„…dass das Arbeiten in der Schule etwas mit Kunst zu tun hat.“

Kunstlehrende erzählen über ihr Studium bei Joseph Beuys

Georg Peez

Wie stehen der Lebenslauf von Kunstlehrenden mit deren Berufswahl und Berufsausübung in Verbindung? Dieser Frage wurde im Rahmen eines fachdidaktischen Seminars mit dem Titel "Kunstpädagogik und Biografie" an der Universität Duisburg-Essen im Sommersemester 2008 nachgegangen. Mehr als 50 Kunstlehrende im Alter zwischen 29 und 66 Jahren sprachen über ihr Leben in Verbindung zu ihrem Beruf. Diese von Studierenden geführten autobiografisch-narrativen Interviews (Schütze 2 1996; Schütze 2001; Griese/ Griesehop 2007) wurden vollständig dokumentiert; einschließlich eines biografisch bedeutenden Objekts oder Gegenstandes. Die Studierenden gruppierten diese Interviews im Seminar und werteten sie u.a. in Form von Einzelfall-Analysen aus. Die qualitativ-empirische Untersuchung (Peez 2009) leistet somit einen Beitrag zur Professionalisierung der Kunstpädagogik, denn in unserer reflexiven Moderne ist es notwendig, sich über die Merkmale der eigenen Profession Aufklärung zu verschaffen.

Erste Begegnung mit Beuys

Im Folgenden wird ein besonderer Ausschnitt des Material-Korpus‘ vorgestellt. Und zwar berichten sieben Lehrerinnen und Lehrer von ihrem Studium an der Düsseldorfer Kunstakademie um 1970, welche nach Aussagen von Frau Susanne W. (63 Jahre) die damals "freieste Kunstakademie Deutschlands" (S.W., Z. 146f.) war (s. Anm.). Aus dieser Zeit schildern sie Begegnungen mit dem dort tätigen Professor Joseph Beuys (1921-1986). Die meisten von ihnen studierten direkt in seiner Bildhauer-Klasse (Abb. 1). Beuys war in diesen Jahren zwar schon bekannt, er entwickelte sich aber erst zum Star der Medien und des Kunstmarktes. Dies belegt eine erste Begegnung mit Beuys, von der Herr Xaver M. (66 Jahre) berichtet. Er erzählt, "dass ich auf eine ziemlich unorthodoxe Weise, nämlich im Fahrstuhl, da den Professor kennen lernte, den ich bis dahin nicht kannte, das war Joseph Beuys. Und der mich dann einlud, seine Klasse mal zu besuchen. Ich hab den da im Fahrstuhl geduzt, ich hab gedacht, das wär ein Mitstudent. Ich hab den dann gefragt: Wo bist du denn? Und dann hat der gesagt: Ich bin bei dem Neuen, ich bin bei dem Beuys. Komm doch ma vorbei. – Und dann kam ich irgendwann da unten runter, der hatte mir das beschrieben, ich wusste dann, wo die Klasse war, und dann saß also dort der Meister in der Mitte seiner Jünger. Mir war das ganz schrecklich peinlich. Ich hab dann sehr viel mit Beuys geredet, und relativ viel mit dem zu tun gehabt." (X.M., Z. 19-27).

Korrekturen

Situationen der Kritik und Korrektur durch Joseph Beuys blieben vielen ehemaligen Studentinnen und Studenten im Gedächtnis. So erzählt Frau Anne W. (58 Jahre) folgende Begebenheit: "Also, er war sehr korrekt, sehr humorvoll, sehr witzig, aber manchmal auch brutal. Also, um vielleicht noch mal so ein anderes Beispiel zu schildern, ich hatte dann eben von meiner Freundin einen Tonkopf entwickelt, gar nicht schlecht, aber technisch völlig falsch, also ohne Gerüst wirklich, das Gesicht wurde immer länger, der Ton dehnte sich aus. Und er kam dann irgendwann mal zufällig vorbei und hat dann kräftig einmal mit der Faust rein gehauen, und hat gesagt, so jetzt stimmt’s, und ich war völlig entsetzt und unglücklich und hab mich sehr gekränkt gefühlt in meinem Jungmädchendenken. Und, ja, also dabei blieb es natürlich nicht, aber er hat schon dafür gesorgt, dass es Irritationen, Provokationen gab, aber auch durchaus freundlich zugewandt" (A.W., Z. 112-120). An der Schilderung von Frau Anne W. wird deutlich, welche unterschiedlichen Kunstvorstellungen hier aufeinander prallten: auf der einen Seite der am Naturalismus orientierte Versuch einer traditionellen Darstellung, eines Porträts in Ton, was aber ohne handwerkliche Anleitung zum Scheitern verurteilt war. Auf der anderen Seite der technisch noch gut ausgebildete Professor, der jedoch diese handwerklichen Fertigkeiten nicht vermittelte und die unbedarften Darstellungsversuche der Studentin durch die Gestaltung mit dem Faustschlag in das weiche Material zunichte macht. Mit der Aussage "so jetzt stimmt’s" zeigte Beuys der Studentin eine ganz andere Ordnung auf. Denn in den Augen der Studentin stimme es durch den Fausthieb zunächst gar nicht mehr.
Das Infragestellen der alten Wertbegriffe, Gestaltungskriterien und Ordnungen war Kern der Beuys’schen Lehre und offenbar auch seiner Kunstvermittlung. Dies erfuhr ebenso Herr Eberhard T. (56 Jahre) (Abb. 1): "der Beuys hatte ne ganz interessante Art von Korrektur: Der hat alles angesehen sich und meistens zwei oder drei Abteilungen dann gemacht, von künstlerischen Arbeiten, so wie: die Guten und die Schlechten. Und man hat, wenn man ihn nicht richtig kannte, oder es hat irgendwie Jahre gedauert, um zu verstehen, was er meinte, mit dieser, Art ein wenig provokativen Einteilungen die guten Arbeiten und die schlechten. Oft waren (…) die schlechten Arbeiten, die, die man selbst für gut halten, gehalten hat." (E.T., Z. 36-42) Gerade auch die Erkenntnis des letzten Satzes musste Frau Anne W. mit ihren Porträtkopf in Ton erfahren. Ihr lebloser Ton-Kopf wurde erst durch die Beuys’sche Kraft- bzw. Energieeinwirkung künstlerisch stimmig.
Charakteristisch an beiden Korrekturerlebnissen ist, dass die Studierenden erst im Nachhinein die Radikalität des Beuys’schen Eingriffs verstehen und bejahen konnten. Zunächst empfanden sie Kränkung und fühlten sich – im Fall von Frau Anne W. fast wörtlich – vor den Kopf gestoßen. Die Korrektur führte jedoch zu provokativen und langfristig produktiven "Irritationen" (A.W., Z. 119). Herr Eberhard T. spricht später im Interview von "positiver Infragestellung" (E.T., Z. 229) bzw. vom "Knackpunkt" oder "Umschlagpunkt" (E.T., Z. 65).

 
Abb. 1 Herr Eberhard T. (56 Jahre) präsentiert Erinnerungsstücke aus seiner Studienzeit: "Das ist ein original Türschild aus der Akademie in Düsseldorf; aus der Kunstakademie, von ungefähr 1972. Das ist (…) ein Jahr nachdem Beuys 50 wurde, ist es geklaut von ner riesigen Tür. Die Akademie hatte sehr große Räume mit riesigen grau gestrichenen Türen, und da waren ungefähr auf Augenhöhe, hinter so nem Plexi, waren am Atelier diese Papierschilder. Und ich war zwei Semester bei Beuys, in der Akademie. Und das war ja schon ne Koryphäe, in jeder Hinsicht" (E.T., Z. 6-12)  

Studienbedingungen

Folgerichtig war, dass Beuys das "Aufnahmeverfahren infrage gestellt hat" (B.G., Z. 87-88). Im Jahre 1972 solidarisierte er sich mit den im Zulassungsverfahren der Kunstakademie abgewiesenen Bewerbern (vor allem für das Lehramtstudium) und nahm diese in Zeiten des Lehrermangels auch gerade im Fach Kunst als Studenten in seine eigene Klasse auf. "Ich nehm alle!" (B.G., Z. 88-89) (Abb. 2). Er demontierte einen Grundpfeiler der Akademie, nämlich die Exklusivität des Zugangs, und zwar mit der Begründung, "dass in allen Menschen kreatives Potenzial drin ist" (E.T., Z. 131). "Und das hatte ja dann den Effekt, dass also aus ganz Deutschland irgendwelche Leute dort auftauchten. Und ich hab eigentlich in der Zeit wenig, sagen wir mal, ernsthafte Studenten gesehen, sondern das hatte irgendwie so n, so n Anziehungsfaktor für, für, puh, was weiß ich, Leute, die einfach was anderes sehen wollten. Da sah dann der Tagesablauf so aus, äh, dass dann so im Laufe des Vormittags dann, äh, zwanzig/dreißig wildfremde Leute da auftauchten, darum saßen, darum standen, praktisch in den Ateliers, äh, die für die, für die eingeschriebenen Studenten da waren und äh, da eigentlich nicht viel gemacht haben. Die kamen dann da zum Teil bekifft an und, ähm, warteten dann auf den großen Meister. Der kam dann auch, und, äh, ja der hat sich ja, konnt sich gar nicht mit denen beschäftigen, sondern die haben dann nur geguckt, wie er Korrektur gegeben hat bei den anderen, also bei seinen Studenten, die da waren." (B.G., Z. 89-100) Einige der Interviewten sind auf diese Weise, mit den vielen, zunächst Abgelehnten überhaupt an die Düsseldorfer Kunstakademie gekommen, so z. B. Frau Ute P. (56 Jahre): "Es waren zig Studenten, die eben auch über diese persönlichen Unterschriften der Dozenten rein gekommen sind, nicht über die offizielle Mappenauswahl, sondern, dass man sich jemanden gesucht hat und man konnte dann eben in die Klassen und konnte dann da studieren. Und ja, das hab ich dann auch gemacht und hab dann da angefangen." (U.P., Z. 74-77) Oder Herr Eberhard T. (56 Jahre): "Und der Beuys nahm sich die restlichen 50 dann so (lacht). Und das war mein Glück. Deswegen war ich dabei, sonst wär ich heute nicht hier." (E.T., Z. 128-130)
Doch für Frau Ute P. währte das Akademiestudium nicht lange: "Ja, und dann war es allerdings so, dann hab ich das zwei Semester gemacht und dann war es so, dass Beuys von der Akademie verwiesen wurde, also kurz entlassen wurde und da mein Dozent damals auch sehr stark auf der Linie von Beuys lag, wurde der auch entlassen. Das heißt, ich stand dann praktisch von einem Semester zum nächsten ohne Professor da." (U.P., Z. 83-87) Im Jahre 1972 wurden Joseph Beuys und laut Frau Ute P. offenbar noch weitere Dozenten durch den damaligen nordrhein-westfälischen Wissenschaftsminister und späteren Bundespräsidenten Johannes Rau (1931-2006) fristlos entlassen. Frau Ute P. bezeichnet diese Erfahrung des Rauswurfs als "ein traumatisches Erlebnis" (U.P., Z. 88), worauf sie sich umorientieren musste.

Wirkungen des Studiums

Eine Besonderheit des Studiums, wohl nicht nur bei Beuys, war die Offenheit, die allerdings auch ihre Schattenseiten hatte. Frau Barbara G. (62 Jahre) sagt, sie habe "natürlich erstmal diese Freiheit genossen" (B.G., Z. 63-64). Viele der Befragten kamen aus der Provinz und / oder aus konservativen Elternhäusern ("mein Vater war ziemlich streng"; B.G., Z. 65), hinein in die revolutionäre 1968er-Atmosphäre der Akademie, in der fast alle Strukturen aufgelöst schienen. Wie sehr die alte (noch erwartete) Ordnung auf die Freiheiten der Akademie prallten, erzählt Frau Anne W. anhand einer Beuys-Begegnung: "Muss ich noch eine Anekdote kurz erzählen: Als ich Beuys fragte: Ja, Herr Professor, wann fängt das denn hier an, ne, so brave Schülerin, 8 Uhr 5 oder andersrum, 7 Uhr 55, ähm, da sagte er: Hast du noch gar nichts begriffen? Es hat doch alles längst schon angefangen! (…) Das hab ich erstmal überhaupt nicht gedacht: Oh Gott, jetzt hab ich Kurse versäumt, oder so, ne." (A.W., Z. 168-174) Ein erwartetes, angeleitetes Lernen in festen Zeiträumen, wie man es aus der Schule gewohnt war, war hier nicht mehr möglich. Durch diese Irritationen und Offenheit sollten künstlerische Prozesse angestoßen werden. "Wir wurden ins kalte Wasser geschmissen, wir haben keine Aufgaben gekriegt" (A.W., Z. 145), berichtet Frau Anne W. Und Herr Eberhard T. erinnert sich: "Ich war einundzwanzig, (…) und war total fasziniert von der Atmosphäre da. (Pause) Also, das war also, im Gegensatz zur Schule so n freies Arbeiten, und äh, sagen wir mal: ganz unstrukturiert, (…) also es war im Grunde, äh, ein chaotisches Etwas dann, von Raum, (lacht) Zeit und Studenten, und so. Und der Beuys als (Pause), äh, Autorität mit großer Ausstrahlung da drin." (E.T., Z. 20-27)
Alle Befragten hatten jedoch Schwierigkeiten mit der Strukturlosigkeit, denn das "sich selbst organisieren war nicht ganz leicht" (A.W., Z. 178f.). Frau Susanne W. (63 Jahre) gibt zu: "Der Nachteil war, dass man sich wirklich immer mit Depressionen rumquälen musste, jeder (betont) von uns, dass man den Erwartungen, alles aus dem Bauch holen zu können, nicht gewachsen war. Das haben alle gehabt, ich hab mit Immendorff zusammen studiert und der hat das im Fernsehen auch oder in seinem Film zum Besten gegeben, dass er auch diese gleichen Ängste hatte." (S.W., Z. 148-152) Erst Jahre später, im Nachhinein, konnten die Ehemaligen diese starke Verunsicherung schätzen lernen. Frau Susanne W. wendet es ins Positive: "Das, was wir dabei gelernt haben (…): Wir mussten uns wirklich immer und immer fragen: Was wollen wir eigentlich? Weil man eben keine Aufgaben bekam und immer nur Kritik von allen Mitstudenten und von den Professoren und man musste sich behaupten lernen. Und das hat Rückgrat gegeben und das ist eine enorme (betont) Hilfe in der Schule, dass man genau weiß, was man erreichen will und dass man zu den Dingen steht, die man erreichen will." (S.W., Z. 153-159) Ob es sich bei dieser positiven Einschätzung um eine nostalgische Idealisierung handelt oder um einen genuinen ‚künstlerischen Virus‘, der erst zeitverzögert wirksam wird, kann mit letzter Sicherheit nicht gesagt werden. Frau Susanne W. betont jedoch, "je älter ich geworden bin", dass sie "diesen Ausbildungsgang sehr, sehr gut fand" (S.W., Z. 172-173).

Abb. 2 Aquarellkasten von Frau Barbara G. (62 Jahre) aus der Zeit, als sie ihr Staatsexamen bei Joseph Beuys machte.

Langzeitwirkung in Bezug auf Schulunterricht

Beuys selber sagte 1969 in der Fachzeitschrift "Kunst+Unterricht": "Vielleicht ist in dreißig Jahren was zu erreichen. Die Studenten, die bei mir sind, entwickeln wenigstens einen Sinn für diese Fragen (des Prozesshaften). Es ist an sich gleichgültig, ob ich Englisch, Kunst oder Botanik unterrichte. Überall muss das Künstlerische wirksam werden." (Beuys 1969, S. 52) Wie viele der Beuys’schen Ideen haben sich im heutigen Kunstunterricht erhalten? Es wurde mit dieser Studie freilich kein Kunstunterricht unmittelbar untersucht, sondern lediglich die autobiografischen Aussagen hierüber. Dennoch lassen sich in den Interviews Indizien als Antworten auf diese Frage finden. Frau Susanne W. sagte bereits im obigen Zitat, dass ihr diese Studiensituation Kraft für die Schule gab, von der sie heute noch zehre, denn vor der Schulklasse im Kunstunterricht habe sie sich deshalb "gleich sicher gefühlt, obwohl ich fachlich keine Ahnung hatte." (S.W., Z. 162) "Aber ich wusste, was ich wollte und ich hatte immer das Rückgrat, um das durchzusetzen." (S.W., Z. 166f.) Dieser Effekt lässt sich eventuell auch mit einer gewissen Abhärtung gegen die widrigen Umstände umschreiben.
"Die alten Vorstellungen von geregeltem Unterricht" über Bord zu werfen, "Verpflichtungen und Programm hinter mir zu lassen", dies fällt Herrn Eberhard T. manchmal ein, "wenn ich mit Schülern an nem Tisch stehe und mir Sachen (d.h. bildnerische Schülerarbeiten) angucke" (E.T., Z. 33-36). Das Beuys’sche Vorbild wirkt im Hintergrund noch, Altbekanntes und Gewohntes zu hinterfragen: "die Beuys-Idee: Dass in allen Menschen kreatives Potenzial drin ist, auch wenn sie von unterschiedlichen Ecken kommen. Und dass das entwickelt wird, und das ist auch ’n Ansatz, den ich heute noch etwas verfolge, obwohl das manchmal hier im Schulalltag (lacht) ziemlich verschütt’ geht: In dem ganzen Geregelten, was irgendwie so auf einen zukommt. Mir fällt das jetzt so in letzter Zeit auf: (…) Aufwand von zeitlicher Einteilung, und von Formalien, Terminen, die eingehalten werden müssen, (Pause) an Gutachten, Noten, Klausuren und Vorbereitungen und dieses und das. Also, da muss man schon aufpassen, dass die Kunst unter der Struktur nicht verschwindet" (E.T., Z. 131-140). Die Gegensätze der freien Kunst und der bürokratisierten Schule prallen unmittelbar aufeinander.
Explizit zieht Herr Rolf H. (58 Jahre) Parallelen zwischen den Beuys’schen Ideen und seiner Grundeinstellung zum Kunstunterricht: "Ich fand die ganze Auseinandersetzung, um den Kunstbegriff vor allen Dingen und das, was Künstler in unsere Gesellschaft darstellen und was sie machen usw., das fand ich sehr, sehr wichtig." (R.H., Z. 71-73) "Und da wurde für mich auch klar, dass das Arbeiten in der Schule etwas mit Kunst zu tun hat. Und ich hab seitdem her auch dieses Ziel verfolgt, also nicht so nach dem Motto: Morgens ist man berufsgebunden Kunsterzieher und zieht das ab und nachmittags ist man Künstler. Für mich war das wichtig, dass das zusammengehört. Das heißt, die Arbeit in der Schule oder die Arbeit mit Menschen ist für mich so eine Art, wie eine Arbeit mit Materialien, wie ein Bildhauer oder im Sinne auch von einer Sozialen Plastik, wie Beuys das immer genannt hat. Das hab ich so verstanden und das haben auch einige andere so verstanden, die mit mir damals da waren. Und das hat eine ziemliche Kraft gegeben für diesen Job, die bis heute auch irgendwie noch anhält." (R.H., Z. 87-95) Freilich werden in dem Wort "irgendwie" Unsicherheiten und Zweifel deutlich. Denn wie sich diese Grundgedanken heute noch zeigen, ist schwer zu formulieren, zumindest wirken sie sich positiv auf die Motivation des Lehrers aus.
Die Inkonsequenz zwischen radikaler Kapitalismuskritik einerseits und tatsächlichem Handeln beobachtete Herr Xaver M. (66 Jahre) (Abb. 3) bei Beuys im Studium: "Interessant war, dass ich eigentlich noch vorhatte, bei ihm ein Zweitstudium und zwar als Bildhauer zu machen. Das war also im Grunde verabredet, dann passierte allerdings etwas, so n paar Sachen, die für mich wichtig waren. Einmal hab ich da unten mitgekriegt, wie Beuys Schmela empfing. Schmela war damals so der wichtigste Kunsthändler, Galerist in Düsseldorf. Der hatte damals so eine kleine Galerie in der Altstadt. (…) Die kannte ich natürlich, ich kannte auch den Schmela, so vom Sehen. Und ich hab dann mitgekriegt, der besucht immer die Akademie, und hab dann mitgekriegt, wie Professoren und Studenten praktisch, auch Beuys, vor diesem Mann förmlich auf dem Bauche lagen. Und dem also in dienender Stellung den Wein anreichten und sowas. Das hat mich also dermaßen, ehm, dermaßen angeekelt, dass ich damals tatsächlich den Entschluss gefasst habe: Ins Kunstgeschäft gehst du nie. So. Das war ein ganz wichtiger Punkt." (X.M., Z. 27-40) Herr M. vertritt die Auffassung, dass sich die Ideen zur Sozialen Plastik authentischer im Unterrichten, in der direkten Arbeit mit Menschen weiterverbreiten lassen als im Rahmen des kommerziellen Kunstmarktes, von dem letztlich auch Beuys sich abhängig machte und somit seine Ideen ein Stück weit verriet.

Abb. 3 Stundenplan im Skizzenbuch von Herrn Max M. (66 Jahre), seit kurzem i.R.

Literatur

Beuys, Joseph: Das "Bildnerische" ist unmoralisch. Interview in: Kunst+Unterricht Heft 4, 1969, S. 50-53
DGfE (Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft): Standards erziehungswissenschaftlicher Forschung. In: Friebertshäuser, Barbara/ Prengel, Annedore (Hg.): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim/München (Juventa) 1997, S. 857-863
DGfE (Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, der Vorstand): Anonymisierung von Daten in qualitativer Forschung. Probleme und Empfehlungen. In: Erziehungswissenschaft, 17. Jahrgang, Heft 32, 2006, S. 33-34
Griese, Birgit/ Griesehop, Hedwig Rosa: Biographische Fallarbeit. Theorie, Methode und Praxisrelevanz. Wiesbaden (Verlag für Sozialwissenschaften) 2007
Peez, Georg: Kunstpädagogik und Biografie. 52 Kunstlehrerinnen und Kunstlehrern erzählen aus ihrem Leben. Professionsforschung mittels autobiografisch-narrativer Interviews. München (kopaed Verlag) 2009
Schütze, Fritz: Verlaufskurven des Erleidens als Forschungsgegenstand der interpretativen Soziologie. In: Krüger, Heinz-Hermann/ Marotzki, Winfried (Hg.): Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Opladen (Leske+Budrich) 2 1996, S. 116-157
Schütze, Fritz: Rätselhafte Stellen im narrativen Interview und ihre Analyse. In: Handlung Kultur Interpretation. Zeitschrift für Sozial- und Kulturwissenschaften, 1/ 2001, S. 12-28

Literatur

Das im Forschungsprozess erhobene und ausgewertete Material wurde nach den Regeln der Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE 1997, DGfE 2006) vollständig anonymisiert. Zitierweise: Initial der interviewten Person und Zeilenangabe im originalen Interview-Transkript (Peez 2009). Die zitierten Interviews führten Fania Burger, Christel Müller, Andreas Muttke, Charlotte Palm und Alexander Rogosch.


Bibliografische Angaben zu diesem Text:
Peez, Georg: "…dass das Arbeiten in der Schule etwas mit Kunst zu tun hat."
Kunstlehrende erzählen über ihr Studium bei Joseph Beuys. In: BDK-Mitteilungen, Heft 3, 2009, S. 28-31