Überraschung, Genuss, Kultur, Sinn und Sinnlichkeit in der kulturellen Erwachsenenbildung
Georg Peez
Bildung und Bilder
"Kehre ein zu Dir
selbst und sieh dich an; und wenn du siehst, daß du doch
nicht schön bist, so tue wie der Bildhauer, der von einer
Büste, die schön werden soll, hier etwas
fortmeißelt, hier etwas ebnet, dies glättet, das
klärt, bis er das schöne Antlitz an der Büste
vollbracht hat: so meißle auch du fort, was unnütz und
richte was krumm ist, das Dunkle säubere und mach es hell und
laß nicht ab, an deinem Bilde zu handwerken, bis dir
hervortritt der göttliche Glanz der Tugend.“ (Plotin, Enneade
I 6,9)
Der metaphorische Vergleich
des römischen Philosophen Plotin (205 – 270 n. Chr.) von
Bildung mit dem Bildhauen scheint zunächst einsichtig:
Bildung ist Formen und Gestalten an sich selbst, einem
künstlerischen Akt ähnlich. Im schöpferischen,
abwägenden Dialog zwischen Gestalter und Material bildet sich
das Ergebnis langsam heraus. Bildung ist somit Selbstgestaltung
oder Selbstbildung. Doch wie ist es physikalisch möglich, an
sich selbst "zu meißeln“, sich selbst zu formen? Ist
nur Plotins bildlicher Vergleich oder sind gar die theoretischen
Grundlagen des Selbstbildungsideals widersprüchlich und somit
nicht haltbar? Oder positiv gewendet: Handelt es sich hier um ein
für Bildung konstitutives Paradoxon, das sich eben nur in
einem in sich widersprüchlichen Bild ausdrücken
lässt?
Plotins Zitat führt uns
noch auf eine andere Fährte, die Beziehungsaspekte zwischen
"Bild“ und "Bildung“ zu verfolgen. Offensichtlich findet
der am Bildhauerischen orientierte Selbstbildungsakt nicht
beliebig und zufällig statt, sondern folgt einem innerlich
Vorgebenem, einem Bilde, das im Stein eingeschlossen zu sein
scheint. Denn durch das Herausarbeiten des "Schönen“,
durch das "Säubern“ tritt "der göttliche Glanz
der Tugend“ hervor. Die Selbstbildung orientiert sich also
zumindest bis zu einem gewissen Maße an einem im Stein
bereits vorhandenen inneren Bilde, das von göttlichen
Zügen geprägt ist.
Erwachsenenbildung,
Kulturelle Bildung, Fort- und Weiterbildung enthalten den
Wortstamm "Bild“. Etymologisch leitet sich dieser Wortstamm
aus zwei Quellen ab: Einerseits betont "bilidi“
(althochdeutsch: Wunder-Zeichen, Wesen, Gestalt) das, wodurch
etwas eine Gestalt gewinnt, sein Wesen erhält, zur vollen
Entfaltung seiner Kraft gelangt. Andererseits bedeutet die Wurzel
"bil-“ recht oder richtig und betont das, was ein solches
Urbild nachbildet, darstellt, bezeichnet (Kamper 1997, S. 589).
Beide Quellen zeigen uns eine – zunächst vielleicht
nur unterbewusst oder diffus empfundene – Nähe
zwischen Pädagogik und kreativer Gestaltung auf. (Im
Gegensatz zu den Selbstgestaltungsaspekten, die zuvor dargelegt
wurden, wird in diesem Text auf die Vorstellung eines
Erwachsenenpädagogen, der Erwachsene ‚bildet‘, nicht
eingegangen.) Die Pädagogik bedient sich zudem sehr
häufig sprachlicher Bilder: z. B. in den Worten
Erziehung, Wachstum, Reife, Einwirkung, Beeinflussung. Ein
vorläufiges Zwischenresümé lautet: Sprachliche
Bilder und Analogien verweisen uns auf Zonen der Reflexion
über Erziehung und Bildung, die offensichtlich nicht anders
gehandhabt werden können als durch die Verwendung sich teils
widersprechender Symbole. Pädagogische
Brückenschläge zwischen Lehrenden und Lernenden –
beispielsweise in der Erwachsenenbildung – sind deshalb so
komplex, weil sie oft durch die Integration der umrissenen
paradoxen Anteile geprägt sind: Zum einen findet eine
Selbstbildung statt, zum anderen folgt die Gestaltung einem
inneren Bilde, das es herauszuarbeiten gilt. Als ein weiterer
Faktor können äußere Einflüsse angesehen
werden, um im Bilde zu bleiben: z. B. die Art und
Qualität der Werkzeuge oder das Atelier, die Werkstatt oder
die freie Natur, in der gemeißelt wird. Eine möglichst
klare, nicht mit sprachlichen Bildern operierende,
widerspruchsfreie Sprache in der Pädagogik bedeutet aber noch
lange nicht, dass diese Widersprüche damit in der Praxis
nicht vorhanden wären. Deshalb ist zunächst weder in der
Theorie noch in der Praxis die einfache Komplexitätsreduktion
gefordert. Nicht das "Entweder-Oder“ hilft hier weiter,
sondern das "Sowohl-Als auch“ und die Reflexivität in
der Wahrnehmung. Man sollte also darauf achten, welcher Sprache
man sich selbst bedient, wenn man über pädagogische
Vorgänge spricht.
Ästhetik und Wahrnehmung
Die dargelegten
Zusammenhänge verweisen uns auf ästhetische Anteile des
Fundaments von Bildung. Was aber heißt
"ästhetisch“? In seiner weitesten Bedeutung bezeichnet
Ästhetik – abgeleitet vom griechischen
"aisthesis“, was mit "sinnlicher Wahrnehmung“ zu
übersetzen ist – die Lehre von der Wahrnehmung und der
Sinnlichkeit. Ästhetisch ist also alles, was unsere Sinne
anregt und in uns Empfindungen und Gefühle hervorruft.
Ästhetisch sind somit keinesfalls nur schöne und
angenehme Empfindungen. In der Antike differenzierte man zwischen
sinnlichen Erkenntnissen und logischen Unterscheidungen. Im 18.
Jahrhundert wurde mit dem philosophischen Zweig der Ästhetik
eine kritische Gegenposition zum Rationalismus der Aufklärung
begründet. Danach wurde unter Ästhetik die Philosophie
der Kunst verstanden. Als ästhetisch gelten in diesem engeren
Sinne nur Kunstwerke. Doch das Verständnis dessen, was ein
Kunstwerk ist, erweitert sich beständig. Eine Engführung
des Ästhetischen auf Kunst entspricht zudem nicht seinen
ursprünglichen antiken Wurzeln. "Insofern kann man zum
Bereich des Ästhetischen im weitesten Sinne die gesamte Welt
der Kunst, der Medien, des Designs, der Umweltgestaltung etc.
zählen.“ (Lehnerer 1989/1993, S. 38). Der Begriff der
Ästhetik ist nicht nur hierdurch im wahrsten Sinne des Wortes
"schillernd“, denn es war Friedrich Schiller, der in seiner
Schrift "Über die ästhetische Erziehung des
Menschen in einer Reihe von Briefen“ (Schiller 1795/ 1948) die
Bildungstheorie nachhaltig bis heute beeinflusste, indem der die
Bedeutung der ästhetischen Aspekte von Bildung und Lernen
herausarbeitete (Kahl 1997, S. 123ff.). Unser Verständnis von
Ästhetik wird – salopp gesagt – immer
"flimmernder“, denn es sind die digitalen Medien mit ihren
vornehmlich visuellen Anteilen, die uns ästhetisch
prägen.
Ästhetische Bildung
In unserer Gesellschaft sind
vielfältige Anzeichen vorhanden, dass die Wahrnehmung und das
Denken die ihnen nach mehrtausendjähriger Tradition
zukommenden Rollen vertauscht haben. Ob das Denken gegenüber
der Wahrnehmung das höhere Vermögen ist, kann als nicht
mehr gesichert gelten. "Es ist heutzutage nichts billiger,
als sich im Begrifflichen zu bewegen, Bescheidwissen, Meinungen
‚vertreten‘, Denken, Lesen, Reden, Diskutieren – alles
das erfordert nicht die geringste Mühe, es vollzieht sich von
selbst … Genau hinzusehen, das Empfindbare abzutasten wird zu
einer selteneren Leistung, die sich der Klugheit nähert,
welche ja das Unformulierte abzuhören vermag.“ (Wulf 1991, S.
16) Solche Überlegungen zum Verhältnis von Denken und
Sinnlichkeit besitzen ihre Aktualität nicht nur im Kontext
von "Bescheidwissen, Meinungen ‚vertreten'“ in Bezug auf
Worte und Sprache, sondern inzwischen immer verstärkter in
Hinblick auf Bilder. Fast explosionsartig hat sich die Produktion
und Rezeption von Bildern vermehrt. Via Sateliten werden Bilder
nicht mehr nur durch die Fernsehkanäle sekundenschnell rund
um den Globus verbreitet, sondern mehr und mehr durch das
Internet. Wer das Bild von etwas gesehen hat, glaubt einen
Vorgang, ein Ereignis verstanden zu haben und Bescheid zu wissen.
Der Mühe einen Text, eine Nachrichtenmeldung zu lesen, ein
Bild analysierend zu betrachten muss man sich nicht unterziehen,
um mitreden zu können. Die Bedeutung der Ereignisse schwindet
angesichts der von diesen Ereignissen scheinbar berichtenden
Bilder, denn ein Ereignis gewinnt erst Aufmerksamkeit, wenn es im
Bild festgehalten ist. "Die Inflation der Bilder bewirkt
Formen mechanisierter, stereotyper Wahrnehmungen. Man erfaßt
lediglich noch den Informationsgehalt der Bilder und ist
unfähig zu einer Auseinandersetzung mit ihrem bildlichen
Gehalt.“ (Wulf 1991, S. 16) Das Gesagte lässt folgenden
Schluss zu: Angesichts der steigenden Abstraktionen und
Entsinnlichungen im Alltag sowie der Verbildlichung von
Informationen und der Welt an sich kommt einer Förderung der
Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen, der Aisthesis
erhöhte Bedeutung zu. Dies ist heute Hauptaufgabe von
ästhetischer Bildung, gerade auch mittels der digitalem
Medien (Thiedeke 2000). Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen
lassen sich nicht nur an der Kunst schulen und entwickeln, sondern
an allen sinnlich erfahrbaren Phänomenen (Stang/ Peez
u. a. 1998, S. 16ff.). Freilich kommt der Kunst eine zentrale
Rolle innerhalb ästhetischer Bildung zu, weil sie häufig
gerade sinnliche Wahrnehmungs- und Erkenntisprozesse thematisiert
und in ihren Mittelpunkt stellt. Auch macht die Kunst durch ihre
Diskursbedürftigkeit deutlich, was allgemein gelten kann:
Rationalität und Sinnlichkeit sind keine Gegensätze, sie
lassen sich nicht gegeneinander ausspielen, denn ästhetische
Bildung ist ein geistiger Prozess, der ohne rationale Elemente
nicht möglich wäre. Und wechselseitig basieren rationale
Vermögen auf der Sinnlichkeit, wie etwa die kognitive
Entwicklungspsychologie nachwies.
Das Ästhetische
lässt sich jedoch nicht in den Bereich der kulturellen oder
ästhetischen Bildung abschieben, sondern die Entwicklung der
Sinne, der Empfindungsfähigkeit ist eine zentrale Aufgabe von
Bildung überhaupt. Doch ästhetische Bildung zielt auf
die Bildung der Aisthetis, der reflexiven Wahrnehmungs- und
Empfindungsfähigkeit, gebunden an die Fernsinne Auge und Ohr,
an die Nahsinne Tasten, Riechen, Schmecken sowie an den
Gleichgewichtssinn.
Ästhetische Erfahrungen
Der Kern ästhetischer
Bildung sind ästhetische Erfahrungen. Ästhetische
Erfahrungen lassen sich sowohl rezeptiv als auch produktiv machen,
d. h. sowohl in der Wahrnehmung ästhetischer Objekte und
Phänomene als auch im eigenen Gestalten, sei es bildnerisch,
musikalisch, dichterisch oder darstellerisch.
"Ästhetische Erfahrung bezieht sich nicht auf
Kunsterfahrung, sondern ist ein Modus, Welt und sich selbst im
Verhältnis zur Welt und zur Weltsicht anderer zu erfahren“
(Otto 1994, S. 56) Ästhetische Bildung ist ohne authentische
ästhetische Erfahrungen nicht denkbar und möglich. Was
aber sind ästhetische Erfahrungen?
Ästhetische Erfahrungen
lassen sich produktiv und rezeptiv im Alltag "in Ereignissen
und Szenen“ machen, "die das aufmerksame Auge und Ohr des
Menschen auf sich lenken, sein Interesse wecken und, während
er schaut und hört, sein Gefallen hervorrufen“ (Dewey 1934/
1980, S. 11), so der US-amerikanische Philosoph und Pädagoge
John Dewey in seiner Sammlung von Vorlesungstexten aus dem Jahre
1934 "Art as Experience“ (Dewey 1934/ 1980). Auf diese
Grundaussagen Deweys beziehen sich in der kulturellen Bildung
Tätige heute häufig. Ästhetische Erfahrungen
können als Erfahrungen der Diskontinuität, der Differenz
zu bisher Erlebtem gelten. Dewey war einer der führenden
Köpfe des philosophischen Pragmatismus‘, weshalb er auch
gegen das Primat der "Nutzlosigkeit“ ästhetischer
Erfahrung in der philosophischen, an Kunsterfahrung ausgerichteten
Ästhetik argumentierte. Menschliches Wahrnehmungsverhalten
und menschliche Erfahrung sei nie von Nutzlosigkeit geprägt,
so Dewey, sondern immer interessengeleitet (Dewey 1934/ 1980, S.
11). Wichtige Strukturmomente von ästhetischer Erfahrung
sind:
(1) Überraschung: Zwar
beginnen Erfahrungen mit unmittelbaren Sinneseindrücken, doch
kann nicht schon jede sinnliche Wahrnehmung als eine Erfahrung
gelten. Ästhetische Erfahrungen macht man da, wo etwas
Widerständiges und Unerwartetes eintritt, dessen man sich mit
Hilfe der Sinne gewahr wird. Ästhetische Erfahrungen geben
somit im ästhetischen Reiz in Verbindung mit der Aufnahme
überraschender Eindrücke Anlass zu Korrekturen
bisheriger Annahmen von Wirklichkeit (Duncker 1999, S. 11).
(2) Genuss: Weiteres
Strukturelement ästhetischer Erfahrung ist das Staunen und
hiermit verbunden der Genuss. In diesem Sinne umfasst
ästhetische Erfahrung einen komplexen Spannungsbogen, der von
der Überraschung über die genussvolle Identifikation,
die Einsicht einer spielerischen Distanz zur Wirklichkeit bis hin
zur Erkenntnis des Neuen reicht. Ästhetische Erfahrung
lässt neu erleben und bereitet mit dieser entdeckenden
Funktion "den Genuß erfüllter Gegenwart“ (Duncker
1999, S. 15).
(3) Ausdruck im kulturellen
Kontext: Einen offenen Abschluss von Erfahrungsprozessen bilden
Resultate von verarbeiteten ästhetischen Erfahrungen, in
objektiv greifbaren, manifesten Darstellungen, etwa in
ästhetischen Objekten bzw. Kunstwerken. Ästhetische
Erfahrungen lassen sich eben nicht authentisch in Erklärungen
und minutiösen Interpretationen vermitteln, sondern
vornehmlich durch ästhetische Ausdrucksformen. In den
vielfältigsten Ausdrucks- und Gestaltungsformen kann sich
ästhetische Erfahrung mitteilen. Diese Ausdrucksformen sind
freilich kulturell geprägt und in sozialen Kontexten
eingebettet. Jüngere Erwachsene machen andere
ästhetische Erfahrungen und entwickeln dementsprechend auch
andere ästhetische Ausdrucksformen. Die Verwobenheit von
Kulturaneignung und Kulturproduktion ist kennzeichnend für
ästhetische Erfahrungen (Duncker 1999, S. 16f.).
Ihre Beziehung zur bildenden
Kunst ist demnach für die Kulturelle Bildung zwar zentral,
aber nicht allgegenwärtig. Ästhetische Erfahrungen sind
nicht das Mittel zum Zweck der Kunsterfahrung. Ästhetischen
Erfahrungen kommt ein Wert an sich zu. Aber Kunsterfahrung
– so Dewey – ist ohne zuvor erfolgte
ästhetische Erfahrungen im Alltag nicht möglich (Dewey
1934/ 1980, S. 11). Unser Wahrnehmungsverhalten bildet sich
mitgängig und muss deshalb auch im Erwachsenenalter
thematisiert und geschult werden. Ästhetische Erfahrungen und
Empfindungen erleben zu können, ist ein Teil unserer
nötigen "Grundausstattung“, so der Kunstpädagoge
Gert Selle. Sie werde von Künstlerinnen und Künstlern
lediglich intensiver genutzt und sensibler entwickelt. "Das
Empfinden ist die gemeinsame Quelle oder der noch unbearbeitete
Erfahrungsgrund, auf den sich Laien und Künstler berufen
können. Nur muß zum Empfinden die Wahrnehmung, zu
beiden verbundenen Tätigkeiten das Gestalten treten, das ein
Empfundenes und Wahrgenommenes auf besondere Weise
weiterverarbeitet. Dies ist eine ‚Methode‘, ein von allen
begehbarer Weg, ästhetische Erfahrung zu gewinnen.“ (Selle
1988, S. 30) In diesem Sinne ist bildnerisches Gestalten im
Bereich der kulturellen Erwachsenenbildung als prozessual
verstandenes Dingfestmachen von Erfahrung anzusehen. Zugleich
sollte ästhetische Erfahrung innerhalb der Kulturellen
Bildung auch von Reflexionen begleitet sein, denn sonst besteht
die Gefahr einer an reiner Sinnlichkeit orientierten
Selbstgerechtigkeit.
Ästhetische Bildung unter zweifacher Orientierung
Deshalb ist die
ästhetische Erfahrung und mit ihr die ästhetische
Bildung durch zwei Hälften ein und derselben Medaille
gekennzeichnet: Zum einen sollte sie auf die sinnlichen Anteile
der Wahrnehmungen und Empfindungen gerichtet sein. Zum anderen
sollten dem Spüren und Erfahren Sinn gegeben werden; es geht
um Erkunden, Ins-Bewusstsein-Rufen, Auslegen und Deuten. Erst wenn
wir uns einer sinnlichen Wahrnehmung bewusst werden, wenn wir ihr
gewahr werden, wenn wir die Wahrnehmung mit anderen Wahrnehmungen
und Empfindungen in Beziehung setzen und auslegen, dann verhalten
wir uns nicht nur sinnlich, sondern ästhetisch. "Dieses
‚Sinnbewusstsein‘ muss nicht auf den Begriff gebracht werden“
(Sievert-Staudte 1998, S. 25), es sollte aber reflexiv bewusst
sein.
"Meine Wahrnehmung ist wacher … geworden“
Abschließend sollen
die zuvor genannten komplexen Zusammenhänge an einem Zitat
einer Teilnehmerin meiner Mal- und Zeichenkurse verdeutlich und
zugleich von der Aneignungsseite her unkommentiert dargestellt
werden. Frau Z. (45 Jahre, Ergotherapeutin) schrieb:
„Ich nehme mir Zeit für
meine Bilder, und stelle mir viele Fragen, z.B. in Zusammenhang
mit dem Motiv. Ich frage mich, warum ich ausgerechnet diesen
Gegenstand, Tier oder Landschaft ausgesucht habe. Welche
Gefühle kommen mir dabei hoch? Welche Assoziationen kommen
mir spontan in den Sinn? Es gibt Bilder, die ich nicht mag, die
ich ablehne. Dabei versuche ich herauszukriegen: Was mag ich
nicht? , z.B. ein Landschaftsbild mit einem See. In dem See
möchte ich weder schwimmen noch tauchen. Plötzlich
werden mir Ängste bewußt, die ich zu klären
versuche. Meistens bespreche ich es mit einer guten Freundin oder
Kollegin. Dabei entstehen wunderbare Gespräche, die uns
beiden viel Befriedigung oder Klarheit geben, oder aber auch
wieder weitere Fragen entstehen. Allgemein setze ich mich viel
intensiver mit mir selbst auseinander, aber auch mit Menschen um
mich herum. Meine Wahrnehmung ist wacher, intensiver,
differenzierter geworden, was sich auch in meinem Beruf
spiegelt.“
Kulturelle Bildung geht
davon aus, dass im Alltag gerade von Erwachsenen und in deren
Sozialisation nicht genügend Situationen geboten werden, in
denen ästhetische Erfahrungen in den angesprochenen
Dimensionen in ausreichendem Maße und tief greifend zu
machen sind; ästhetische Erfahrungen, die auch grundlegend
für Bildungsprozesse sind. Für die Entwicklung
kritischer, selbstkritischer und selbstbestimmter
ästhetischer Entscheidungen "sind andere Impulse,
Gegenerfahrungen, Irritationen und Vergleichsmöglichkeiten
erforderlich“ (Sievert-Staudte 1998, S. 26). Diese Impulse sind im
Bereich der ästhetischen und kulturellen Bildung zu geben.
Literatur
Dewey, J.: Kunst als Erfahrung, 1934. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1980Duncker, L.: Begriff und Struktur ästhetischer Erfahrung. In: Neuß, Norbert (Hg.): Ästhetik der Kinder. Frankfurt a. M. (GEP Verlag) 1999, S. 9-19
Kahl, I.: Der Bildungswert von Mal- und Zeichenkursen. Empirisch ermittelte Selbsteinschätzungen der Beteiligten und historische Beispiele. Frankfurt a. M. (Deutsches Institut für Erwachsenenbildung) 1997
Kamper, D.: Bild. In: Wulf, Chr. (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim (Beltz) 1997, S. 589-595
Lehnerer, Th.: Ästhetische Bildung, 1988. In: Staudte, Adelheid (Hg.): Ästhetisches Lernen auf neuen Wegen. Weinheim (Beltz) 1993, S. 38-43
Otto, G.: Das Ästhetische ist "Das Andere der Vernunft“. Der Lernbereich Ästhetische Erziehung. In: Friedrich Jahresheft 1994, S. 56-58
Peez, G.: "Ich möchte Nebel malen lernen“. Theorieelemente erfahrungsoffenen Lernens in der kunstpädagogischen Erwachsenenbildung. Frankfurt a. M. (Dipa Verlag) 1994
Peez, G.: Bildung und Bilder: „Mythologic turn“ im Zeichen virtueller Komplexität? In: Zacharias, W. (Hg.): Interaktiv. Im Labyrinth der Möglichkeiten. Remscheid (BKJ) 1997, S. 139-150
Schiller, F.: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1793/1795). Krefeld (Scherpe) 1948
Selle, G.: Gebrauch der Sinne. Eine kunstpädagogische Praxis. Reinbek (Rowohlt) 1988
Sievert-Staudte, A.: Ästhetisches Lernen. In: Haarmann, Dieter (Hg.): Wörterbuch Neue Schule. Weinheim (Beltz) 1998, S. 22-27
Stang, R./ Peez, G. u. a.: Kursleitung Kulturelle Bildung. Frankfurt a. M. (Deutsches Institut für Erwachsenenbildung) 1997
Thiedeke, U. (Hg.): Kreativität im Cyberspace. Wiesbaden (Westdeutscher Verlag) 2000
Wulf, Chr.: Mimesis in der ästhetischen Bildung. In: Kunst+Unterricht, Heft 151/1991, S. 16-18
Bibliografische Angaben zu diesem Text:
Peez, Georg: Meißeln an sich selber. Ästhetische Bildung Erwachsener. In: Erwachsenenbildung. Vierteljahresschrift für Theorie und Praxis, 2 / 2001, S. 64 – 68