Georg Peez
Wie berechtigt
ist der Anspruch auf ästhetische Bildung, den so viele kunst- und kulturpädagogische
Fachvertreter (u.a. Wolfgang Zacharias) für selbstverständlich erachten?
Seit über einem Jahrzehnt nehmen Kulturpädagogen zwar Abschied von
den hohen Erwartungen und großen Hoffnungen, die sie einst mit ästhetischer
Bildung verknüpft hatten (u.a. Gert Selle), solche Erwartungen ließen
sich offensichtlich nie erfüllen; indes: Der Bildungsanspruch, ästhetische
Bildung durch ästhetische Erziehung zu ermöglichen, blieb bestehen.
Die für eine Neukonzeption und Neubewertung des Bildungsbegriffs plädierenden
Erziehungswissenschaftler, z.B. Dieter Lenzen und der Erwachsenenpädagoge
Jochen Kade, beziehen sich auf Wissenschaftsansätze der letzten 10 bis
15 Jahre: Systemtheorie, Chaosforschung, radikaler Konstruktivismus, philosophischer
Neo-Pragmatismus. Wissenschaftsmethodisch sucht man weder nach Antworten auf
alte Fragen, noch strebt man das Erkennen von Vernunft und Wahrheit an. Eine
skeptische Grundeinstellung ermöglicht alternative Fragen. Mit Collagierung
wird traditionellen Diskursen ausgewichen. Umstrukturierungen sollen die Selbst-
und Weltbeschreibungen bereichern. Wirklichkeit, Wahrheit und Objektivität
gelten als zufällig, werden als zwischenmenschliche Vereinbarungen verstanden.
"Zufällig" heißt keineswegs "austauschbar beliebig".
Ansprüche auf triftige Argumentationen im Dialog bleiben grundlegend
wichtig.
Die innerhalb dieser lediglich angedeuteten Prämissen um Neuorientierung
bemühten Erziehungswissenschaftler geben zu bedenken, daß die Leitziele
Selbstbestimmung, Subjektwerdung und Selbstbildung, also Forderungen, die
hinter dem – auch ästhetischen – Bildungsbegriff stehen, nicht nur Ausdruck
von Freiheit sind, sondern auch das Ergebnis gesellschaftlicher Zwänge
darstellen können. In der pädagogischen Theorie und Praxis hat sich
immer wieder die Gefahr gezeigt, daß eine von Selbstbestimmung und abstrakter
Subjektutopie geleitete Pädagogik diese Zwänge reproduziert. Von
den Zuerziehenden werden dann unbewußt Aufgaben, Verantwortlichkeiten
und Leistungen abverlangt, die sie aus strukturellen Gründen entweder
nicht erfüllen können oder mit denen sie einer ständigen Überbelastung
ausgesetzt sind. Solche Überbeanspruchung durch Kulturpädagogik
ist für Kinder, Jugendliche und Erwachsene streckenweise hoch motivierend
und wird auch pädagogisch-didaktisch eingesetzt (z.B. von Gert Selle).
Doch desillusioniert bildkünstlerische Praxis häufig die Beteiligten,
die an dieser Überbeanspruchung später gemessen werden.
Dieter Lenzen plädiert gegen die Implikationen des Bildungsbegriffs:
Die Bildungsmetapher disqualifiziert sich dadurch, daß sie auf dem Machen
besteht, dem Machen des Menschen. Man hat das im Gefolge der Aufklärung
gelegentlich bemerkt und sich, was die Erziehung betrifft, damit zu helfen
versucht, daß man dem potentiellen Vorwurf einer Herrschaft von Menschen
über Menschen mit dem Hinweis begegnete, mit Bildung sei kein fremdgesteuerter
Einfluß des Erziehenden über den Zögling gemeint, sondern
Bildung sei nur als Aufforderung zur Selbsttätigkeit, als eine Art Selbstbildung,
vertretbar. Die in dieser Hilfsvorstellung enthaltene Idee löst das Problem
aber nicht: Die Frage, um die es geht, ist nicht die der Emanzipation von
fremden Herrschaftsansprüchen, sondern von dem Anspruch auf Herrschaft,
auf Bestimmung überhaupt. Auch Selbstbestimmung enthält einen Zwang,
nämlich den der Bestimmung. Niklas Luhmann verweist auf das gleiche Problem:
Die noch nicht realisierten Freiheitversprechungen der bürgerlichen Revolution
werden immer wieder eingeklagt, ohne daß man fragt, wie das Individuum
mit der Reflexionslast der Selbstbestimmung zurechtkommt.
Lenzen führte den Begriff der "pädagogischen Methexis"
für einen pädagogischen Habitus ein, der die Skepsis gegenüber
dem Bildungsbegriff zu berücksichtigen versucht. Er aktualisiert zusätzlich
Intentionen, die Rousseau ("negative Erziehung"), die Reformpädagogik
("Wachsenlassen") und Humanistische Pädagogik ("Empathie")
ehemals verfolgt hatten. "Methexis" heißt eigentlich "Teilhabe"
und bezeichnet bei Platon im Gegensatz zum negativen Begriff der Mimesis (Nachahmung)
etwas von ihm positiv Beurteiltes. Teilhabe verweist auf die Beziehung des
realen Dings zu seiner Idee: Das Ding, der Tisch (nicht sein Bild) hat Teil
an der Idee des Tisches. Analog dazu würde dieser Begriff für die
Pädagogik heißen: Teilhabe des Menschen an der Idee des Menschen.
Es bedarf keines pädagogischen Kunstgriffes, um den Menschen zum Menschen
zu machen. Es bedarf eher der Ernsthaftigkeit, junge Menschen als Repräsentationen
einer sich historisch wandelnden Idee des Menschen anzunehmen. Es könnte
nach dieser Methexis-Vorstellung also nicht darum gehen, ihn erst, bildend,
seiner Bestimmung zuzuführen, nicht einmal seiner Selbstbestimmung.
Einwände gegen eine teilhabende pädagogische Einstellung lauten:
reine Teilhabe fördere Subjektivismus, das grenzenlose Ausleben eigener
Bedürnisse und ermögliche eine Wertfreiheit, die zu Beliebigkeiten
führe.
Abgesehen davon, daß der amerikanische Philosoph Richard Rorty auf die
ungeklärten Mehrdeutigkeiten des Begriffs "subjektiv" aufmerksam
macht, wäre noch zu prüfen, ob unter einem wirklich konsequenten
teilhabenden Ansatz Subjektivismus, Desinteresse und Wertlosigkeiten zwangsläufig
die Folge sein müssen, oder ob den Selbstorganisationsprozessen der Menschen
nicht mehr zugetraut werden kann.
Sowohl Grenzen einer pädagogischen Teilhabe als auch Grenzen des Autonomie-
bzw. Expansionsstrebens einzelner Menschen sind aufzuzeigen. Das Erkennen
der eigenen Grenzen führt zur Frage nach Solidarität und Verantwortung.
Für Solidarität gibt es keine ahistorischen Gründe. Solidarität
ist historisch kontingent. Sie entsteht allein dadurch, daß man sie
immer wieder neu begründet, sie sich erarbeitet und sich für sie
entscheidet.
Für eine teilhabende Herangehensweise in der Kulturpädagogik sprechen
Ergebnisse von Fallstudien zur Entwicklung von Künstlerpersönlichkeiten.
Eine Entwicklungsphase äußert sich fast ausnahmslos in solchen
Aktivitäten wie dem Abmalen von Kitschpostkarten, von Comics, der Herstellung
von ‚kunstgewerblichen‘ Arbeiten usw. Hierbei handelt es sich nicht um die
künstlerische Verarbeitung trivialer Vorlagen mit ironischen Hintergedanken.
Sondern es sind – nach dem Leipziger Kunstpädagogen Frank Schulz – ernstzunehmende
und achtbare Zeugnisse des Ringens, um auf den Weg zur Kunst. Eine solche
Phase ist deshalb kein Irrweg. Eine künstlerische Entwicklung nicht pädagogisch
abzukürzen, sondern auch von PädagogInnen nicht für gut befundene
Wege zuzulassen, ist Sinn des Teilhabe-Gedankens für die Kulturpädagogik.
Literaturtipps
Kade, J.: Subjektwerdung und Gemeinschaftsbezüge. In: Beck, K. u.a. (Hg.):
Erziehung und Bildung als öffentliche Aufgabe, Weinheim 1988
Lenzen, D. (Hg.): Kunst und Pädagogik, Darmstadt 1990
Lenzen, D.: Reflexive Erziehungswissenschaft am Ausgang des postmodernen Jahrzehnts.
In: Benner, D.u.a. (Hg.): Erziehungswissenschaft zwischen Modernisierung und
Modernitätskrise, Weinheim 1992
Rorty, R.: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a.M. 1992
Bibliografische Angaben zu diesem Text:
Peez, Georg: Den ästhetischen Bildungsanspruch überdenken: Versuch der Teilhabe. In: Infodienst. Kulturpädagogische Nachrichten, Nr. 36, April 1995, S. 43 – 44