten Pinzettengriff, wird von den Kindern versucht, Material aufzunehmen und anschließend zum Mund zu führen, um dies oral zu ertasten und zu schmecken (Abb. 3 u. 4).

• Wenn der ausgestreckte Zeigefinger im Brei verbleibt und die Hand und der Arm auf den Körper hingezogen werden, so entsteht meist eine gerade Bewegungsspur, eine kurze Linie.

• Verbleibt der Finger im Brei-Klecks und wird nicht auf den Körper zubewegt, sondern leicht hin und her geschwungen, so verursacht dies eine Art kleinen Bogen. Der Zeigefinger wischt quasi das Breimaterial ein wenig nach links und rechts (Abb. 1 u. 2).

Revision und neue Fragestellung

Im Jahr 2007 kam das erste iPhone auf den Markt, 2010 folgte das iPad von Apple. Beide Handhelds waren zwar keinesfalls die ersten digitalen Geräte, bei denen die Nutzung und Eingabe über einen berührungssensitiven Monitor erfolgt (Atterer 2007), doch wurde zweifellos der Touchscreen bzw. Multi-Touchscreen (Erkennung von mehreren Fingerberührungen und -bewegungen gleichzeitig) durch die Hardware von Apple im Bereich der Smartphones, Personal-Computer und Handhelds weltweit erst populär. Nach wenigen Jahren des Siegeszugs der Touchscreen-Technologie unterzieht der Autor die damaligen Untersuchungen und oben skizzierten Ergebnisse nun einer Revision – im wörtlichen Sinne -, einer erneuten Analyse; und zwar diesmal im Kontext der Frage, inwieweit die Handhabung des Schmiermaterials (u.a. Brei, Speichel oder Fingerfarbe) mit dem Zeigefinger sowie durch das Zusammenspiel von Zeigefinger und Daumen im Säuglings- und Kleinkindalter als Grundlage für die Bedienung des Touchscreens angesehen werden kann.

Die vier oben vorgestellten extrahierten Formen der Fingermotorik werden in Bezug gesetzt zu den Bewegungsabfolgen zur Nutzung und Dateneingabe auf berührungssensitiven Bildschirmen.

• Das Auftippen mit der Kuppe des ausgestreckten Zeigefingers ermöglicht auf dem berührungssensitiven Bildschirm das Auslösen vieler Funktionen. Beispielsweise aktiviert die Berührung eines Icons die „dahinter“ befindliche Applikation.

• Der bei den Fallstudien beobachtete Pinzettengriff entspricht der Bewegung von Daumen und Zeigefinger auf dem Monitor, um Grafiken oder Texte zu vergrößern oder zu verkleinern (Abb. 5).

• Die kurze, gerade Bewegung mit dem Zeigefinger von oben nach unten (oder umgekehrt) entspricht etwa dem Scrollen, also der Auf-und-ab-Bewegung in einem längeren Dokument auf dem Bildschirm.

• Die leichte Hin-und-her-Bewegung mit dem Zeigefinger korrespondiert mit dem in den USA patentierten „Slide to unlock“ auf dem Home-Bildschirm des i-Phones (Abb. 6). Ein kurzes Wischen mit der Fingerkuppe bewirkt in anderen Fällen das schnelle Löschen von Informationen oder Einträgen, etwa aus einer Liste.

abb5 Abb. 5 Die Bewegung von Daumen und Zeigefinger aufeinander zu bzw. voneinander weg auf dem Multi-Touchscreen ermöglicht das Verkleinern oder Zoomen (vgl. den Pinzettengriff in Abb. 3 u. 4).
abb6 Abb. 6 Ein leichtes Wischen mit der Kuppe des Zeigefingers entsperrt den Home-Bildschirm des i-Phones („Slide to unlock“) (vgl. die Motorik beim Schmieren in Abb. 1 u. 2).

Fazit

Im Moment wird im Bereich des Kommunikations- und Screendesigns mit diversen neuen Eingabeformen experimentiert, manche haben die Serienreife erreicht. Beispielsweise sind Geräte zur Gestenerkennung bereits auf dem Markt verfügbar; hiermit werden mittels Infrarot-Technologie Handgesten erkannt, welche wiederum – ganz ohne Berührungskontakt mit dem Bildschirm – das Auslösen von Funktionen des Computers verursachen (z.B. www.leapmotion.com). Solche innovativen Nutzungs- und Eingabeformen mögen für gewisse Tätigkeiten hilfreich sein, doch kann aufgrund der vorgetragenen Ergebnisse und Interpretationen davon ausgegangen werden, dass der Touchscreen sich nicht nur kurzzeitig als wichtige Eingabeform, gerade für Kinder und Jugendliche eignet. Sondern der Touchscreen wird uns – aufgrund seiner Verankerung mit unseren frühesten Formen der Welterkundung – noch länger erhalten bleiben. Denn eine direktere, noch früher eingeübte und intuitivere Verbindung zwischen Berührung, Motorik und der Nervenverdrahtung zum Gehirn, zu eigenen Erfahrungen und zum Wissen bietet unser Körper nicht.

Dies untermauert auch ein abschließender, kurzer Blick auf Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften. Bereits seit einigen Jahren ist durch die Hirnforschung belegt, dass die geringe Bewegung eines Fingers, beispielsweise auf drei nebeneinander platzierten Tasten, jeweils etwas unterschiedliche Repräsentation, d.h. neuronale messbare Veränderungen in zwei Gehirnregionen auslöst, die als „Primary Motor Cortex (M1)“ und „Nonprimary Motor Cortex (SMA)“ bezeichnet werden (Indovina/Sanes 2001, S. 1032). Der Neurologe Florian Heinen fasst entsprechend Studien zusammen: „Es ist zwischen Information und Mensch etwas motorisch beteiligt, was ganz nah am Gehirn dran ist was evolutionsbiologisch tief eingebettet ist, und was ontogenetisch früh im Gehirn selbst konstituiert wird: die Bewegung der menschlichen Hand, die Bewegung des menschlichen Zeigefingers und das Zusammenspiel von Zeigefinger und Daumen, der sogenannte Pinzettengriff.“ (Heinen 2013, S. N1) Die Informationstechnologie des berührungssensitiven Bildschirms nutzt die direkte Beziehung zwischen Zeigen, Berühren und Verfügen. Wenn wir ein Icon auf dem Bildschirm berühren, dann verfügen wir durch das Öffnen der Applikation über das dahinter stehende Wissen – ein fast magisch anmutender und zugleich aufgrund unserer physischen Voraussetzungen intuitiv angestoßener Vorgang. Der Zeigefinger sowie die anderen Finger zeichnen sich durch ihre Funktionsweise aus: „In dem komplexen System Gehirn gibt es ein System, welches durch Einfachheit, Direktheit und biologische Höchstgeschwindigkeit imponiert, ein System in dem die unmittelbare Verbindung vom Gehirn zu Motorik realisiert ist: das cortico-spino-muskuläre System zur Hand – zum Zeigefinger.“ (Heinen 2013, S. N1)

Antippen, Berühren, Vergrößern und Verkleinern oder Wegwischen, in kürzester Zeit lassen sich diese Bewegungen bzw. Funktionen mit dem Finger oder wenigen Fingern erlernen und ausführen. Sie sind deshalb intuitiv, weil jeder Mensch in seinen ersten Lebensmonaten auf genau diese Weise seine unmittelbare Umgebung erkundet, erfasst, begriffen, erfühlt und erfahren hat.

Weiterer Forschungsbedarf

Mit diesen (Zwischen-) Ergebnissen ist das Feld der Grundlagen zur Nutzung von Touchscreens lediglich punktuell erkundet. Es ergeben sich wichtige Forschungsbedarfe, welche interdisziplinär einzugrenzen und danach zu untersuchen sind. So ist beispielsweise der Daumen bei der Nutzung von berührungssensitiven Bildschirmen durch Erwachsene von großer Bedeutung und wird auch im Screendesign entsprechend stark beachtet. Bei Kleinkindern konnte jedoch eine so dominante und eigenständige Nutzung des Daumens (außer im Zusammenspiel beim Pinzettengriff) nicht beobachtet werden. Weitere Forschungsinteressen erschließen sich auf anthropologischer Ebene, d.h. im Bereich der Untersuchung der Bedeutung der Hand und der Finger. Auch die Kulturanthropologie und die Ethnologie haben ein großes Erkenntnisinteresse auf diesem Feld, welches für die Untersuchung des Umgangs mit Handhelds, Computern und berührungssensitiven Bildschirmen sehr wichtig wäre.

Nicht zuletzt soll darauf hingewiesen werden, dass im Digitalen immer schon der Finger eine zentrale Bedeutung hat, denn etymologisch leitet sich das Wort digital von lateinisch „digitus“, der Finger ab. Das Zählen und Rechnen mit den Fingern ist sozusagen der Ausgangspunkt.

Anmerkungen

1 Eine ausführlichere, empirisch dokumentierte Situation des Schmierens findet sich in der englischsprachigen Literatur zur Kinderzeichnung. Hier hat John Matthews sein eigenes Kind im Alter von sechs Monaten dabei beobachtet, wie es auf dem Bauch liegend ein wenig Milch aufstößt, die es gerade getrunken hatte. Diese Milch fließt aus dem Mund des Babys auf den Teppich direkt vor das Kind. In dem hierdurch entstandenen gut sichtbaren hellen Fleck kratzt das Kind nun mit den Fingern, wodurch Veränderungen auf dem Teppich und somit im Material der Milch sichtbar werden (Matthews 2003, S. 52f.). Der Autor deutet diese Fingerbewegungen des Kratzens als einen Versuch, die Milch zu erfassen; Ähnlichkeiten in der Motorik zum Klammergriff des Säuglings sind offensichtlich. Es handelt sich um das visuell gelenkte Greifen (Richter 5 1997, S. 23). Nach dem sechsten Lebensmonat wird das Kind gelernt haben, seine Finger insoweit koordiniert einzeln einzusetzen, dass es beispielsweise nur mit dem Zeigefinger gezielt eine bestimmte Stelle berühren kann.

2 Quasi ergänzend bzw. im Anschluss dazu kann eine andere Längsschnitt-Fallstudie über den kleinen Lou gesehen werden; hier hatte Jacqueline Baum die Gelegenheit ergriffen, das Kritzel-Verhalten ihres Sohnes im Alter von 12 bis 18 Monaten kontinuierlich videografisch zu dokumentieren (Baum/Kunz 2007, S. 6f.). Gemeinsam mit Ruth Kunz wurden diese Videos daraufhin von ihr ebenfalls phänomenologisch orientiert ausgewertet.

3 Detaillierte Informationen zu den Methoden der Datenerhebung, Datenaufbereitung und Interpretation siehe Peez 2006, S. 74ff.

Literatur

Atterer, Richard (2007). Touch Screen Technologien. http://www.medien.ifi.lmu.de/lehre/ws0607/mmi1/essays/Nihad-Zehic.xhtml [Zugriff: 23.09.2013]
Baum, Jacqueline/Kunz, Ruth (2007). Scribbling Notions. Bildnerische Prozesse in der frühen Kindheit. Zürich CH: Verlag Pestalozzianum.
Gebauer, Günter (1997). Hand. In: Wulf, Christoph (Hrsg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim: Beltz. S. 479–489.
Heinen, Florian (2013). Der Zeigefinger: Schlüssel einer neuen Kultur. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 111, 15. Mai. S. N1.
Indovina, Iole/Sanes, Jerome N. (2001). On somatotopic representation centers for finger movements in human primary motor cortex and supplementary motor area. In: Neuroimage. Volume 13, Issue 6, June. S. 1027-1034.
Matthews, John (2003). Drawing and Painting. Children and Visual Representation. London: Paul Chapman Publishing.
Peez, Georg (2006). Fotografien in pädagogischen Fallstudien. Sieben qualitativ-empirische Analyseverfahren zur ästhetischen Bildung. München: kopaed.
Richter, Hans-Günther (5 1997). Die Kinderzeichnung. Entwicklung – Interpretation – Ästhetik. Berlin: Cornelsen.
Richter, Hans-Günther (Hrsg.) (2001). Kinderzeichnung interkulturell. Zur vergleichenden Erforschung der Bildnerei von Heranwachsenden aus verschiedenen Kulturen. Hamburg/Münster: Lit Verlag.
Schuster, Martin (3 2010): Kinderzeichnungen. Wie sie entstehen, was sie bedeuten. München: Reinhardt.
Stritzker, Uschi/Peez, Georg/Kirchner, Constanze (2008). Schmieren und erste Kritzel. Der Beginn der Kinderzeichnung. Norderstedt: BoD.
Wünsche, Konrad (1991). Das Wissen im Bild. Zur Ikonographie des Pädagogischen. In: Oelkers, Jürgen/Tenorth, H.-Elmar (Hrsg.): Pädagogisches Wissen. Weinheim: Beltz. S. 273-290.


Bibliografische Angaben zu diesem Text:

Peez, Georg: Mit Fingerspitzengefühl zu Erfahrung und Wissen. Kasuistische Grundlagenforschung zur sensomotorischen Bedienung von Multi-Touchscreens. In: merz | medien + erziehung. Zeitschrift für Medienpädagogik, Nr. 2, 2014, S. 67-73


Georg Peez (http://www.georgpeez.de) Zuletzt geändert am 05.05.2014