Die Zwischenräume begreifen.

Ästhetische Zugänge zu unserem elementaren Wahrnehmungs- und Erkenntnisorgan Hand

Michael Schacht / Georg Peez

Den Händen kommt in reformpädagogischen Konzepten eine zentrale Rolle zu (Blechle 1998; PÄD Forum 3/1998). Sowohl in handlungsorientiertem (Richter 1996) als auch projektorientiertem (Börner/Paditz 1998; Münzinger 1998) und werkstattorientiertem Unterricht (Nickel 1998) erfüllen die Hände stets vielfältige Funktionen für das Erfahren, Lernen und die Welterkenntnis (Duncker 1989). Hände vermitteln zwischen den Dingen und dem Körper, wodurch beide Seiten nicht unverändert bleiben. Die Hand verändert zum einen die Gegenstände, indem sie sie bearbeitet, zum anderen wirkt bereits die reine Berührung von Gegenständen verändernd: Wenn wir die Dinge im taktilen Kontakt erkunden, erzeugt diese Berührung Bewusstsein über die Welt, in der wir leben. Berühren wir ein Stück Holz, so sind wir zugleich von ihm berührt. Die Hand ist nicht nur ein Werkzeug. "Im Akt des Berührens vergewissert sich der Handelnde, daß das Berührte ebenso gewiß ist, wie sein Körper, wie seine Hand, die jenes berührt. Er bringt ein Resultat – das Berührte hervor, das unabhängig von der Hand ist, aber nicht weniger wirklich ist als die Hand selbst.“ (Gebauer 1997, S. 480)

Abb. 1
Die Hand symbolisiert den Tastsinn.
Aus: Johann Amos Comenius: Orbis sensualium pictus, 1658

Die differenzierte Bewegungsfähigkeit der Hand ist von Natur aus anatomisch und physiologisch vorbereitet. Es bedarf aber der Übung, Schulung und Erziehung, um diese angelegten Vermögen tatsächlich auszubilden, weshalb Comenius in seinem Lateinlehrbuch "Orbis sensualium pictus“ den Tastsinn durch eine Hand symbolisierte (Comenius 1658/1978, S. 3) (Abb. 1). Das Tasten korrespondiert vielfältig mit den anderen Sinnen (Mattenklott 1998, S. 385ff.). Tast- und Sehwahrnehmung ergänzen sich beispielsweise jeweils, aber sie ersetzen sich keinesfalls. Gesehenes wird mit früheren Tastwahrnehmungen ‚aufgeladen‘. Letztlich kann man davon ausgehen, dass die Entwicklung des Gehirns und der Hand auf das Engste miteinander verknüpft sind (Leroi-Gourhan 1980, S. 320ff.; Duderstadt 1997, S. 44). Prozesse unseres Denkens sind von den Wahrnehmungsbewegungen unserer Hände geformt. "Wenn wir uns ein Wesen vorstellen, das ebenso denkfähig ist wie wir, aber keine Hände hat, stellen wir uns ein gänzlich anderes Denken als das unsere vor.“ (Flusser 1991, S. 62; vgl. Macho 1997, S. 62f.). Dieser Umstand hat sich auch sprachlich manifestiert, indem man sagt, man habe etwas "erfasst“, "begriffen“, "behalten“, "behandelt“, "entnommen“ "entdeckt“ oder "verknüpft“ (Flusser 1991, S. 62; Duderstadt 1997, S. 44, 58ff.). Selbst die "Wahrnehmung“ enthält durch das Verb "nehmen“ die handelnde Weltzuwendung mittels der Hand. Johann Gottfried Herder sprach dem Tastorgan gar Vernunft zu: "Das Auge ist nur Wegweiser, nur die Vernunft der Hand allein gibt Formen, Begriffe dessen, was sie bedeuten, was in ihnen wohnet.“ (nach Mattenklott 1998, S. 387). Zwar wäre eine Reduktion des Tastsinns lediglich auf die Vermögen der Hand kurzschlüssig, doch ist unbestreitbar, dass die wahrnehmende Hand durch ihre Beweglichkeit und die Vielzahl der an ihr befindlichen Rezeptoren für den Tastsinn von herausragender Bedeutung ist (Duderstadt 1997, S. 47).

Komplementäre Weltaspekte: analog und digital

In Zeiten der vermehrten Virtualisierung vieler Handlungsvollzüge im Alltag und angesichts vielfältiger digitaler Mitteilungsformen, wie beispielsweise der teletaktilen Kommunikation (Mattenklott 1998, S. 384), mit deren Hilfe wir uns über tausende Kilometer hinweg digital ‚berühren‘ können, sollte unser elementarstes Erkenntnis- und Ausdrucksorgan einer Re-Vision unterzogen werden. Die Hand bleibt – zumindest bislang – auch in Bezug auf die elektronischen Medien Bedingung unseres Handelns. Trotz der fortschreitenden Spracherkennung durch Computer werden Finger und Hände u. v. a. auch weiterhin die Maus und die Tastatur des Rechners bedienen oder Funktionstasten der Videokamera drücken.

Fühlen, Tasten und Begreifen markieren nicht nur Bedingungen und Grenzen unseres Denkens und unserer Wahrnehmungsmöglichkeiten. Im Kontext des Analogen stehen sie auch für die Eigensinnigkeit und Souveränität unseres Leibes und für unsere Individualität. Inmitten einer elektronisch beeinflussten Welt entdecken wir diese Souveränität neu. Freilich bleibt selbst diese Wiederentdeckung und Neubewertung nicht unbeeinflusst durch die elektronischen Medien (Welsch 1996, S. 319f.).

Leiblichkeit steht nicht im Gegensatz zu den Medien. Die komplementäre Ergänzung beider ‚Weltaspekte‘ ist heute Voraussetzung für Wahrnehmen, Erfahren und Gestalten. Hierdurch sind Kommunikations- und Ausdrucksmöglichkeiten zeitgemäß zu entfalten. Die Hand verbindet beide ‚Weltaspekte‘. Dies zeigt sich beispielhaft in der Entwicklung des Datenhandschuhs, welcher, einmal angezogen und mit dem Computer verbunden, die Bewegungen der menschlichen Hand in digitale Daten umwandelt und dann analog auf dem Bildschirm in Form eines computergenerierten Greifwerkzeugs wiedergibt. So werden virtuelle Gegenstände auf dem Monitor in spezifischer Weise an-fassbar und be-greifbar. 

Wer sich also mit dem Thema der Hände aus pädagogischer Sicht beschäftigt und insbesondere die ästhetischen – d. h. wahrnehmungsbezogenen Aspekte (Welsch 1996, S. 28ff.) – in den Blickpunkt rückt, sollte zugleich versuchen, in pädagogischen Situationen, wie beispielsweise im Schulunterricht, adäquate Wahrnehmungsweisen zu ermöglichen und anzuregen, so dass das Thema von Lernenden bzw. von Schülerinnen und Schülern wirklich ‚begriffen‘ werden kann. Dieser Intention soll im Folgenden in der Weise entsprochen werden, dass ein Kunstwerk ausführlich vorgestellt und analysiert wird, das einen kreativen Zugang zum Thema eröffnet, weil es unseren Blick und unser Bewusstsein auf überraschend neue und doch so nahe liegende Aspekte lenkt, indem es nicht die Hand selbst thematisiert, sondern die zunächst unspektakulär erscheinenden Räume zwischen unseren Fingern. Solche exemplarischen ‚De-Fokussierungen‘ vermitteln uns in der Folge auch neue Erkenntnisse über die Hand. Fünf unterschiedliche Unterrichtsanregungen versuchen abschließend Antworten auf die Frage zu geben: ‚Wie kann ich ein Bewusstsein zum Thema Hände im Unterricht handlungspraktisch vermitteln?‘ Diesen Anregungen liegt als Voraussetzung die Annahme zugrunde, dass es möglich ist, unsere Sinne handelnd zu sensibilisieren, zu verfeinern, zu schulen und zu formen (Duderstadt 1997, S. 37) und dass wir fähig sind, über diese Verfahren zu reflektieren.

 

Abb. 2
Udo Koch: Hand, 1988, Wasserfarbe auf Papier, 42 x 29,7 cm

Abb. 3
Udo Koch: Hand, 1988, Bleistift auf Transparentpapier, 42 x 29,7 cm

Die Erkundung der Hand auf dem ‚Umweg‘ der Erkundung ihrer Zwischenräume

Beim Betrachten der mit Wasserfarbe auf Papier gemalten Arbeit "Hand“ von Udo Koch (Abb. 2) sind einzelne amorphe schwarze Formen zu erkennen, die im Verbund gesehen den Umriss einer Hand konturieren. Erscheint das Zustandekommen dieser Formen auf den ersten Blick recht willkürlich und nicht nachvollziehbar, verrät eine andere Arbeit das Gestaltungsprinzip, indem sie die Entstehung der Formen als Spiegelung der Fingerzwischenräume kenntlich macht (Abb. 3).

In seinen Arbeiten beschäftigt sich der 1958 geborene Künstler Udo Koch mit alltäglichen Phänomenen, die uns so vertraut sind, dass sie uns nicht mehr zum Nachdenken anregen. Gerade deshalb wirkt Kochs experimentelle und spielerische, gleichwohl komplexe Herangehensweise verwirrend. Was kann an unserer Hand noch unentdeckt sein? Und doch gerät die Hand, mit der wir gestikulieren, fühlen und be-greifen, bei Udo Koch zum Forschungsobjekt par excellence.

Der Blick auf die Umrissform der Hand macht deutlich, dass durch die Achsenspiegelung der jeweils unterschiedlichen Zwischenräume überraschend neue und zugleich sehr vertraut erscheinende, organische und ‚schöne‘ Formen entstehen. Dieser ‚andere‘ Blick von künstlerisch Tätigen und Forschenden auf Dinge und Phänomene ihrer Mitwelt hat in der abendländischen Kultur eine lange, jedoch randständige Tradition. Er geht davon aus, nicht die Dinge selbst zu beobachten, sondern durch den ‚Umweg‘ über die Erforschung der Zwischenräume zu ‚neuen‘, tieferen Einsichten über sich und die Welt zu gelangen. Die dem Alltäglichen entstammenden Konventionen und Regeln werden zeitweise außer Kraft gesetzt.

Der Ansatz, die Dinge bzw. den menschlichen Körper nicht an sich zu zeichnen, sondern die ‚Umräume‘, gehörte seit der Renaissance zur Künstlerausbildung (z. B. Leonardo da Vinci, Albrecht Dürer; vgl. Edwards 1979, S. 97ff.). In der Moderne experimentierten Künstlerinnen und Künstler wie Pablo Picasso (Abb. 4), Jean Arp, Maurits Cornelis Escher (Abb. 5), Louise Nevelson oder Man Ray (Abb. 6) immer wieder mit dem Zwischenraum-Phänomen, jedoch selten in der Konsequenz, wie Udo Koch dies tut. Der schöpferische Prozess wird bei ihm durch die Spiegelung der Fingerzwischenräume allerdings keineswegs abgeschlossen, sondern erst angeregt und in Gang gesetzt. Die Bereiche zwischen den Fingern sind Anlass für neue Zwischenraumformen, die sich aus den Zwischenräumen der Zwischenräume ergeben. Aus diesem Grunde ist das Werk-Ensemble "Hand“ von Udo Koch, das insgesamt 40 Zeichnungen und Objekte umfasst (Katalog 1994), in Wechselbeziehung seiner einzelnen Werkstücke zueinander zu betrachten. Die zwei hier abgebildeten Zeichnungen lassen Betrachtende das schöpferische Prinzip, die ‚Spielregeln‘ relativ leicht erfassen. Die von Koch gewählten ‚armen‘ Materialien regen außerdem zu eigenen Experimenten an.

 

Abb. 4
Die kubistisch-flächige Abstraktion lenkt den Blick auf die Zwischenräume.
Pablo Picasso: Portrait, Auschneidekopf, 1958, Kohle auf Papier, 60 x 46,5 cm
Abb. 5
Phantasievolle und dynamische Füllung von Zwischenräumen.
Maurits Cornelis Escher: Luft und Wasser II, 1938, Holzschnitt, 41 x 62 cm
Abb. 6
Erkundung des Zwischenraumphänomens bei Gegenständen und Händen mit dem Verfahren des Fotogramms.
Man Ray: Rayographie, 1922, aus dem Zykus „Les Champs délicieux", 22,3 x 17 cm

Das ‚Inter-esse‘ an den Wahrnehmungsbewegungen der Hand

Durch die habitualisierte Regel, Dinge und Phänomene selbst und nicht die Räume zwischen ihnen zu beachten, ordnen und konstruieren wir unsere Welt in einer alltagspraktisch durchaus sinnvollen Weise. Hierbei wird allerdings häufig nicht bewusst, dass dies eben nur eine mögliche Regel zur Ordnung der Welt ist. Die zeitweise Infragestellung und das Ersetzen der alten Regel durch neue, konsequent durchgespielte Regeln, bietet die Chance, flexible Zugangsweisen zur Mitwelt zu entwickeln. Blickrichtungen, Schärfeneinstellungen und Standpunkte ändern sich. Diese Flexibilität fördert einerseits interessante neue Aspekte zu Tage, sie kann aber auch Schwindel erregend, ja angstauslösend sein: Wir setzen uns möglicherweise zwischen alle Stühle, wenn wir die Zwischenräume erkunden.

Wenn Zwischenräume beachtet und gestaltet werden, dann entstammen die Impulse solcher Gestaltung sowohl intensiver leiblicher Wahrnehmung als auch der Einbildungskraft (Seitz 1994, S. 125). Udo Koch schafft ein eingängiges und gleichzeitig hoch komplexes Bild dafür, dass Zwischenräume in Wahrnehmungsbewegungen der Hand aktiv zu erfahren und zu bilden sind. Erfahrung und Bildung sind hier wörtlich zu nehmen: Indem ich mit dem Bleistift an der Kontur meiner Hand entlang fahre, sie er-fahre, bilde ich die Zwischenräume. Das Interesse an uns selbst und der Welt ist aktiv und aktivierend sowie selbst- und weltbildend. Das lateinische ‚inter-esse‘ heißt ins Deutsche zu übersetzt ‚Dazwischen-Sein‘ bzw. ‚Zwischensein‘. Interessiertsein in diesem Sinne kann bedeuten, durch Wahrnehmungsbewegungen die ebenfalls sich in Bewegung befindlichen Spannungsfelder der Zwischenräume zu erkunden.

Die Faszination, die von den Bereichen zwischen unseren Fingern ausgeht, ist so alt wie die Menschen selbst. Bereits unsere prähistorischen Vorfahren im Jung-Paläolithikum (ca. 40.000 Jahre v. Chr.) hinterließen mit magischen Absichten – wie heute vermutet wird – nicht nur die direkten Abdrücke ihrer gespreizten Hände auf den Höhlenwänden. Häufig bliesen oder tupften sie auch zwischen die Hände Farbstaub auf die Felswand, so dass sie sich als "Negativform“ abbildeten (Anati 1991, S. 75ff.; Haas 1992, S. 194f.) (Abb. 7).

Abb. 7
Handnegativformen in der Höhlenmalerei des Paläolithikums, ca. 15.000 Jahre v. Chr., El Castillo, Spanien

Spiegelungen und Randphänomene

Gespiegelte Zwischenräume, mit schwarzer Wasserfarbe ausgefüllt, beherrschen die Zeichnung (Abb. 2) und ergeben ein neuartiges, fremdes Gebilde, hinter dem das eigentliche Objekt zurücktritt und als Leerraum erscheint. Dies erinnert an die in Vexierbildern versteckten Formen, die erst auf den zweiten Blick aus dem Bild hervortreten und in der Wahrnehmung mit der ursprünglichen Form konkurrieren. In ähnlicher Weise "springt“ das Auge auch bei Koch zwischen den schwarzen Formen und der Handfläche hin und her, ohne sich zwischen dem Vertrauten – dem Handumriss – und dem Unvertrauten – den amorphen schwarzen Formen – entscheiden zu können.

Koch spielt mit den vorgegebenen Formen und Linien seiner Hand, multipliziert sie nach den Gesetzmäßigkeiten der Spiegelung und erhält neue Gebilde, die sich verselbstständigen und vom ursprünglichen Umriss der Hand entfernen, bis sie sich in der Unschärfe des Randes verlieren, der die Konstruktion letztlich umspannt (Abb. 3). "Der Künstler führt vor, wie unter Festhalten an einer ursprünglichen Idee ein geregelter Kosmos entsteht, der bei schweifender Aufmerksamkeit chaotische Züge annimmt.“ (Schmitz 1994, S. 21f.) Ausgehend von der flächigen Kontur der Hand scheint sich das Gebilde langsam in den dreidimensionalen Raum zu entwickeln.

Körper und Geist

Kochs faszinierendes Konzept besteht darin, zwei elementare Aspekte menschlicher Wahrnehmung, menschlicher Weltzugangsweisen und menschlichen Seins in seinem künstlerischen Handeln zu erkunden: Die Hand, mit der wir vornehmlich die Welt, die Mitmenschen und die Dinge, das Stoffliche aktiv erfühlen und begreifen, nimmt er zum Anlass, auf nicht direkt zu erfassende nicht-stoffliche Zwischenräume aufmerksam zu machen. Beide Weltzugangsweisen sind sicher gleich bedeutend, denn die eine wäre ohne die andere kaum existent. Der handelnde Umgang mit dem Stofflichen ist mit der Entwicklung der menschlichen Kognition, der Sprachentwicklung und der Aisthetis sowohl in der Ontogenese als auch in der Phylogenese eng verbunden (Leroi-Gourhan 1980, S. 320; Duderstadt 1997, S. 42ff.). Die Arbeit Udo Kochs kann als eine mit denkbar einfachen Regeln spielend erzeugte und zugleich komplexe Parabel für die differenten Wechselbeziehungen und die Balance zwischen dem Physischen und dem Metaphysischen gedeutet werden.

Pädagogische Handlungsoptionen

Koch macht deutlich, dass auch seine Herangehensweise einen von vielen Spielräumen des Möglichen umfasst und lässt dadurch Raum für eigene Experimente, für ein lustvolles Beobachten der eigenen Hand. Kochs Auseinandersetzung mit dem Studienobjekt "Hand“ hat Beispielcharakter, denn sein Arbeitsprinzip lässt sich auf andere Dinge übertragen: Wo vorher nur die positive Form vorhanden war, ist nun der negative Raum außen herum auch ‚sichtbar‘. Dieser Negativraum ist jedoch offen und erfährt seine Begrenzung erst durch die aktive Beobachtung, die einen neuen Rand definiert.

Bildnerisch und künstlerisch Tätige verbinden über die Hand eine Idee mit dem zu gestaltenden Material. Durch die Tätigkeit der Hand wird die Idee allerdings nicht einfach auf das Material übertragen. Erst im Dialog mit dem Material kann eine Intention durch das Werkzeug Hand im Prozess der Vergegenständlichung entwickelt werden (Peez 1996, S. 172f.). Fünf praktische Übungen zur Erkundung der Hand und Wahrnehmungsschulung des Zwischenraumphänomens seien im Folgenden kurz vorgestellt.

 

(1) Das Werkensemble "Hand“ von Udo Koch bietet vielfältige Impulse für die ästhetische Erziehung. Es ermöglicht nicht nur Einblicke in bildnerische Prozesse und Grundlagen zeitgenössischer Kunst, sondern kann Schülerinnen und Schüler auch dazu motivieren, wichtige Wahrnehmungs- und Formprozesse handlungsbezogen und selbstgestaltend zu entdecken und zu hinterfragen. Spannungsreiche Aspekte werden innerhalb eigener gestaltender Tätigkeiten erfahrbar und im Tun reflektiert:

– Erkundung und Experiment,

– Regelhaftigkeit und Regelvariation,

– alte und neue Ordnungen,

– Spiel und Zufall,

– Gestaltung einer Fläche durch die Gestaltung ihres Umraums.

Zwischenräume können überall entdeckt und erkundet werden. Sie können Anlass zur Gestaltung mit unterschiedlichsten Materialien sein.

Durch die Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler für Zwischenräume wird ihnen die Wahrnehmung der Welt-Selbst-Bezüge bewusster. Bisher als selbstverständlich geltende Ordnungen werden in Frage gestellt, Alternativen durchgespielt. Ästhetische Bildung in ihren grundlegenden Formen wird angeregt und erlebbar.

Udo Koch bewegt sich in manchen seiner Werke nicht nur im Bereich der Fläche, sondern auch im Raum, indem er Zwischenräume um eine Achse rotieren lässt. So entstehen bizarre Körper aus Gips, welche sich an die Formen, aus denen sie entstanden, negativ anpassen. Gleichzeitig fällt der irritierte Blick Betrachtender auf die dreidimensionalen, eigenständigen Objekte, die den kompletten Gegenstand verfremdend erweitern (Abb. 8). Gerade im Zeitalter computergesteuerter Drehbänke, die auch Kochs Gipskörper blitzschnell drehen könnten, erscheinen seine selbst gefertigten Gebilde plastisch nachvollziehbar und stehen im Kontrast zu industriell gefertigten Dingen. Kochs Vorgehen mit Schablonen und Gips erleichtert Schülerinnen und Schülern eigene Erkundungen und Gestaltungen von ‚Zwischenraumobjekten‘ und verringert die Distanz zu Arbeitsweisen zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler. 

Abb. 8
Die Räume zwischen den Fingern der linken Hand führen zu den Gipsformen dieses Objekts.
Udo Koch: Hand, 1988/89, Gips und Hartfaserplatte, 17 x 30 x 24 cm

(2) Liegt Kochs Arbeiten die Erkundung des Zwischenraumphänomens mittels der ‚passiven‘, offenen, gespreizten Hand zugrunde, so lässt sich dieses Phänomen auch in der "Geste des Machens“ (Flusser 1991) erfahren und untersuchen. Eine andere Form von Zwischenräumen wird im Pressgriff auf eine Hand voll Ton erfassbar. Ein plastisches Gegenbild als Negativ der Innenhand und der Finger wird hierdurch geprägt (Abb. 9). Durch diesen "primären Zugriff“ (Selle 1988, S. 109) entstehen "kleine ‚Urplastiken'“ (ebd.), die einen völlig anderen Zugang zum Zwischenraumphänomen eröffnen als die runden Gipskörper Udo Kochs. Durch den Druck, den unsere Hände auf das formbare Material ausüben, wird unmittelbar bewusst, wie wir Gegenstände ergreifen, sie ihrer Umgebung entreißen und – selbst während wir mit ihnen ‚spielen‘ – in ihrer Form verändern. "Die Wahrnehmung ist keine unbefleckte Empfängnis.“ schrieb der Medientheoretiker Vilem Flusser. "Sie ist eine gewaltsame, aktive Geste. Sie tut der Welt Gewalt an, denn sie teilt die Welt in ein Gebiet zwischen den Handflächen (das sie annimmt) und in ein anderweitiges Gebiet (das sie zurückweist).“ (Flusser 1991, S. 66) Mittels dieser kurz skizzierten Übung kann eine bedeutende exemplarische Grunderfahrung plastischer Ordnungsfindung eingeübt und variiert werden, die in einem folgenden Schritt den Raum für andere Verfahren der Bearbeitung primär mit den Händen modellierbarer Materialien öffnen kann (Knete, Ton, Modellierwachs).

Abb. 9
Erkundung des Zwischenraumphänomens durch einen Pressgriff auf eine Hand voll Ton.
Aus: Selle 1988, S. 109

(3) Mittels der Hände lassen sich kleine Schattenspiele inszenieren. Ausgangspunkt könnten in der Primarstufe Fabeln oder andere von den Schülerinnen und Schülern selbst geschriebene Kurzgeschichten sein. Mittels eines Overheadprojektors sind recht schnell und unkompliziert die äußeren Rahmenbedingungen für ein solches Schattenspiel geschaffen. Insbesondere lässt sich hierdurch die Variationsbreite der Handgesten erkennen, üben, ausbilden und erweitern. Das Schattenspiel sensibilisiert überdies für die sich sowohl zufällig ergebenden als auch bewusst initiierten Bereiche zwischen den Fingern, die uns beispielsweise die Vorstellung eines Auges oder eines Maules ermöglichen. Peter Jenny zeigt, dass sich das Schattenspiel auch für abstraktere Übungen eignet, die sich jeweils fotografisch dokumentieren lassen (Abb. 10) (Jenny 1996, S. 62ff.).

Abb. 10
Projektionen sensibilisieren für die Bereiche zwischen den Fingern und für die Variationen der Handgesten.
Aus: Jenny 1996, S. 62ff.

Eine Erweiterung und Variation dieser Übung kann sich durch die Bemalung der eigenen und fremden Hände zum Spielen einer kleinen Szene, auch zu Begleitmusik, ergeben. Das Bemaltwerden bzw. Schminken macht die Sensibilität der Haut zusätzlich erfahrbar (Staudte 1989, S. C10). 

Abb. 11
Die formbildenden Gesten der Hand werden im ‚Handeln‘ zu Zeichen.
Aus: Jenny 1996, S. 44

(4) Wie Gesten der Hände zu Zeichen, zu Symbolen und ‚Icons‘ werden, verdeutlichen Übungen des – im wörtlichen Sinne – handelnden Ausprobierens (Abb. 11). Solche Formgebungsversuche sind zugleich zum Verständnis von Abstraktionsvorgängen sehr lehrreich. In der Reduktion vom Komplexen müssen Entscheidungen getroffen werden. Nicht immer muss die Reduktion, die Abstraktion auf das Zeichen eindeutig sein. Eine Handgeste hätte auch jeweils ein anderes abstraktes Zeichen ergeben können. In ihrer Offenheit und Uneindeutigkeit liegt deshalb ein Reiz dieser Übung. In den gestischen Handlungsabläufen lagert ein Repertoire von Zeichen, dessen Möglichkeiten für die Wahrnehmung und die Imagination als unerschöpflich variabel empfunden werden (Jenny 1996, S. 42). So wird die Hand zum uns am nahe liegendsten flexiblen Gestaltungsinstument. 

Abb. 12
Die einzelnen Finger der Hand repräsentieren jeweils einen bestimmten Auswertungsfokus. In diesem Evaluationsverfahren wird der Umriss der eigenen Hand individuell gestaltbar.

(5) Evaluation per Hand

Abschließend soll ein in pädagogischen Kontexten gut einsetzbares Evaluationsverfahren kurz vorgestellt werden, dem nochmals die anthropologische Konstante der Kontur der gespreizten Hand zugrunde liegt, wie beispielsweise bei Udo Kochs Zeichnungen (Abb. 2 und 3) und den paläolithischen Höhlenmalereien (Abb. 7). Um die eigene, auf einem Stück Papier liegende Hand wird der Umriss mit einem Stift nachgefahren. Jeder Finger besitzt in diesem Verfahren eine bestimmte symbolische Bedeutung. Der Daumen steht für das, was positiv ist (‚Daumen hoch‘). Der Zeigefinger weist auf konkrete Änderungswünsche hin. Der Mittelfinger bringt Aspekte, die missfallen, zum Ausdruck (‚F… you‘). Der Ringfinger symbolisiert die Gefühlsanteile, das was einen emotional besonders bewegt. An den Umriss des kleinen Fingers werden die Dinge geschrieben, bei denen man nochmals einhaken möchte (‚Dies kam zu kurz.‘). Nachdem alle Mitglieder einer Schulklasse oder Gruppe ihre gezeichneten Hände gestaltet haben, werden die Blätter gemeinsam an die Wand gehängt und können Anlass für ein Auswertungsgespräch sein. Dieses Verfahren lässt die Beteiligten in der Gestaltung die Aspekte nachvollziehen, für die unser Wahrnehmungs- und Erkenntnisorgan Hand steht: die fundamental komplementäre Beziehung zwischen Denken und Machen bzw. zwischen Körper und Geist.

Literatur

Ammann, Jean-Christophe: Bewegung im Kopf. Vom Umgang mit der Kunst. Regensburg 1993
Anati, Emmanuel: Felsbilder. Wiege der Kunst und des Geistes. Zürich 1991
Blechle, Irene: "Der Schlüssel zur Welt“. Kreativität und Ästhetik in der Materialkollektion der italienischen Reformpädagogin Maria Montessori. In: PÄD Forum 1/1998, S. 63-69
Börner, Franziska/Paditz, o. A.: "Kreativität gegen Aggressivität“ – Schuljugendarbeit an der 58. Mittelschule in Dresden. In: PÄD Forum 2/1998, S. 155-158
Comenius, Johann Amos: Orbis sensualium pictus, 1658, Dortmund 1978
Duderstadt, Matthias: Ästhetik und Stofflichkeit. Weinheim 1997
Duncker, Ludwig: "Handgreiflich“ – "Ganzheitlich“ – "Praktisch“? Grundfragen handelnden Lernens in der Schule. In: Neue Sammlung, 1/1989, S. 59-75
Edwards, Betty: Drawing on the Right Side of the Brain. Los Angeles, USA 1979
Haas, Germaine: Symbolik und Magie in der Urgeschichte. Bern/Stuttgart 1992
Flusser, Vilem: Gesten. Düsseldorf 1991
Gebauer, Gunter: Hand. In: Wulf, Christoph (Hrsg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim/Basel 1997
Jenny, Peter: Das Wort, das Spiel, das Bild. Unterrichtsmethoden für die Gestaltung von Wahrnehmungsprozessen, Stuttgart 1996
Leroi-Gourhan, André: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Frankfurt a. M. 1980
Macho, Thomas: Tier. In: Wulf, Christoph (Hrsg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim/Basel 1997
Mattenklott, Gundel: Berührend berührt. Zur Ästhetik des Tastsinns. In: PÄD Forum, 4/1998, S. 384-389
Münzinger, Wolfgang: Steinzeit in der Schule. Bericht über eine Projektwoche zum Thema "Steine“. In: PÄD Forum 6/1998, S. 589-591
Nickel, Ingo: Produktives Lernen in der Lernwerkstatt Hellersdorf. In: PÄD Forum 4/1998, S. 359-362
Peez, Georg: Pädagogik im Bilde. Skizze zu einigen Metaphern, Mythen und ästhetischen Wurzeln von Pädagogik und Bildung. In: PÄD Forum 2/1996, S. 172-179
Richter, Dirk: Management und Büroorganisation. Handlungsorientierung bei Lehrenden und Lernenden in der vollzeitschulischen Berufsausbildung. In: PÄD Forum 6/1996, S. 551-554
Schmitz, Rudolf: Die Hand, ursprünglich. In: Museum für Moderne Kunst (Hrsg.): Udo Koch. Katalog. Frankfurt a. M./Darmstadt 1994
Schwarz, Arturo: Man Ray. Frankfurt a. M. 1980
Seitz, Hanne: Ästhetische Praxis am eigenen Leib. In: Selle, Gert/Thiele, Jens (Hrsg.): Zwischenräume. Jahrbuch für kunst- und kulturpädagogische Innovation. Oldenburg 1994
Selle, Gert: Gebrauch der Sinne, Reinbek 1988
Staudte, Adelheid: Lehrertext zur Lernhilfe "Bemalte Hand“. In: Kunst + Unterricht, Heft 131, 1979, S. C 10
Welsch, Wolfgang: Grenzgänge der Ästhetik. Stuttgart 1996


Bibliografische Angaben zu diesem Text:

Peez, Georg / Schacht, Michael: Die Zwischenräume begreifen. Ästhetische Zugänge zu unserem elementaren Wahrnehmungs- und Erkenntnisorgan Hand. In: PÄD Forum, Nr. 3, Juni 1999, S. 249 – 255