Georg Peez
Die Kunstpädagogik orientiert sich heute an der zeitgenössischen Kunst (kritisch hierzu: Legler 1998). Gleichzeitig etablieren sich zunehmend Formen des Pädagogischen in der zeitgenössischen Kunst. Gert Selle mutmaßt, dass sich künstlerisches Tun von der Bereitstellung ästhetischer Produkte zum Angebot ästhetischer Tätigkeiten „für Menschen, ‚die ihre Lebenszeit sinnvoll verbringen‘ wollen“ (Selle 1997, S. 14f.), verschieben könnte. Da hierdurch die Grenzen zwischen Gegenwartskunst und Kunstpädagogik zu verschwimmen scheinen, ist es heute für die kunstpädagogische Profession bedeutend, ihre Identität gerade in Hinblick auf solche Formen der Gegenwartskunst zu klären. Der folgende Beitrag entwirft anhand eines Beispiels und auf systemtheoretischer Basis ein Verständnis von Kunstpädagogik, das diese Klärung zu leisten versucht und zugleich die Entgrenzungen zwischen Gegenwartskunst und Kunstpädagogik konstitutiv anerkennt.
Seit Jahren orientiert sich die Kunstpädagogik an der Gegenwartskunst (kritisch zusammenfassend: Legler 1998). Dass sich zugleich in der Gegenwartskunst zunehmend Formen des Pädagogischen etablieren, wird in der Kunstpädagogik jedoch kaum beachtet. Was aber bedeutet diese Entwicklung in der Gegenwartskunst für die Kunstpädagogik?
Abb. 1: Rirkrit Tiravanija: Untitled, 1997 (The Zoo Society) Theaterbühne mit regelmäßigen Aufführungen (Marionetten, Holzbühne, 2,7 x 6,6 x 4 m) |
1. The Zoo Society
Auf dem Gelände des Alten Zoos in Münster, hinter der Westfälischen Schule für Musik, stand im Sommer 1997 unter alten Bäumen eine kleine Marionettentheaterbühne. Diese aus Sperrholz- und Tischlerplatten gezimmerte Freilichtbühne erhielt ihren eher vorläufigen Charakter dadurch, dass sie nicht angestrichen war, sondern ihre Materialbeschaffenheit offenbarte (Abb. 1). Die Puppenspielbühne, die zusätzlich ein kleines Café enthielt, war Teil eines zur Ausstellung „Skulptur. Projekte in Münster 1997“ gehörenden Werkes des 1961 in Buenos Aires geborenen, in Thailand aufgewachsenen und heute in New York lebenden Künstlers Rirkrit Tiravanija (Abb. 2). Sie war der manifeste Teil seines wesentlich komplexeren Werkes, das er für diese Ausstellung konzipierte.
Abb. 2: Rirkrit Tiravanija (geb. 1961 in Buenos Aires, lebt in New York) bei der Arbeit an seinem Projekt „Untitled, 1997 (The Zoo Society)“ |
Während Recherchen im Stadtarchiv stieß Tiravanija auf alte Fotografien, die Szenen von Theateraufführungen der „Abendgesellschaft Zoologischer Garten“ in Münster vor dem Ersten Weltkrieg dokumentieren. Diese Gesellschaft führte auf einer Bühne im Hauptgebäude des damaligen Zoos in regelmäßigen Abständen Laientheaterstücke auf (Tiravanija 1997, S. 420) (Abb. 3). Daraufhin plante Tiravanija, die Abendgesellschaft als „Ereignis“ (Tiravanija 1997, S. 421) für drei Monate im Sommer 1997 „wieder zum Leben zu erwecken“ (Tiravanija 1997, S. 421). „Ich möchte“, so schreibt er, „anstatt Stücke mit lebenden Schauspielern zu inszenieren, die Stücke mit Puppen aufführen. Die gespielten Stücke sollen eine Kombination aus adaptierten Geschichten und Musik sein, (um; G. P.) diese Situation in das moderne Leben der heutigen Stadt Münster (zu; G. P.) integrieren.“ (Tiravanija 1997, S. 421)
Abb. 3 Abendgesellschaft Zoologischer Garten, Münster: Aufführung des Stückes Söffken van Giefenbeck, 1903 |
Der Künstler setzte sein Konzept in die Tat um. Tiravanija veranstaltete mit Schülerinnen und Schülern der Klassen 9 bis 13 des Gymnasiums Paulinum und deren Lehrer verschiedene „Workshops“ (Tiravanija 1997, S. 421) (Abb. 4). Das Stück „Söffken van Giefenbeck“, das bereits die Abendgesellschaft 1896 uraufgeführte hatte, wurde in ein Puppenspiel-Skript übertragen. Die Beteiligten entwickelten die einzelnen Marionetten, sie schufen die Puppen mit deren Kostümen (Abb. 5). Tiravanija steuerte zusätzlich Marionetten aus seiner thailändischen Heimat bei. In einem weiteren Workshop wurden die Kulissen und Requisiten konzipiert und gebaut. Eine Gruppe kümmerte sich um die musikalische Begleitung der Stücke.
Abb. 4 Schülerinnen, Schüler und Manfred Derpmann an der Arbeit zu Rirkrit Tiravanijas Projekt „Untitled, 1997 (The Zoo Society)“ |
2. Kunst an der Grenze zur Pädagogik?
Einige Aspekte des Werkes „Untitled, 1997 (The Zoo Society)“ von Rirkrit Tiravanija lassen sich dem Pädagogischen zuordnen. Diese Grenzüberschreitungen der Kunst in den Bereich der ästhetischen Erziehung finden auf verschiedenen Ebenen statt. (1) Der Künstler muss den Beteiligen seine Grundkonzeption vermitteln. (2) Durch das pädagogische Setting der ‚Workshops‘ vermitteln sich die Beteiligten – unabhängig vom Künstler – in ihrer gemeinsamen Arbeit gegenseitig Kompetenzen und Wissen. (3) Desweiteren bedient sich der Künstler bereits vorhandener pädagogischer Strukturen; er arbeitet mit Schülerinnen, Schülern und deren Lehrer zusammen. Innerhalb der Grundkonzeption haben die Schülerinnen und Schüler Spielräume, eigene Ideen zu entwickeln und auszuführen. Verlauf und Ergebnis des Projekts werden von ihnen mitbestimmt (Abb. 6 – 8). (4) Die Aufführung des Puppenspiels ist nicht ausschließlich als eine selbstreferentielle ästhetische Handlung innerhalb des Kunstsystems anzusehen, sondern sie bezieht sich reflexiv auf kulturelle und historische Aspekte des Ortes der Aufführung. Eine Vermittlung gegenüber dem Publikum von Münster erfolgt mit teils ironischen Mitteln. Das Werk vermittelt u. a. Aspekte zum Phänomen der Konstruktion und Rekonstruktion von Wirklichkeit. Die vermittelnde Absicht kommt ohne den pädagogischen Zeigefinger aus und irritiert mit einer nicht verletzenden Ironie.
Weiteres Indiz für die Entgrenzungen der Kunst zum Pädagogischen hin ist die Verwendung pädagogischer Begriffe.
• Das Werk „Untitled, 1997 (Zoo Society)“ entsteht durch Workshop-Arbeit. In den Worten des Künstlers: „Der Aspekt des Workshops bei dem Projekt: Es ist möglich, daß dort fortlaufend den ganzen Sommer hindurch Aktivitäten stattfinden, daß neue Bühnenbilder und Puppen und Kostüme und Requisiten, die im nächsten Stück gezeigt werden, gemacht werden.“ (Tiravanija 1997, S. 422) „Workshop“ im pädagogischen Sinne ist das unter einer Leitung durchgeführte kurzzeitige Erarbeiten eines Themas in der Gruppe. Es ist eine „Einmalveranstaltung“ (Baer/ Fuchs 1993, S. 87), an dem unterschiedlichste Kompetenzen durch Diskussion sowie praxis- und produktorientiert vermittelt, erarbeitet und weiterentwickelt werden.
• Rirkrit Tiravanija nutzt ebenfalls den Projekt-Begriff (Tiravanija 1997, S. 422), um sein Werk zu charakterisieren. (Bereits die gesamte Schau in Münster führt dieses Wort im Titel.) Der Arbeitsprozess und das angestrebte Ergebnis werden in einem Projekt gleichermaßen geschätzt. Kunstpädagogische Projekte finden in einer kooperationsfähigen Gemeinschaft statt, in der die Einzelnen von den Beiträgen der anderen profitieren (Otto 1994, S. 36).
• Andere künstlerisch Tätige, wie die Geschwister Christine und Irene Hohenbüchler, die im Rahmen ihrer Beteiligung an der documenta X mit geistig Behinderten bildnerisch zusammenarbeiteten, benennen den Ort dieser Kooperation „Kunstwerkstatt“ (Hohenbüchler 1997, S. 770). Werkstattorientierte Pädagogik ist davon geprägt, dass Lernen und Aneignung von Welt als ganzheitliche Prozesse gefördert werden. Die Arbeitsprozesse sind im Gegensatz zu industrialisiertem Arbeiten nicht entfremdet. Den handlungsorientierten Aneignungsprozessen kommt eine entscheidende Bedeutung zu (Kahrmann 1992, S. 13; Sievert 1998, S. 6ff.).
Auch wenn Künstlerinnen und Künstler die Bezeichnungen ‚Workshop‘, ‚Projekt‘ und ‚Werkstatt‘ nicht im pädagogischen Sinne verwenden, gilt in der Kunst wie in der Pädagogik: Den autopoietischen, selbst gesteuerten, kontingenten Arbeits- und Aneignungsprozesse der Beteiligten kommt in Workshop, Projekt und Werkstatt eine große Bedeutung zu.
Im Folgenden soll nicht der Frage nachgegangen werden, wie diese Erweiterung des gegenwärtigen Kunstbegriffs theoretisch einzuordnen ist. Der Blickpunkt meiner systemtheoretisch orientierten Argumentation richtet sich darauf, wie dieses oben exemplarisch beschriebene Phänomen der Entgrenzung zwischen Kunst und Pädagogik aus kunstpädagogischer Sicht einzuordnen ist. Welchen Stellenwert diese Entgrenzungen für das kunstpädagogische Selbstverständnis haben, dass sie für die Kunstpädagogik keine ‚Bedrohung‘ sind, wird abschließend erörtert werden.
3. Vermitteln und Aneignen
Im traditionellen gesellschaftlichen Bewusstsein wird das Verständnis von Pädagogik insgesamt durch das öffentliche institutionalisierte Bildungssystem repräsentiert: Pädagogik findet innerhalb von Schule, Volkshochschule usw. statt. Diese Ordnungsvorstellung, der auch lange die Erziehungswissenschaft stark verhaftet war, lässt sich jedoch nicht aufrechterhalten. Qualitativ-empirische Forschung der letzten Jahre (u. a. Zepf 1990; Mollenhauer 1996; Peters 1996; Peez 1997) verdeutlicht, dass es für die Fortentwicklung der Kunstpädagogik von großem Wert ist, die Vorgänge des Lehrens und Lernens unabhängig von Bildungsinstitutionen als jeweils getrennte Systeme zu differenzieren und neu zu konzipieren. Diese empirischen Befunde werden gestützt durch ein systemtheoretisches Verständnis von Bildung als selbstorganisatorisch zu verstehendem autopoietischem Prozess (u. v. a. Schäfer 1989). „Bildung als Selbstbildung ist eine häufig gezeichnete Figur, die dem Autopoiesis-Gedanken sehr nahe kommt (…) Typisiert gesprochen, also ohne Ansehung der jeweiligen Grenzen einzelner Bildungskonzepte, wird der Bildungsprozeß konzipiert als ein Vorgang, der aufgrund innerer Regeln des Individuums in einem Verhältnis aus innerer Determination, Freiheit und äußerer Determination durch das Individuum als Handlungssubjekt vollzogen wird.“ (Lenzen 1997, S. 954)
Laut einem systemtheoretisch orientierten Entwurf des Erziehungswissenschaftlers Jochen Kade ist die Unterscheidung zwischen der Operation des ‚Vermittelns‘ und der Operation des ‚Aneignens‘ grundlegend für die Darstellung des spezifisch Pädagogischen (Kade 1997). Dieser Ansatz bindet die Bestimmung der Systembildung des Pädagogischen nicht an Institutionen des Erziehungswesens. Die Vermittlung von Kulturaspekten und Wissen ist keine genuine Tätigkeit pädagogischer Professionen, sondern sie erfolgt heute vermehrt durch zahlreiche „Miterzieher“ (Giesecke 1987, S. 9), unterschiedliche gesellschaftliche Institutionen, durch die elektronischen Medien und auch durch situative, ja zufällige Ereignisse (Schäfer 1989).
Das Pädagogische ist demnach „die Praxis des Vermittelns von Wissen an die als Subjekte verstandenen Individuen, und es ist ein Ort, an dem das Vermitteln unterschiedlicher Welten als soziale Praxis unmittelbar geschehen soll.“ (Kade 1997, S. 36) Die institutionsbezogene Ordnungsleistung des sozialen Systems Pädagogik ist angesichts der Notwendigkeit lebenslangen Lernens heutzutage weniger dominant als früher (Kade/ Seitter 1996). Die eigentliche Systembildung des Pädagogischen ist demnach nicht an Institutionen und pädagogische Professionalität gebunden, sondern kann u. v. a. auch in der Clique, im Betrieb, im Büro, beim Zeitunglesen, am Fernsehen, beim Ausstellungsbesuch, in künstlerischen Projekten stattfinden.
Diese Systembildung des Pädagogischen „als Struktur, die soziale Praxis generiert“ (Kade 1997, S. 38) ist allerdings nicht beliebig, sondern lässt sich strukturell über einen spezifischen binären Code bestimmen: „vermittelbar/ nicht-vermittelbar“ (Kade 1997, S. 39). Dieser Code kategorisiert Wissen bzw. bestimmte Kompetenzen und Qualifikationen in einer spezifisch pädagogischen Form; er macht Wissensanteile bzw. Kompetenzen vermittelbar. Dieser Code entscheidet über Lehrinhalte, die das Pädagogische – in welchen sozialen Kontexten auch immer – aufbereitet, und zu vermitteln beabsichtigt. Unterschiedliche Bildungstheorien entwickelten unterschiedliche an ihnen orientierte Handlungs- und Vermittlungsstrategien, welche über Zuordnungen entweder zum positiven Code „vermittelbar“ oder zum negativen Code „nicht vermittelbar“ befinden (Kade 1997, S. 46f.). Das Pädagogische – in welchen Kontexten es auch auftritt – unterscheidet sich durch die Anwendung des Codes „vermittelbar/ nicht-vermittelbar“ von anderen Systemen durch die auf diesen Code bezogene Reflexivität in seinen Vermittlungsbemühungen (Kade 1997, S. 43). Es wäre demnach grundsätzlich weder an Institutionen, Professionen noch an den Erfolg dieser Vermittlungsbemühungen gebunden.
Der Bildungsbegriff bezeichnete seit der Aufklärung eine allgemeine kulturelle Praxis, „nämlich die subjektive Aneignung von Kultur“ (Kade 1997, S. 34; vgl. Lenzen 1997, S. 950). Aneignung findet im autonomen, sich autopoietisch selbst organisierenden Subjekt statt und ist durch Vermittlungsbemühungen zwar beeinflussbar, aber nicht lenkbar oder vorbestimmbar – so lautet eine der ältesten pädagogischen Professionserfahrungen. Aneignung ist demnach nicht Teil des Pädagogischen (Kade 1997, S. 50; vgl. Luhmann 1992, S. 123); wenn sie als pädagogisch lenkbar erscheint, dann nur in der fiktiven Weise des „Als Ob“ pädagogisch Tätiger (Treml 1991, S. 353ff.). D. h. pädagogisch Tätige vermitteln auf der Basis der Annahme, sie könnten Aneignungsprozesse linear – zumindest intentional – lenken.
Zusammengefasst und an traditionelle erziehungswissenschaftliche Terminologien angeglichen, ist mit dem Vorgang des Vermittelns Erziehung bzw. Lehren und mit dem Vorgang des Aneignens Bildung bzw. Lernen gemeint. In unserer pluralen Gesellschaft tritt die Differenz zwischen Vermittlung und Aneignung immer deutlicher hervor (Kade 1997, S. 55). Die Formen biographisch unterschiedlicher Aneignung werden nicht nur bei Erwachsenen anerkannt, sondern auch bei Kindern. Hierauf reagiert die Schuldidaktik, z. B. im Hessischen Rahmenplan ‚Kunst‘ für die Primarstufe: „Schon vor Beginn der Schulzeit haben Kinder in Auseinandersetzung mit ihrer Lebensumwelt ein eigenes Repertoire der zeichnerischen Darstellung entwickelt. Sie sind außerdem in der Lage, sich nicht nur sprachlich sondern auch mimetisch, gestisch und plastisch auszudrücken und mit Farbe zu gestalten. An diese individuellen Ausdrucksmöglichkeiten muß der Kunstunterricht in der Grundschule anknüpfen und die Mädchen und Jungen in der weiteren Differenzierung und kreativen Verwendung dieser ‚Sprachen‘ der Künste unterstützen.“ (Hessisches Kultusministerium 1995, S. 174)
4. Pädagogische Hybride
Neben dem öffentlichen Bildungswesen etablieren sich verstärkt vielfältige soziale Praktiken auch in nicht-pädagogischen Institutionen und Handlungskontexten, „die man dem pädagogischen System weder eindeutig zuordnen noch eindeutig von ihm abgrenzen kann“ (Kade 1997, S. 67). Hier handelt es sich um „diffuse Mischungen von pädagogischen Denkfiguren und Handlungsmustern mit solchen anderer (…; G. P.) Provenienz“ (Kade 1997, S. 67). Diese „pädagogischen Hybriden“ (Kade 1997, S. 68) haben heute Anteil an der pädagogischen Systembildung. Sie sind zwar nicht der Kern des pädagogischen Systems, sie stehen z. T. am Rande des Systems, haben aber keinesfalls eine randständige Bedeutung für das Pädagogische und dessen weitere Entwicklung. Sie sind „Mischungen unter den Bedingungen eines ausdifferenzierten pädagogischen Systems“ (Kade 1997, S. 68).
Erweiterungen und Entgrenzungen in den beiden gesellschaftlichen Systemen Pädagogik und Kunst führen zu Überlappungen und Verschränkungen zwischen diesen beiden Systemen. Das Kunstsystem definiert sich als soziales Kommunikationssystem über den binären Code ‚Kunstwerk/ Nichtkunstwerk‘. Dies ist ein Code, der es erlaubt, die Prozesse des Kontingentwerdens traditioneller Codes, wie z. B. „schön/ hässlich“, „originell/ nicht originell“, „kreativ/ nicht kreativ“, „ausdrucksreich/ ausdrucksarm“, selbst noch einmal beobachtbar zu machen. Der Code „Werk/ Nicht-Werk“ (Treml 1993, S. 47; Roth 1993, S. 157; vgl. Luhmann 1991, S. 62f.) als Leitdifferenz der Kunst hat den Vorteil, dass er flexibel die unterschiedlichsten Phänomene, wie antike Verse, Readymades, Ballettaufführungen, Fotografien, Fettstühle oder Zufallsergebnisse, als Kunst charakterisierbar macht. Hohen Anregungscharakter für die Beteiligten am Kommunikationssystem Kunst hat der Grenzbereich zwischen ‚Kunstwerk‘ und ‚Nichtkunstwerk‘.
Entscheidend für die zunächst irritierende Darstellung und Erklärung des Phänomens der Entgrenzungen zwischen Pädagogik und Kunst, dass beispielsweise das Werk von Rirkrit Tiravanija dem Kunstsystem, aber zugleich auch dem pädagogischen System zuzurechnen ist, ist, dass das Pädagogische – wenn es sich denn so bestimmen ließe, wie oben dargestellt – „durch seine Systembildung sich von dem Anspruch befreit, durch seine Vermittlungsoperationen die Aneignungsoperationen der Adressaten bestimmen zu wollen“ (Kade 1997, S. 57). Das Pädagogische eröffnet hingegen „Möglichkeitsräume“ (Parmentier 1993) für „spezifische Bildungsbewegungen“ (Parmentier 1993, S. 312). Die pädagogischen Einwirkungen legen oftmals die Rahmungen möglicher selbstorganisatorischer Strukturbildungen fest, determinieren aber nicht die Selbstorganisation der Aneignung der Lernenden (Treml 1987, S. 38).
Das von Rirkrit Tiravanija konzipierte Werk „Untitled, 1997 (The Zoo Society)“ ist ein Beispiel für das Phänomen einer „pädagogischen Hybriden“ (Kade 1997, S. 68), die sich im Grenzbereich der bildenden Kunst zum pädagogischen System hin angesiedelt hat. Diese Mischung zwischen pädagogischem System und dem Kunstsystem leistet das Werk u. a. durch die Interaktion von Tiravanija und den Beteiligten am Projekt in der gemeinsamen gestalterischen Arbeit. Dies ist nicht denkbar, ohne dass Tiravanija beispielsweise mit dem Code „vermittelbar/ nicht vermittelbar“ operiert hätte. Konkret: Er musste sich überlegen, warum und wie er den Projektbeteiligten welche bildnerischen Techniken und Verfahren des Puppenspiels vermitteln wollte. Seine Überlegungen musste er in die Tat umsetzten. Hierdurch wurde Tiravanijas Tun Teil des pädagogischen Systems, denn er benutzte den spezifischen Code dieses Systems.
5. Das Spezifikum kunstpädagogischer Professionalität
Wenn so viele Phänomene des Sozialen nach den oben dargestellten Prämissen dem pädagogischen System zuzurechnen sind, stellt sich angesichts dieser dargelegten Entgrenzungsbewegungen die Frage nach dem spezifischen Merkmal kunstpädagogischer Professionalität. Wenn ich mich prinzipiell überall bilden kann, wenn ich mir überall und lebenslang Wissen und Kompetenzen im Künstlerischen aneignen kann, welche Funktion erfüllt dann noch der kunstpädagogische Berufsstand? Mit einer Antwort hierauf, klärt sich zugleich der Unterschied zwischen dem Verständnis des – in Anlehnung an Jochen Kade dargelegten – pädagogischen Systems und dem Verständnis der pädagogischen Profession.
Die pädagogische Profession ist als eine spezifische Form der Beziehung – systemtheoretisch: der strukturellen Kopplung (Treml 1987, S. 38) – von pädagogischem System und biographisch bestimmten psychischen Systemen der Lernenden zu verstehen. Aufgabe der pädagogischen Profession ist es, „die Umwelt des Systems, die Adressaten daraufhin abzuhorchen, zu beobachten, ob und welcher Unterstützung sie bei der autonomen Aneignung von Welt bedürfen.“ (Kade 1997, S. 67) Oder anders gesagt: Spezifische Aufgabe der pädagogischen Profession ist die Reflexion über die konkreten Interdependenzen zwischen Vermittlungs- und Aneignungsprozessen. Die pädagogische Profession muss die Beobachtung zweiter Ordnung leisten können; sie muss das pädagogische System und sich selbst hierin beobachten (Luhmann 1992, S. 103). Der Vorteil einer solchen rekursiven, d. h. selbstrückbezüglichen Beobachtung ist, dass man nicht Appelle formuliert, wie ein Erziehungsprozess auszusehen habe, sondern dass man zu beobachten und zu verstehen versucht, wie das pädagogische System sich angesichts der autopoietischen Aneignungsbedingungen der Adressaten selbst organisiert. (Diese Vorgänge der Beobachtung zweiter Ordnung lassen sich laut Systemtheorie nicht direkt beobachten und beschreiben, sondern nur indirekt durch „Unterscheiden und Bezeichnen“ anhand von Schrift oder Sprache (Luhmann 1991, S. 50ff.).) Nach den hieraus abgeleiteten Erkenntnissen richtet sich dann das professionsorientierte pädagogische Handeln.
Um nochmals zum Eingangsbeispiel zurückzukehren: Das Werk von Rirkrit Tiravanija ist somit zwar in einigen Aspekten zum pädagogischen System zu zählen, weil in ihm der Code „vermittelbar/ nicht vermittelbar“ angewendet wird. Der Künstler gehört allerdings nicht der pädagogischen Profession an, weil es nicht Teil seines professionellen Selbstverständnisses und seines Kommunikationsangebotes gegenüber der Öffentlichkeit ist, über die Autonomie der an seinen Kunstprojekten Teilnehmenden bezogen auf seine eigenen Vermittlungsansprüche und -bemühungen an deren Grenze zu reflektieren. Er denkt und handelt primär in künstlerischen Kategorien. Er strukturiert seine theoretischen Reflexionsleistungen und entsprechend auch sein Handeln in den Kategorien des Diskurses des Kunstsystems. Seine Beobachtung von Beobachtungen und seine Beschreibung von Beschreibungen beziehen sich sprachlich und bildnerisch primär auf das komplexe Netzwerk des Kunstdiskurses. Erst in Beziehung zu diesen Kategorien ist seinen Handlungen und Präsentationen gerecht zu werden und werden diese verständlich. Tiravanija weist seinem Werk auf unterschiedlichen Ebenen, Funktionen innerhalb des Kommunikationssystems Kunst zu. Rekursiv erfolgt dementsprechend die Reflexion über das Werk von Rirkrit Tiravanija kunsttheoretisch. Als selbstorganisatorisches System, das operational geschlossen und energetisch offen ist, nimmt das Kunstsystem dieses Angebot mit seinen Funktionszuweisungen an. Gerade durch die von Tiravanija ausgelöste Irritation an der Grenze zum pädagogischen System erfährt der Künstler Aufmerksamkeit und Akzeptanz im Kunstsystem. Hier findet sich ein Merkmal, das eine Differenz zum Bekannten und Vertrauten auslöst. Der Künstler und sein Werk ist „dabei nur eine Art Irritation der Autopoiesis des Kunstsystems.“ (Treml 1993, S. 51)
Um diese Schlussfolgerungen über das genuine gesellschaftlich unverzichtbare Merkmal von Kunstpädagogik bzw. ästhetischer Erziehung abschließend aus einer anderen Sicht deutlich werden zu lassen, sei auf die elementaren Grundlagen eines Verständnisses von ästhetischer Erziehung rückverwiesen, wie es Hartmut von Hentig vor über dreißig Jahren konturierte: „‚Ästhetische Erziehung‘ heißt Ausrüstung und Übung des Menschen in der Aisthesis – in der Wahrnehmung.“ (v. Hentig 1967/1987, S. 71) Drei Aspekte der Vermittlungsabsichten ästhetischer Erziehung benannte von Hentig konkret: (1) Wir sollten den Festlegungen in unserer Wahrnehmung, z. B. durch Sprache, Vorurteile und Gewohnheiten, gewahr werden. (2) Bisher versäumte Ausweitungen der Wahrnehmung sollten aktiv und gestaltend erkundet werden. (3) Die Notwendigkeiten dieser Wahrnehmungserkundungen sollten in ihren Bedeutungen untersucht und begründet werden (v. Hentig 1967/1987, S. 71, 75). Während die ersten beiden Punkte auch von Angeboten des Kunstsystems geleistet werden können, markiert der dritte Punkt das genuine Merkmal kunstpädagogischer Professionalität.
Literatur
Baer, Ulrich/ Fuchs, Max u. a.: Methoden und Arbeitsformen der Kulturpädagogik. Unna 1993Giesecke, Hermann: Pädagogik als Beruf. Grundformen pädagogischen Handelns. Weinheim u. a. 1987
Hentig, Hartmut von: Ästhetische Erziehung im Politischen Zeitalter (1967). In: Hentig, Hartmut von: Ergötzen, Belehren, Befreien. Schriften zur ästhetischen Erziehung. Frankfurt a. M. 1987
Hessisches Kultusministerium (Hg.): Rahmenplan Grundschule. Ästhetische Bildung: Kunst. Wiesbaden 1995
Hohenbüchler, Christine/ Hohenbüchler, Irene: „Multiple Autorenschaft“. In: documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH (Hg.): Das Buch zur Documenta X. politics-poetics. Kassel/ Stuttgart 1997
Kade, Jochen: Vermittelbar/ nicht vermittelbar: Vermitteln: Aneignen. Im Prozeß der Systembildung des Pädagogischen. In: Lenzen, Dieter/ Luhmann, Niklas (Hg.): Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem. Frankfurt a. M. 1997
Kade, Jochen/ Seitter, Wolfgang: Lebenslanges Lernen. Mögliche Bildungswelten. Opladen 1996
Kahrmann, Klaus-Ove: Das Prinzip Werkstatt. In: Kunst + Unterricht, Heft 161, 1992, S. 14-19
Legler, Wolfgang: Kunsterziehung nach dem Ende der Kunst? In: BDK-Mitteilungen 4 / 1998, S. 2-10
Lenzen, Dieter: Lösen die Begriffe Selbstorganisation, Autopoiesis und Emergenz den Bildungsbegriff ab? In: Zeitschrift für Pädagogik, Nr. 6, 1997, S. 949-968
Luhmann, Niklas: Die Welt der Kunst. In: Zacharias, Wolfgang (Hg.): Schöne Aussichten? Ästhetische Bildung in einer technisch-medialen Welt. Essen 1991
Luhmann, Niklas: System und Absicht der Erziehung. In: Luhmann, Niklas/ Schorr, Karl Eberhard (Hg.): Zwischen Absicht und Person. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt a. M. 1992
Mollenhauer, Klaus: Grundfragen ästhetischer Bildung. Weinheim u. a. 1996
Otto, Gunter: Projekte in der Fächerschule? In: Kunst + Unterricht, Heft 181, 1994, S. 35-37
Parmentier, Michael: Möglichkeitsräume. Unterwegs zu einer Theorie der ästhetischen Bildung. In: Neue Sammlung, Heft 2, 1993, S. 303 – 314
Peez, Georg: „Nach mehreren Jahren des Vakuums …“. Eine monographische Fallstudie zur ästhetischen Praxis von Laien mit Hilfe des „objektiv-hermeneutischen“ Forschungsverfahrens. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, 1, 1997, S. 85-99
Peters, Maria: Blick, Wort, Berührung. München 1996
Roth, Gerhard: In das Wahrnehmungssystem dringt nur das ein, was nicht zu erwarten war. In: Kunstforum International, Bd. 124, 1993, S. 152 – 157
Schäfer, Gerd E.: Der überraschte Pädagoge. Unstetige Prozesse in der Erziehung. In: Neue Sammlung, Nr. 1, 1989, S. 36-48
Selle, Gert: Welche Kunstpädagogik ist notwendig? In: BDK-Mitteilungen, 4/ 1997, S. 12-16
Sievert, Adelheid: Kunstwerkstatt. In: Die Grundschulzeitschrift, Heft 118, Oktober 1998, S. 6-11
Tiravanija, Rirkrit: Untitled, 1997 (The Zoo Society). In: Bußmann, Klaus u. a. (Hg.): Skulptur. Projekte in Münster 1997. Münster/ Ostfildern 1997
Treml, Alfred K.: Einführung in die Allgemeine Pädagogik. Stuttgart 1987
Treml, Alfred K.: Über die beiden Grundverständnisse von Erziehung. In: Oelkers, Jürgen u. a. (Hg.): Pädagogisches Wissen. 27. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik. Weinheim u. a. 1991
Treml, Alfred K.: Ästhetik der Differenz. In: Niedersen, Uwe/ Schweitzer, Frank (Hg.): Selbstorganisation. Band 4. Ästhetik und Selbstorganisation. Berlin 1993
Zepf, Irmgard: Miniaturen. Vorschule der Didaktik. Lernen mit Lernenden. In: Selle, Gert (Hg.): Experiment Ästhetische Bildung. Aktuelle Beispiele für Handeln und Verstehen. Reinbek 1990
Abbildungslegenden
Abb. 1: Rirkrit Tiravanija: Untitled, 1997 (The Zoo Society) Theaterbühne mit regelmäßigen Aufführungen (Marionetten, Holzbühne, 2,7 x 6,6 x 4 m)Abb. 2: Rirkrit Tiravanija (geb. 1961 in Buenos Aires, lebt in New York) bei der Arbeit an seinem Projekt „Untitled, 1997 (The Zoo Society)“
Abb. 3 Abendgesellschaft Zoologischer Garten, Münster: Aufführung des Stückes Söffken van Giefenbeck, 1903
Abb. 4 Schülerinnen, Schüler und Manfred Derpmann an der Arbeit zu Rirkrit Tiravanijas Projekt „Untitled, 1997 (The Zoo Society)“
Abb. 5 Eine der im ‚Workshop‘ entwickelten Marionetten im Kontext von Rirkrit Tiravanijas Projekt „Untitled, 1997 (The Zoo Society)“
Abb. 6 – 8 Schülerinnen und Schüler entwickeln das Marionettenspiel innerhalb von Rirkrit Tiravanijas Projekt „Untitled, 1997 (The Zoo Society)“
Bibliografische Angaben zu diesem Text:
Peez, Georg: Kunst an der Grenze zur Pädagogik. In: BDK-Mitteilungen, Fachzeitschrift des Bundes Deutscher Kunsterzieher e. V., 3 / 1999, S. 12 – 16