Ästhetische Erfahrung

Strukturelemente und Forschungsaufgaben im erwachsenenpädagogischen Kontext

Georg Peez

Die Kunst (Anm. 1) konfrontiert sowohl die Pädagogik als auch die Erwachsenbildung (Anm. 2) mit der Frage, wie und ob sich Kunst überhaupt vermitteln lässt (Anm. 3). Denn die Möglichkeit einer Vermittlung von Kunst, einer Vermittlung dessen, was die Kunst zur Kunst macht, wird im Kontext der kulturellen Erwachsenenbildung zunehmend angezweifelt – vor allem von wissenschaftlicher Seite her, aber auch mit einem Widerhall in der Erwachsenenbildungspraxis als Handlungsfeld (Handschuh 2001, S. 58ff.; Stang u.a. 1998, S. 14ff.). Vergleichbares gilt für die Kunstpädagogik (Ehmer 1994; Selle 1995). Bezogen auf das Bildnerische geschieht der Umgang mit künstlerischen Ausdrucksweisen in der Praxis der Erwachsenenbildung auf dem Wege des eigenen Gestaltens, der schöpferischen Produktion sowie auf dem Wege der Kunstbetrachtung, der Rezeption.

Was sich allerdings – in Bezug auf die schöpferische, ästhetische Produktion – vermitteln lässt, sind bildnerische Arbeitsverfahren: beispielsweise der Umgang mit Farbe, Wasser und Pinsel beim Aquarellieren, unterschiedliche Formen des Farbauftrags auf eine Leinwand oder die Nutzung der Werkzeuge eines digitalen Bildbearbeitungsprogramms. In früheren Jahrhunderten waren die Vermittlung von künstlerischen Techniken – auch die Anwendung von Hilfsmitteln und ‚Tricks‘, wie etwa das Spannen von Gitternetzen zur perspektivischen Darstellung – mit Kunstlehre identisch. Denn wer mit bestimmten Materialien, wie Ölfarbe oder Marmor gestaltend umging, war zugleich meist ganz selbstverständlich künstlerisch tätig. Wer dieses Können verfeinerte und weiterentwickelte, schuf Kunst (Anm. 4). Für die Gegenwart kann dies nicht mehr behauptet werden. Heute ist "Theoriearbeit" (Lehnerer 1994, S. 7) unverzichtbar. Denn "was nicht selbstverständlich ist, bedarf im Umgang der Klärung. Theoriearbeit gehört daher zur künstlerischen Arbeit. Wo der Künstler in seiner Arbeit keine allgemeinverbindliche Rückbindung (…) mehr hat, da muß er versuchen, sie – durch Selbstdenken – neu zu schaffen" (Lehnerer 1994, S. 7). Die vielen am und im Umkreis des Bauhauses entstandenen Künstlerlehren sind Beispiele für diese Theoriearbeit. Doch ist Theoriearbeit wirklich so grundsätzlich wichtig? Schließlich verweigern sich nicht wenige zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler diesem Diktum, teils mit bissiger Ironie, wie Gerhard Richter, der bewusst stillose Grenzgänger zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit. Eine noch konsequentere Verweigerungshaltung gegen die Klärung des künstlerischen Schöpfungsprozesses zeigte der Maler Sigmar Polke, als er einem seiner Bilder sarkastisch den Titel gab: "Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!"

In Bezug auf die Rezeption von Kunstwerken findet die Auffassung immer mehr Zustimmung, Kunst – das, was sie als Kunst auszeichne – lasse sich nicht kognitiv, etwa aufgrund von Analysen oder Deutungen, verstehen. Bereits Mitte der Sechzigerjahre begründete Susan Sontag ihren Standpunkt "Gegen Interpretation": "Eine Interpretation, die von der höchst zweifelhaften Theorie ausgeht, daß ein Kunstwerk aus inhaltlichen Komponenten zusammengesetzt ist, tut der Kunst Gewalt an. Sie macht die Kunst zum Gebrauchsgegenstand, der sich in ein geistiges Schema von Kategorien einordnen läßt." (Sontag 1964/ 1968, S. 15) "Interpretation", so formuliert sie, "ist die Rache des Intellekts an der Kunst." (ebd., S. 13) Das, was die Kunst zur Kunst mache, ließe sich weder verstehen noch erklären.

Man kann zwar historische und kulturelle Kontexte, in denen ein Kunstwerk geschaffen wurde, erhellen. Es lassen sich mittels unterschiedlicher Verfahren der Kunstanalyse zunächst verborgen gebliebene Aspekte eines Werkes entdecken. Selbstverständlich lässt sich Kunst auslegen und deuten. Die Aneignung des genuin Künstlerischen geschieht aber offenbar auf einem anderem Wege als durch elaborierte Interpretation. Ein Kunstwerk und dessen Wirkung durch Deutung erklären zu wollen, bleibt – provokativ durch den Kunstpädagogen Gert Selle formuliert – "nur Herumgerede", "so schlau es auf den ersten Blick erscheinen und so geordnet das systematische Vorgehen auch gewesen sein mag" (Selle 1995, S. 17). Im ästhetischen Diskurs ist Kunst in diesem Sinne ein autonomes selbstreferenzielles Phänomen.

Ulrich Oevermann ist ebenfalls dieser Auffassung; er geht "gewissermaßen wie selbstverständlich von der Voraussetzung der Autonomie des Werkes aus, durchaus in Kenntnis der vielen Argumente, die heute dagegen mobilisiert werden, m.E. zu Unrecht. Zunächst einmal folgt aus dieser bisher eingeführten Autonomie, daß sie auch darin besteht, daß ein Kunstwerk nicht durch eine Art Gebrauchsanweisung oder didaktische Hinführung dem Rezipienten nahe gebracht werden muß. In dem Maße nämlich, in dem das nötig wäre, hätte das Kunstwerk an Autonomie eingebüßt." (Oevermann 1996, S. 24) "Gebrauchsanweisungen zum sogenannten Lesen der Werke sind zugleich Vorbereitungen zu deren Hinrichtung." (ebd.)

Gegenüber allgegenwärtigen gesellschaftlichen, auch pädagogischen Nutzungs- und Verwertungsprozessen wird durch diese Sichtweise möglicherweise ein theoretisches bzw. wissenschaftlich begründetes Refugium für die Kunst geschaffen (Boehm 1990), das sie aus anderem Blickwinkel betrachtet, schon lange nicht mehr hat. Denn gerade aus der Kunstpraxis heraus sind Entwicklungen zu konstatieren, die die wissenschaftlich legitimierte Autonomie der Kunst in Frage stellen, bewusst untergraben und sich gegenüber anderen gesellschaftlichen Teilbereichen öffnen. Solche Entgrenzungen zwischen Kunstpraxis und pädagogischen Interaktionen finden von beiden Seiten ausgehend statt. Uneindeutige Mischungen (Kade 1997, S. 68f.) entstehen (Peez 1999). Beispiel für eine solche uneindeutige Mischung ist, dass professionelles Tun von Künstlerinnen und Künstlern sich von der Bereitstellung von ‚Werken‘, etwa in Ausstellungen, verlagert zum Angebot für Menschen, die selbst bildnerisch tätig werden möchten. So beleben Künstlerinnen und Künstlern die aktuelle Kunstszene mit Handlungsformen, die sozial- oder kunstpädagogische Merkmale aufweisen, wie etwa Christine und Irene Hohenbüchler, die mit Menschen in Heimen oder Justizvollzugsanstalten gemeinsam künstlerisch tätig sind (documenta 1997, S. 770ff.).

Die Problematik ist umrissen. Das Dilemma ist formuliert: Vermittlung wird vielfach nicht mehr als eine dem Phänomen Kunst angemessene Kategorie angesehen. Und der inhaltliche Kern möglicher Kunstvermittlung ist nicht reflexiv verfügbar. Die Herausforderung an die Pädagogik in Wissenschaft und tagtäglicher sozialer Realität zeichnet sich daraufhin in der Beantwortung der Frage ab: Wie lässt sich die Nicht-Vermittelbarkeit der Kunst überzeugend und gegenstandsgerecht, d. h. ‚kunstgerecht‘ vermitteln?
Doch mit einer bewussten Dezentrierung des Aufmerksamkeitsfokus‘ möchte ich im Folgenden nicht die Herausforderungen der Vermittlung, sondern Prozesse der Aneignung – im Speziellen Prozesse der Aneignung ästhetischer Erfahrung – in den Mittelpunkt rücken.

Ästhetische Erfahrung

Ein zentrales Merkmal der Bildung des Erwachsenen – nicht nur in Hinblick auf Kultur und Kunst – sind ästhetische Erfahrungen. Ästhetische Erfahrungen lassen sich sowohl rezeptiv als auch produktiv machen, d. h. sowohl in der Wahrnehmung von Objekten und Phänomenen als auch im eigenen Gestalten, sei es bildnerisch, musikalisch, dichterisch oder darstellerisch. "Ästhetische Erfahrung bezieht sich nicht auf Kunsterfahrung, sondern ist ein Modus, Welt und sich selbst im Verhältnis zur Welt und zur Weltsicht anderer zu erfahren." (Otto 1994, S. 56) Bildung ist ohne authentische ästhetische Erfahrungen nicht denkbar und möglich. Und Oevermann sagt, dass ästhetische Erfahrung "als solche die Basis jeglicher Erkenntnis, vor allem aber jeglicher Erfahrungserweiterung und -modifikation bildet" (Oevermann 1996, S. 15). Was aber sind ästhetische Erfahrungen?

Ästhetische Erfahrungen lassen sich produktiv und rezeptiv im Alltag "in Ereignissen und Szenen" machen, "die das aufmerksame Auge und Ohr des Menschen auf sich lenken, sein Interesse wecken und, während er schaut und hört, sein Gefallen hervorrufen" (Dewey 1934/ 1980, S. 11), so der US-amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey in seiner Sammlung von Vorlesungstexten "Art as Experience" aus dem Jahre 1934 (Dewey 1934/ 1980). Auf diese Grundaussagen Deweys beziehen sich in der kulturellen Bildungspraxis Tätige heute häufig. Dewey nennt u.a. beispielhaft das Behagen, das man empfindet, wenn man ein Feuer entfacht "und dabei die hochschießenden Flammen und die zerfallene Glut betrachtet." (ebd., S. 11) Ein Mensch, der dieses Feuer entzündete und schürt, würde – nach dem Sinn seiner Tätigkeit befragt – evtl. zur Antwort geben, dass "das Feuer besser brenne. Von dem sprühenden Farbenspiel, das vor seinen Augen abläuft, ist er indessen nicht weniger fasziniert, und seine Phantasie nimmt daran lebhaften Anteil. Er bleibt also kein kühler Beobachter." (ebd., S. 11) Das völlige Involviertsein in eine Tätigkeit in Verbindung mit der Faszination, die vom Wahrnehmungsakt innerhalb dieser Tätigkeit selbst ausgeht, kennzeichnet die ästhetische Erfahrung.

Ein zweites Beispiel entfaltet Ulrich Oevermann: "Wer nachts auf einen hohen Berg biwakiert, kann gar nicht anders, als in den außerordentlich klaren Sternenhimmel zu schauen und er wird dabei selbst dann, wenn er über ein reichhaltiges naturwissenschaftlich fundiertes Vorwissen von der Astrophysik verfügen und darunter das Sichtbare differenziert subsumieren können sollte, nicht verhindern können, sich in ein durchaus krisenhaftes Erschauern über die Weite des Kosmos und die Unendlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes zu verlieren, ja mit einem Winzigkeitsgefühl geradezu darin zu verschwinden." (Oevermann 1996, S. 8) Oevermann geht es hier um "ein Handeln, das in nichts als Wahrnehmen besteht, dessen Zielgerichtetheit sich in der Wahrnehmung von etwas erschöpft" (ebd. S. 1). In dieser bloßen Wahrnehmung, in der die ästhetische Erfahrung entsteht, "lassen wir ein gegenüberstehendes Anderes, eine Welt ganz auf uns wirken, nehmen wir sie neugierig ganz in uns auf, schmiegen wir uns dem anderen ganz an, öffnen wir uns für Neues, für bis dahin Undenkbares, Unvorstellbares, selbst dann, wenn es sich um ganz vertraute Gegenstände handelt." (ebd., S. 2)

Ästhetische Erfahrungen können als Erfahrungen der Diskontinuität, der Differenz zu bisher Erlebtem gelten, in denen wir uns zugleich im Wahrnehmungsakt als Objekt unserer Wahrnehmung gewahr werden. Dewey war einer der führenden Köpfe des philosophischen Pragmatismus‘, weshalb er gegen das Primat der "Nutzlosigkeit" ästhetischer Erfahrung in der philosophischen, an Kunsterfahrung ausgerichteten Ästhetik argumentierte. Menschliches Wahrnehmungsverhalten und menschliche Erfahrung sei nie von Nutzlosigkeit geprägt, sondern immer interessengeleitet (Dewey 1934/ 1980, S. 11). Dies gilt auch angesichts der Tatsache, dass Erfahrungsprozesse nicht vorausbestimmbar und planbar sind. Im Wechselspiel zwischen Subjekt und Objekt gewinnen wir zudem "Interesse an unserer Interesselosigkeit" (Wulf 1997, S. 1125), wie Christoph Wulf die innere Motivation für ästhetische Erfahrungsmomente formuliert.

Wichtige Strukturmomente von ästhetischer Erfahrung sind:

(1) Überraschung: Zwar beginnen Erfahrungen mit unmittelbaren Sinneseindrücken, doch kann nicht schon jede sinnliche Wahrnehmung als eine Erfahrung gelten. Ästhetische Erfahrungen macht man da, wo etwas Widerständiges und Unerwartetes eintritt, dessen man sich mit Hilfe der Sinne gewahr wird. Ästhetische Erfahrungen geben somit im ästhetischen Reiz in Verbindung mit der Aufnahme überraschender Eindrücke Anlass zu Korrekturen bisheriger Annahmen von Wirklichkeit (Duncker 1999, S. 11). Simuliert oder inszeniert man bezogen auf einen pädagogischen Kontext, eingebettet in "selbstgenügsame Wahrnehmungshandlungen" (Oevermann 1996, S. 5) der Muße, gewisse "Krisen" (ebd., S. 10), dann trifft "genau das" den "Grundmodus ästhetischer Erfahrung" (ebd.). Der einzelne begibt sich freiwillig in die gewissermaßen potenziell zur Überraschung / Krise sich öffnende Kontemplation.

(2) Genuss: Weiteres Strukturelement ästhetischer Erfahrung ist das Staunen und hiermit verbunden der Genuss (Wulf 1997, S. 1125). In diesem Sinne umfasst ästhetische Erfahrung einen komplexen Spannungsbogen, der von der Überraschung über die genussvolle Identifikation, die Einsicht einer spielerischen Distanz zur Wirklichkeit, bis hin zur Erkenntnis des Neuen reicht. Ästhetische Erfahrung lässt neu erleben und bereitet mit dieser entdeckenden Funktion "den Genuß erfüllter Gegenwart" (Duncker 1999, S. 15), wie er etwa im Betrachten des nächtlichen Firmaments zu spüren ist. Häufig, aber keinesfalls immer, ist diese "eigene Lusterfahrung" (Oevermann 1996, S. 36) an das gebunden, was man zuweilen als Schönheit oder Wohlgestaltetheit bezeichnen würde. Eine solche Empfindung kann freilich u.a. historisch-kulturell determiniert sein. Jüngere Erwachsene haben beispielsweise ein anderes, auf Wahrnehmbares gerichtetes Empfinden als ältere. Die Einschätzung von Schönheit kann zudem auf physischen bzw. physiologischen Grundlagen beruhen, wie etwa die Chaosforschung anhand des Phänomens des "Goldenen Schnitts" nachwies (Cramer/ Kaempfer 1992, S. 264ff.).

(3) Ausdruck im kulturellen Kontext: Einen offenen Abschluss von Erfahrungsprozessen können Resultate von verarbeiteten ästhetischen Erfahrungen, in objektiv greifbaren, manifesten Darstellungen, etwa in ästhetischen Objekten oder auch Kunstwerken bilden. Ästhetische Erfahrungen lassen sich eben nicht authentisch in Erklärungen und minutiösen Interpretationen vermitteln, sondern vornehmlich durch ästhetische Ausdrucksformen. Ästhetische Erfahrung kann in den vielfältigsten Ausdrucks- und Gestaltungsformen geklärt und mitgeteilt werden. Diese Ausdrucksformen sind freilich kulturell geprägt und in sozialen Kontexten eingebettet. Auch hier gilt: Jüngere Erwachsene machen andere ästhetische Erfahrungen und entwickeln dementsprechend auch andere kulturelle Ausdrucksformen als ältere. Die Verwobenheit von Kulturaneignung und Kulturproduktion ist kennzeichnend für ästhetische Erfahrungen (Duncker 1999, S. 16f.). In jedem auf diese Weise aus einer oder mehreren ästhetischen Erfahrungen heraus entstandenen ästhetischen Objekt bzw. Kunstwerk ist somit "eine Krise der Abweichung und des Ausgesetzt-Seins enthalten, die zugleich in der Erfahrungsartikulation eine Lösung erfährt" (Oevermann 1996, S. 40). Ausdruck im kulturellen Kontext bedeutet immer auch, dass ein so geschaffenes Werk nicht zusammenhanglos für sich entsteht, sondern, dass es an bisherige Kulturphänomene, z.B. Kunst anschließt, sich hierauf bezieht. Auch ein ablehnendes Verhalten ist ein solcher Bezug.

Verarbeitung ästhetischer Erfahrung unter zweifacher Orientierung

Ihre Beziehung zur Kunst ist demnach für die kulturelle Erwachsenenbildung in Wissenschaft und Praxis (vgl. Anm. 2) zwar zentral, aber nicht allgegenwärtig. Ästhetische Erfahrungen sind nicht das Mittel zum Zweck der Kunsterfahrung. Ästhetischen Erfahrungen kommt ein Wert an sich zu, der weit über die Kunsterfahrung hinausgeht. Und Kunsterfahrung – so Dewey – ist ohne zuvor erfolgte ästhetische Erfahrungen im Alltag nicht möglich (Dewey 1934/ 1980, S. 10ff.). Unser Wahrnehmungsverhalten bildet sich mitgängig aus und kann deshalb auch im Erwachsenenalter thematisiert und geschult werden. Ästhetische Erfahrungen erleben zu können, ist ein Teil unserer nötigen "Grundausstattung", so der Kunstpädagoge Gert Selle. Sie werde von Künstlerinnen und Künstlern lediglich intensiver genutzt und sensibler entwickelt. "Das Empfinden ist die gemeinsame Quelle oder der noch unbearbeitete Erfahrungsgrund, auf den sich Laien und Künstler berufen können. Nur muß zum Empfinden die Wahrnehmung, zu beiden verbundenen Tätigkeiten das Gestalten treten, das ein Empfundenes und Wahrgenommenes auf besondere Weise weiterverarbeitet. Dies ist eine ‚Methode‘, ein von allen begehbarer Weg, ästhetische Erfahrung zu gewinnen." (Selle 1988, S. 30) In diesem Sinne ist schöpferisches Gestalten im Bereich der kulturellen Erwachsenenbildung als prozessual verstandenes Dingfestmachen von vorwiegend ästhetischen Erfahrungen anzusehen. Zugleich sollte ästhetische Erfahrung innerhalb der Bildungsprozesse auch von Reflexionen begleitet sein, denn sonst besteht die einseitig an reiner Sinnlichkeit orientierte Empfindsamkeit.

Deshalb ist die ästhetische Erfahrung und mit ihr die ästhetische (Selbst-) Bildung durch zwei Hälften ein und derselben Medaille gekennzeichnet: Zum einen sollte sie auf die sinnlichen Anteile der Wahrnehmungen und Empfindungen gerichtet sein. Zum anderen sollten dem Spüren und Erfahren Sinn gegeben werden. Es geht um Erkunden, Ins-Bewusstsein-Rufen, Gewahrwerden. Hier spielen durchaus auch Interpretieren, Deuten und Auslegen eine wichtige anteilige Rolle (Lehnerer 1988/ 1993; Welsch 1997). Erst wenn wir uns einer sinnlichen Wahrnehmung bewusst werden, wenn wir ihr gewahr werden, wenn wir die Wahrnehmung mit anderen Wahrnehmungen und Empfindungen in Beziehung setzen und auslegen, dann verhalten wir uns nicht nur sinnlich, sondern ästhetisch. Hiermit hängt die Bildung eines ästhetischen Urteilsvermögens direkt zusammen.

Ausblick

In diesem vorläufigen Modell der Klärung der Bedeutung ästhetischer Erfahrung für die soziale Realität kultureller Erwachsenenbildung (Anm. 5) sind Gedanken zusammengefasst, mit denen zunächst vorwiegend die Aneignungs-, nicht die Vermittlungsperspektive einzunehmen versucht wird. Die Grundzüge hiervon haben sich angesichts des eingangs umrissenen Vermittlungsdilemmas im Diskurs kultureller Erwachsenenbildung und Kunstpädagogik als soziale Realität wie auch als Wissenschaft mehr oder weniger bewusst etabliert, denn mit diesem Modell lässt sich sowohl Theorie- als auch Praxisanforderungen gerecht werden.

Mit Blick auf die Selbsterzeugung von Maßstäben und Relevanzen spielen auf dieser Grundlage "Authentizität und Ganzheit" (Kade/ Lüders/ Hornstein 1991, S. 62) in Angeboten kultureller Erwachsenenbildung eine qualitativ empirisch rekonstruierte zentrale Rolle. Denn diese Angebote zielen nicht erst seit heute "auf die Vermittlung von authentischen Erfahrungen und ganzheitlichen Erlebnissen" (ebd.). Gerade in Bezug auf die Gedanken zur ästhetischen Erfahrung sind in pädagogischen Kontexten (innerhalb oder außerhalb pädagogischer Institutionen) Situationen zu schaffen, die die Wahrscheinlichkeit des Eintretens ästhetischer Erfahrungen erhöhen. Diesem Ziel kommt ein Merkmal pädagogischer Interventionen zu Hilfe, und zwar dass die durch "pädagogisch bedeutsame Arrangements erzeugten Irritationen als Lernzumutungen erfahren werden" (Kade/ Nolda 2001, S. 65; vgl. Kade 1997, S. 53) können. Und in der kulturellen Erwachsenenbildung geht es demnach vor allem auch um Erfahrungszumutungen, um den Begriff der "Lernzumutungen" (Kade/ Nolda 2001, S. 65) sinngemäß abzuwandeln. Der Erfolg einer Vermittlungsabsicht bliebe offen. "Irritation" bedeutet u. a., dass dem Erwachsenen eine Situation geboten wird, auf die er nicht routiniert reagieren kann und die zur Erzeugung von Möglichkeitsüberschüssen führt (Kade 1999, S. 153). Eine hierdurch ausgelöste ‚Krise‘ würde einem charakteristischen Merkmal ästhetischer Erfahrung entsprechen, wenn sie sich auf den Wahrnehmungsakt selbst bezöge. Solche Erfahrungen würden von den Erwachsenen nicht passiv ‚gemacht‘ oder verarbeitet, sondern absichtlich gesucht (Kade/ Seitter 2002, S. 31; in Berufung auf Peter Weingart). Diese pädagogische Handlungsweise ist in sich andererseits bereits eine eher ästhetisch angelegte Figuration (Kade/ Nolda 2001, S. 65f.; Lenzen 1990). Worauf der Irritationsbegriff abhebt, "ist die ‚Einwirkung‘ der Pädagogik auf ihre Adressaten. Irritation taugt nicht als Zielformel" (Kade 1999, S. 153).

Eine empirische Überprüfung, Sättigung und Variation dieser theoriebasierten Annahmen steht für die Erwachsenenbildung freilich noch aus und erscheint zugleich dringend geboten. Bezogen auf Kinder und Jugendliche liegen mehr oder weniger direkt auf diese Thematik bezogen bereits qualitativ empirische Untersuchungen vor (Mollenhauer 1996; Peters 1996; Kirchner 1999; Neuß 1999; Peez 2002; Fachtagung "Ästhetische Erfahrung in der Kindheit. Theoretische Grundlagen und empirische Forschung" im Rahmen des Graduiertenkollegs "Praxis und Theorie des künstlerischen Schaffensprozesses", Universität der Künste Berlin, Berlin 2002).

Zu beachten ist, dass sich die empirische Forschung über Phänomene ästhetischer Erfahrung vor forschungslogische und -methodologische Probleme gestellt sieht, die Yvonne Ehrenspeck differenziert darlegt. Als Argument nennt sie u. a., Ästhetik, Kunst und ästhetische Erfahrung erwiesen sich als begrifflich nicht einholbare Modi von Sinn, deshalb verbiete sich grundsätzlich ihre geschlossene Aufbereitung, etwa in der Ergebnisdarstellung empirischer Forschung (Ehrenspeck 2001, S. 16f.). Die oben ausgeführten Strukturelemente können jedoch – pragmatisch verstanden – für die empirische Untersuchung ästhetischer Erfahrung insofern einen vorläufigen Leitfaden bilden, als zunächst nicht ästhetische Erfahrung als Ganzes im Mittelpunkt empirischer Forschung stünde, sondern einzelne ihrer Charakteristika, da über diese Merkmale theoriegeleitet weitgehend Konsens besteht. Ließen sich – bezogen auf einen untersuchten Erfahrungsprozess – alle diese Charakteristika mittels qualitativer Methoden rekonstruieren, so wäre davon auszugehen, dass es sich im jeweiligen Fall um eine ästhetische Erfahrung handelt. Weiterhin ließe sich die Intensität einer ästhetischen Erfahrung qualitativ empirisch erforschen, die von einer mitgängigen Alltagserfahrung bis hin zu einer epiphanieähnliche Züge tragenden Erfahrung reichen kann. Autobiografisch-narrative Interviews, aber auch problem- bzw. themenzentrierte Interviews böten für eine solche Forschungskonzeption ergiebiges Analysematerial.

Anmerkungen

Anm. 1 Jürgen Trabant umreißt den Kunstbegriff, auf den ich mich hier stütze, in dem Sinne, dass das Kunstwerk nicht nur betrachtet und darüber hinaus verstanden werden will. Es soll ferner nicht nur der Sinn eines Kunstwerkes erfasst werden, sondern ein Kunstwerk, sei es ein ästhetischer Gegenstand oder eine ästhetische Handlung, "wollen als solche, in ihrem So-Sein, auch in ihrer spezifischen Materialität, betrachtet werden." (Trabant 1997, S. 647) Es geht also um die Kontemplation über den Gegenstand als solchen, unabhängig von bestimmten außerkünstlerischen Handlungszusammenhängen.
Anm. 2 Pädagogik und Erwachsenenbildung verweisen in ihrer Unabgeschlossenheit, Uneindeutigkeit und Offenheit zwischen Wissenschaft, Studium und Gesellschaft darauf, dass es sich hier um auslegungsbedürftige Chiffren für bestimmte soziale Realitäten handelt, nicht um klar definierte Begriffe (Kade/ Nittel/ Seitter 1999, S. 10). Diese komplexen Auslegungen stehen in diesem Text nicht im Fokus, sie werden u. a. in erziehungswissenschaftlichen Diskursen geleistet.
Anm. 3 Diese Frage wird auch im Kunstsystem diskutiert. Ihr wird in diesem Beitrag zunächst jedoch aus Sicht der kulturellen Erwachsenenbildung nachgegangen.
Anm. 4 Im angewandten Bereich etablierte sich auf diese Weise das Kunsthandwerk, im nicht Angewandten die Kunst.
Anm. 5 Dies gilt sicher auch für die kulturelle Praxis von Erwachsenen innerhalb und außerhalb pädagogischer Institutionen, was aber an dieser Stelle nicht weiterverfolgt wird.

Literatur

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Bibliografische Angaben zu diesem Text:

Peez, Georg: Ästhetische Erfahrung -Strukturelemente und Forschungsaufgaben im erwachsenenpädagogischen Kontext. In: Nittel, Dieter/ Seitter, Wolfgang (Hg.): Die Bildung des Erwachsenen. Erziehungs- und sozialwissenschaftliche Zugänge. Festschrift für Jochen Kade. Bielefeld (Bertelsmann) 2003, S. 249-260