Eine aktuelle Bestandsaufnahme: Bild – Kunst – Subjekt
Georg Peez
Derzeit werden unterschiedliche didaktische Konzepte in der Kunstpädagogik diskutiert, denn wir erleben eine Phase des Umbruchs, in der Kunstpädagogik neu entworfen wird. Vorbei sind die Zeiten der 1980er Jahre, in denen sich das Fach weitgehend unter der einheitsstiftenden Formel „Ästhetische Erziehung“ zusammenfassen ließ. Gunter Otto und Gert Selle waren in den 1990er Jahren die Vorreiter einer Polarisierung des kunstpädagogischen Feldes: Hierbei ging es um die zugespitzte Alternative, ob sich die Kunstpädagogik an der zeitgenössischen, avantgardistischen Kunst (Selle) oder in viel weiterem Sinne allgemein an Bildern (Otto) orientieren solle.
(1) Heute lässt sich auf Seiten der "Bildorientierten" eine Weiterentwicklung der Positionen Gunter Ottos (Otto/ Otto 1987; Otto 1995) im Medienzeitalter in der Weise nachzeichnen, dass eine Öffnung des Faches für alle Bilder letztlich nicht mehr zurückgedreht werden dürfe. Ästhetische Erziehung zielt demnach auf eine "visual literacy", auf die Förderung der Bildlese-Kompetenz in (inter-) kulturellen Kontexten, mit der vor allem die Notwendigkeit der Kunstpädagogik im Fächerkanon der Schule zentral begründet wird (Niehoff 2003; Kirschenmann 2003; Bering/ Heimann/ Littke/ Niehoff/ Rooch 2004).
(2) In Opposition hierzu etablierte sich in den letzten Jahren eine Bewegung, die das Ende des "ottonischen Zeitalters" propagiert, und eine "künstlerische Bildung" proklamiert (Buschkühle 2003; Kettel u. a. 2004; Regel 2004). Sie richtet Kunstpädagogik verstärkt an der Kunst, nicht mehr am "Bild" und an der (Schul-) Pädagogik aus. Vor allem ist der erweiterte Kunstbegriff von Joseph Beuys zukunftweisend (Buschkühle 1997) – wie bereits für den Vorreiter Gert Selle ab den frühen 1990er Jahren (Selle 1994; Selle 1995). Die ‚Kunstorientierung‘ zielt darauf, subjektorientierte "Lebenskunst" oder eine "Ästhetik der Existenz" zu fördern.
(3) Es ist zudem gute alte reformpädagogische sowie kunstpädagogische Tradition, sich am Kind – allgemeiner gesagt: am Subjekt – zu orientieren und das eigene Handeln mit diesem Bezug zu begründen. Unübersehbar enthalten die Ideen von Joseph Beuys bereits diesen Aspekt. Unter diesem Vorzeichen der Subjektorientierung entwickeln sich seit wenigen Jahren Konzepte, die die individuelle Lebensgeschichte (Blohm 2002; Sabisch/ Seydel 2004) und das subjektive ästhetische Forschen (Kämpf-Jansen 2001) mit auffallend vielen biografischen Anknüpfungspunkten in den Mittelpunkt bildnerisch-ästhetischer Praxis und Rezeption stellen.
Wir sind Zeugen einer Gliederung des kunstdidaktischen Feldes in kontroverse, sich freilich teils überschneidende Konzepte, die meist jeweils mit einem Namensetikett versehen werden. Diese angesprochenen aktuellen Positionen werden im Folgenden konturiert.
Bild
Angesichts der zunehmenden Präsenz medialer Bilder erklärte Henning Freiberg ab Mitte der 1990er-Jahre die Kunstpädagoginnen und Kunstpädagogen in den allgemein bildenden Schulen als die "Experten für das Bild und die damit verbundenen Ästhetisierungsprozesse" (Freiberg 1995, S. 22). Freiberg griff hierfür direkt und indirekt auf Grundideen Gunter Ottos zurück, die dieser bereits 1987 in seinen Buch mit dem Titel "Auslegen. Ästhetische Erziehung als Praxis des Auslegens in Bildern und des Auslegens von Bildern" festhielt (Otto/ Otto 1987). Schon im Titel wird deutlich: Kunst spielt bei Otto eine so marginale Rolle, dass sie keine Erwähnung findet. Auslegungsprozesse anhand von Bildern sind hingegen zentral. Ziel der Auslegungsprozeduren ist das Verstehen, das Lesen von Bildern (Otto/ Otto 1987, S. 29ff.). Künstlerische Äußerungen sind ein Teil der Bilder-Welten und werden letztlich so wie alle anderen Bilder auch rezipiert.
Der Kunstlehrer Martin Zülch argumentiert mit Kolleginnen und Kollegen zusätzlich zur Bilderflut-Begründung bildungspolitisch: Durch stetige Stundenreduzierungen und -ausfälle, sei das Fach in seiner Existenz gefährdet. Um diese bedrohliche Entwicklung abzuwenden und um die "Notwendigkeit des Schulfaches Kunst" (Zülch 2000, S. 4) gegenüber der Öffentlichkeit zu begründen, geht Zülchs Argumentation zudem bildungshumanistisch von der Beziehung zwischen dem Bild, der hierdurch geforderten "Bildkompetenz" einerseits und der Bildung im Sinne einer Allgemeinbildung andererseits aus: "Bild" und "Bildung" seien aufeinander angewiesen. Bildung ohne Bilder sei nicht möglich (Zülch 2000, S. 4). Bildung setze deshalb das Bild voraus, die visuelle Präsenz als anschaulich einprägsames Moment menschlichen Denkens und Handelns. Sowohl die Zeitschrift "Kunst+Unterricht" wie auch der "Fachverband für Kunstpädagogik, BDK" machten sich diese Thesen zur Bildorientierung des Faches zueigen; letzterer 2001 in einem Positionspapier (http://www.bdk-online.info).
Abb. 1 a u. b Bildexpertentum in der Kunstpädagogik bedeutet, den historischen und aktuellen Bildern in Kunst und Medien nachzuspüren, Korrelationen und Differenzen zu reflektierten. Hier: Caspar David Friedrich (1774-1840): Eismeer. Die gescheiterte Hoffnung, 1821, Öl auf Leinwand, Hamburg Kunsthalle und Überreste des World Trade Centers, New York nach dem Anschlag am 11. September 2001. |
Die Resolution des großen kunstpädagogischen Kongresses "Generationengespräch" in München titelte ähnlich: "Bildung ohne Bilder bildet nicht" (Kirschenmann/ Wendrich/ Zacharias 2004, S. 448). Auch die Kongressresolution geht von dem inflationären Gebrauch der Bilder in der medial bestimmten Gegenwart aus. Vom Bildgebrauch würden zweifellos Weltaneignung und Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen maßgeblich geprägt. Hierdurch ergebe sich ein ständig wachsender Bedarf an "Bildkompetenz". "’Visuelle Kompetenz‘ meint eher die rezeptive, d. h. die erlebnishafte, analysierende und deutende Auseinandersetzung mit visuellen Gestaltungen unter Einbeziehung der räumlichen und haptischen Erfahrung, während der Begriff ‚Bildkompetenz‘ auch den produktiv-gestalterischen Aspekt einbezieht." (Bering/ Heimann/ Littke/ Niehoff/ Rooch 2004, S. 9) (Abb. 1 a u. b) Insofern müsse ästhetisches Lernen als unverzichtbares Element allgemeiner Bildung inzwischen eigentlich zu den Basisqualifikationen neben Lesen, Schreiben und Rechnen gezählt werden. Auch die Nachfolge-Tagung zum "Generationengespräch" in Leipzig beruft sich in ihrer Ausschreibung auf "das Projekt einer allgemeinen Bildung" (BDK-Mitteilungen 4/ 2004, S. II) sowie auf die "Erbschaft der Aufklärung und des Humanismus (Hegel, Humboldt)". Doch gelänge es tatsächlich, die "Bildkompetenz" im schulischen Bildungskanon als Basisqualifikation zu verankern, müsste sich freilich – etwas weiter gedacht – auch das Schulfach "Kunst" international vergleichenden Wirkungsforschungen stellen.
Da der Bezug auf das "Bild" schon bei Gunter Otto (Otto/ Otto 1987, S. 19ff.) zu kurz griff (Peez 2 2005, S. 24) und deshalb von einem erweiterten Bildbegriff ausgegangen werden muss, spricht man jetzt pluraler von einer "Bild- und Darstellungskompetenz (produktiv und rezeptiv, kontemplativ und aktiv)" (Kunst+Unterricht 279/ 2004, S. 45; Kirschenmann/ Wendrich/ Zacharias 2004, S. 448). Das Bild – im "iconic turn", "pictural turn" oder "pictorial turn" häufig als Abbild recht eng ausgelegt – gewinnt durch den gegenwärtigen "performativ turn" eine stärker anthropologische Gewichtung: Denn der "performativ turn" betont, wie Menschen mit Bildern umgehen, wie sich Menschen die Bilder teils mimetisch im Zusammenspiel zwischen Bild, Körper und Medium aneignen, wann Bilder im performativen Sinne zu Ereignissen werden (Schuhmacher-Chilla 2004; Bering/ Heimann/ Littke/ Niehoff/ Rooch 2004, S. 114ff.). Neben oder anstelle des Prozessbegriffs wird in der Kunstpädagogik seit einigen Jahren verstärkt von Performance oder performativen Verfahren gesprochen. Performative Akte sind in diesem Sinne Handlungen, deren existenzielle Wirklichkeit in ihrem momentanen Vollzug liegen, Handlungen, die nicht ohne Verlust ihres situativen Charakters in ein anderes Medium übersetzbar sind. Happenings und Aktionen von Joseph Beuys waren in diesem Sinne wegweisend (Bering/ Heimann/ Littke/ Niehoff/ Rooch 2004, S. 172ff.).
Damit die Kunst, vor allem die Gegenwartskunst, nicht argumentativ aus dem Blick der Kunstpädagogik gerät, wird sie der Kategorie "Bild" zugeordnet: In der Kunst werde der Umgang mit bildnerischen Mitteln versiert eingeübt. Die bildende Kunst sei deshalb "Grundlage künstlerischer Bildgestaltung" sowie Basis für reflexive und praktische "Bildrezeption" (Kirschenmann 2002, S. 37). Letztlich sei die Markierung "Kunst" lediglich eine Zuschreibung für einige Bilder. Diese kulturelle Zuschreibung könne sich historisch oder unter wechselnden Kriterien und Umgangsformen ändern, weshalb das "Bild" die Leitkategorie für die Kunstpädagogik sein müsse. "Es gibt viele Bilder; ein verschwindend kleiner Teil davon sind Kunstwerke." (Billmayer 2003, S. 2)
Kunst
Gegen diese ‚Unterordnung‘ der Kunst wenden sich die Anhänger der so genannten Künstlerischen Bildung. Ihr Ansatz besticht durch eine konsequente Abkehr von der bisherigen Mainstream-Fachdidaktik. Bereits das Konzept Gert Selles in den 1990er-Jahren zeichnete sich durch die weitgehende Ablehnung der Fachdidaktik aus. Selle selbst sieht sich als ‚Künstler-Didaktiker‘, der sein Denken und Handeln als ‚kunstanalog‘ begreift und "nach angemessenen Beschreibungen ästhetischer Erfahrungsarbeit in Vermittlungsprozessen" (Selle 1998, S. 103) sucht. Im Gegensatz zu primär pädagogisch Denkenden und Handelnden gibt er den assoziativ aneinander gefügten Theoriefragmenten, den "flüchtigen, liquiden Konstrukten" den Vorzug, welche "weich, flüssig, gleichsam auf Körpertemperatur der Erfahrung und des aktuellen Denkens gehalten werden" (Selle 1998, S. 103). Die bewusste Nähe zu Beuys’schen Metaphern wird auch deutlich, wenn Selle sagt, der "erfahrungsnahe, offene Begriff" sei für ihn ein "plastisches Instrument" (ebd.).
Mit der "Begründung der Kunstdidaktik aus der Kunst heraus" wird es Ziel, "künstlerische Formen des Denkens in kunstdidaktischen Prozessen auszubilden, die künstlerische Handlungsweisen praktizieren" (Buschkühle 2003, S. 19). Bereits an diesem kurzen Zitat wird deutlich, welch zentrale Rolle die Kunst in dieser Argumentation spielt. Durch die Öffnung und Erweiterung des Kunstbegriffs verschließt sich die Künstlerische Bildung zugleich nicht dem weiten Feld des Ästhetischen, nicht den pluralen Gegenstandsbereichen des Faches Kunst. Denn unter dem erweiterten Kunstbegriff kann man sich auf praktisch ‚alles‘ beziehen. Kunstpädagogik, auch als Schulfach, solle deshalb nicht vom Bild, den bildgenerierenden Medien oder vom Ästhetischen her gedacht werden, so wichtig diese Aspekte sein mögen. Sondern Künstlerische Bildung meint die Etablierung von Theorie und Praxis künstlerischer Denk- und Handlungsweisen im Bildungsgeschehen (ebd., S. 25). Genau diese Form der Erweiterung des Kunstbegriffs in andere gesellschaftliche Bereiche hinein, war Leitmotiv von Joseph Beuys. Die Bildungschancen, die die unterschiedlichsten Formen der Auseinandersetzung mit Kunst gegenwartsorientiert bieten, sollen genutzt werden. Kunstdidaktik ist als Kunst, bzw. als "kunstanaloger Prozess" (Regel 2004, S. 42) zu denken und zu betreiben (Kettel u.a. 2004).
Der Mensch steht hierbei im Mittelpunkt aller Bemühungen – sowohl schulisch als auch außerschulisch – , nicht die Kunst selbst, denn der Mensch ist "die entscheidende Gelenkstelle für den Übergang von der Kunst zum Leben" (Buschkühle 2003, S. 24). Ziel ist somit im Rückgriff auf antike Vorstellungen eine plural konturierte "Lebenskunst", die Selbstsorge und Selbstverantwortung des Individuums. "Lebenskunst ist zunächst nichts weiter als die fortwährende Gestaltung des Lebens und des selbst. Das Leben erscheint dabei als Material, die Kunst als Gestaltungsprozess." (Schmid 2003, S. 47) Letztlich geht es auch hier um humanistische Perspektiven, um die Entwicklung der Persönlichkeit, die neben der kognitiven Intelligenz Anspruch erhebt auf die Ausbildung ihrer ethisch-moralischen und ästhetischen Anteile.
Abb. 2 a u. b Beispielhafte Künstlerische Bildung: Versuchsaufbau zum "Handmonitor" aus festerem Papier: "1. Nutzen Sie den Bildschirm als Handbildschirm zur Beobachtung der eigenen Hand. Zum stillen, beobachtenden Sehen sind 5 Minuten absoluter Ruhe und Konzentration notwendig. Beobachten Sie zuerst nur eine Hand, nehmen sie nach einiger Zeit die zweite hinzu. 2. Halten Sie Eindrücke, Beobachtungen, Gedanken schriftlich fest. Die Textform ist freigestellt. Ein Zeitraum von 10 Minuten steht Ihnen dafür zur Verfügung." (Zaake 2003, S. 299f.) |
In den kunstpädagogischen
Hochschulstudiengängen hatte sich diese Perspektive durch den Einfluss
Gert Selles (Selle 1988) bereits lange vor den Ansätzen der Künstlerischen
Bildung vielfach, ja fast flächendeckend ausgewirkt: Kunstpädagogik-Studierende
sollen selbst Künstlerinnen und Künstler sein, um eine kunstgemäße
Bildung am eigenen Leibe zu erfahren und dementsprechend später vermitteln
zu können. Kunstdidaktik wurde an der Hochschule immer stärker
zu einer Kunstlehre, die mit dem späteren Arbeitsfeld schulischer Kunstunterricht
inzwischen kaum noch etwas zu tun hat. Die erste Zeit des Referendaritats
ist nicht selten vom „Praxisschock“ gekennzeichnet. Der immer
wieder zu hörende Vorwurf an die Künstlerische Bildung des Fehlens
überzeugender Praxisbeispiele für alle Schulstufen und Schularten
ist – wie bei Selles Ansatz – nicht ausgeräumt, auch wenn vereinzelt
exemplarische Unterrichtseinheiten vorgelegt werden (Pädagogische Hochschule
Heidelberg 2003; Kettel u.a. 2004) (Abb. 2a u. b).
Systemisch gedacht können Kunst und Pädagogik jedoch nie ineinander
aufgehen, weil sie nach sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Regeln
und völlig differenten Zielen ausgerichtet sind. Ganzheitlich gedacht
können Kunst und Pädagogik durchaus zueinander finden, vielleicht
sogar punktuell miteinander verschmelzen.
Als eine Vermittlung zwischen beiden Positionen mag die Argumentation von Johannes Kirschenmann – einem ‚Bild-Orientierten‘ – angesehen werden: Der eine Pol der Kunstpädagogik ist von der Klärung und Sicherheit in den bildnerischen Mitteln, vom bildsystematischen Denken und den Methoden der Bildanalyse gekennzeichnet. Dieser Pol bezieht sich also primär auf die "Visuelle Kompetenz" bzw. "Bildkompetenz". Der andere Pol der Kunstpädagogik ist geprägt von "Irritation", dem Erkennen von Neuem "durch ein Verrücken des Bekannten zum Unbekannten" sowie vom künstlerischen Prozess (Kirschenmann 2002, S. 37f.). Hier wird der Kunstbezug deutlich, der von Widerständigem, konstruktiven und dekonstruktiven Verfahren sowie unkonventionellem Denken geprägt ist.
Subjekt und Biografie
Aufgrund des erweiterten Kunstbegriffs und der Orientierung am einzelnen handelnden Subjekt findet innerhalb der gegenwärtigen Kunstpädagogik eine Öffnung auf alle Fragestellungen hin statt, die für die einzelne Schülerin, den einzelnen Schüler relevant sind. ‚Alles‘ kann in diesem Sinne bildnerisch untersucht und bearbeitet werden. Dieser Punkt ist zentral für das Konzept der "Ästhetischen Forschung" von Helga Kämpf-Jansen (Kämpf-Jansen 2001). Ästhetische Forschung kann sich auf alle real gegebenen wie fiktiv entworfenen Dinge, Objekte, Menschen und Situationen beziehen. Sie nutzt alle zur Verfügung stehenden Verfahren, Handlungsweisen und Erkenntnismöglichkeiten aus den Bereichen der Alltagserfahrung, der Kunst und der Wissenschaft.
Ästhetische Bildung als wahrnehmende und erkundende Zuwendung zur Welt und zum Selbst lässt sich zweifellos nicht auf Kunstunterricht begrenzen, sondern durchdringt alle Lebensbereiche. Ästhetische und kulturelle Selbstbildungsprozesse können jedoch kunstpädagogisch angeregt und gefördert werden. Weil sich ästhetische Bildung durch das Merkmal des Erkundens einer selbst gewählten Thematik auszeichnet, liegt der Begriff der "Ästhetischen Forschung" nahe. Die anthropologisch fast selbstverständliche Nähe der Ästhetischen Forschung zu menschlicher Welt- und Selbsterkundung wird hierdurch betont. Denn der Ansatz fügt sich fast nahtlos in bisherige alltägliche Praxis der Menschen ein, die bewusst, teils experimentell wahrnehmen und erkunden. Kinder tun dies z. B. tagtäglich, Künstlerinnen und Künstler der Gegenwart ebenfalls. Im Mittelpunkt dieses Ansatzes steht das Ziel, in selbstgewählten thematischen Projekten ästhetische Erfahrungen (Kämpf-Jansen 2001, S. 157f.) zu ermöglichen (nicht Kunst zu machen), und zwar mithilfe künstlerischer Strategien und aktueller Kunst als Anregungspotenzial. In der Schule geschieht dies in einem werkstatt-ähnlich arrangierten Raum (Nitsch 2000; Kämpf-Jansen/ Neuhaus 2004).
Der Ästhetischen Forschung gelingt es, die zwei sich fast polar gegenüberstehenden Ansätze im Bereich der Kunstpädagogik miteinander zu verbinden, indem sie die innovativen Potenziale aus beiden Ansätzen nutzt. Zum einen bezieht sich Ästhetische Forschung auf Elemente von so genannten kunstnahen, ästhetischen Projekten, die vor allem von Gert Selle (z. B. Selle 1988; Selle 1998) entwickelt wurden. Und zum anderen gibt sie den aufklärerischen Anspruch ästhetischer Bildung nicht auf, wie er insbesondere von Gunter Otto immer wieder betont wurde und wie er auch Kämpf-Jansens frühere Tätigkeiten prägte. Dieser Anspruch manifestiert sich im Begriff "Forschung". In dieser Verbindung liegt die Bedeutung der Ästhetischen Forschung für die Kunstpädagogik in Theorie und Praxis – freilich ohne dass sie eine Synthese aus beiden Konzepten sein will.
Abb. 3 a u. b Beginn einer Ästhetischen Forschung zu einem Yorkshire Terrier mit starker biografischer Gewichtung: Daniela Neuhaus "begibt sich auf den Weg der Erinnerung und sucht in Familienalben alle Bilder, auf denen die Foxterrierhündin Glenda abgebildet ist. Sie findet eine Vielzahl typischer Erinnerungsfotos wie ‚Kinder mit Hund‘, ‚Hund und Familie‘ sowie Fotos von den Kinder- bzw. Jugendzimmern ihrer Schwester und ihr. Sie zeigen, wie stark der Hund auch die Auswahl aller anderen Bilder und Poster beeinflusst hat, denn die Zimmer sind voller Hunde-Bilder: Neben den Fotos des eigenen Hundes gibt es eine Sammlung von Kalenderblättern, Postern, Postkarten und Bildern aus Hundezeitschriften." (aus Kämpf-Jansen/ Neuhaus 2004, S. 108) |
Ästhetische Forschung kann nur mit einem Anschluss an die Biografie des jeweils ästhetisch tätigen Menschen gelingen (Kämpf-Jansen 2001, S. 169) (Abb. 3a u. b). Es geht im Kunstunterricht demnach keinesfalls um die Erfüllung von Aufgaben, die sich Lehrende – meist in sicherlich guter erzieherischer Absicht – ausdachten. Sondern alle Heranwachsenden sollten ihre Aufgabenstellung als Grundlage ihrer ästhetischen Forschung selbst finden, was sich allerdings nicht mit den gegenwärtigen kultusbürokratischen Lehrplänen verträgt. In dieser Linie mit der konsequenten Subjektivierungstendenz gegenwärtiger Kunstpädagogik steht die Beachtung biografischer Prozesse im Kunstunterricht. Im Kontext ästhetischen Lernens in der Schule wurden bisher biografische Anteile ästhetischer Lern- und Erfahrungssituationen meist zwar nicht geleugnet, ihnen wurde andererseits aber auch kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Jede Form ästhetischer Erfahrungsarbeit, so Manfred Blohm, sei biografisch verankert, es gäbe keine ernstzunehmende ästhetische Praxis ohne biografische Anteile (Blohm 2002). Auch in diesem Punkt ist das Werk von Joseph Beuys richtungsweisend. Dem Ansatz der Ästhetischen Forschung gleich gerät im Rahmen der Biografieorientierung die Kunst erst in einem zweiten Schritt in den Blick, und zwar dort, wo nach Verfahren und Strategien Ausschau gehalten wird, wie ein Biografiebezug bildnerisch-ästhetisch be- und verarbeitet werden kann; etwa mittels Spurensicherung, seriellem Arbeiten, Verfremdung von Alltäglichem (Kunst+Unterricht 270/ 2003 „Das Unbekannte im Bekannten“). Die Unterrichtsmethoden hierfür sind meist projekt- oder werkstattorientiert.
Biografie meint in diesem Kontext wesentlich mehr als die tagebuchähnliche Rekonstruktion oder Dokumentation von Lebensläufen mit bildnerischen Mitteln. Biografiearbeit ist als eine prozesshafte lebenslange Aufschichtung und Verschiebung von auch ästhetischen Erfahrungen zu verstehen. Sie schließt fiktive und fantastische Entwürfe ebenso ein, wie die selbstbezügliche Auseinandersetzung mit Lebensgeschichten anderer, also auch mit historischen Fragestellungen. Durch die Thematisierung und Bearbeitung von Erfahrungen lassen sich zweifellos Lernbezüge herstellen, eine wichtige Legitimation zur Verortung der Biografieorientierung im schulischen Kunstunterricht: Übergeordnete (Lern-) Ziele der Biografieorientierung sind, biografische Strömungen zu erkennen, diese beeinflussen zu können und im eigenen Leben soweit wie möglich selbst zu bestimmen (Sabisch/ Seydel 2004, S. 4).
Resümee
Bildorientierung, Künstlerische Bildung, Biografieorientierung oder Ästhetische Forschung. Welches der Konzepte ist in welchen schulischen und außerschulischen Kontexten wirkungsvoll und sinnvoll? Nicht die Ideologisierung der kunstdidaktischen Diskurse tut Not, sondern die empirische Evaluation und Weiterentwicklung der Modelle in der Praxis. Wirkungen der so unterschiedlichen Konzepte sollten meines Erachtens nicht nur behauptet, sondern vor allem nachgewiesen werden – parallel zu den wichtigen Bezügen zu anderen empirischen Wissenschaften, etwa der Hirnforschung oder der Kommunikationspsychologie. Dieser Schritt der Wirkungsforschung ist nach innen notwendig, um die Konzepte zu optimieren und praxistauglicher zu gestalten, aber auch nach außen. In der heutigen Zeit wird Evaluationsforschung erwartet und gefordert, wenn das Fach "Kunst" im interdisziplinären Diskurs ernst genommen werden will. Hiervon ist die Kunstpädagogik jedoch trotz einzelner empirischer Studien (z. B. Peez 2 2002; Brenne 2003; Uhlig 2003; Mohr 2004; Peez/ Schacht 2004; Peez 2005; Seydel 2005) noch recht weit entfernt.
Bildorientierung, Künstlerische Bildung, Biografieorientierung oder Ästhetische Forschung. Woran soll man sich heute halten? Auch für Insider erscheinen die fixierten Grenzen oft als fließend. Und nicht selten sind sie in der Unterrichtspraxis, in der bildnerischen Auseinandersetzung mit kunst- und lebensrelevanten Themen, kaum mehr festzustellen. Was bleibt, um eine Unterscheidung treffen zu können? Zentral ist jeweils der theoretische Standpunkt, von dem aus ein kunstpädagogischer (Unterrichts-) Entwurf begründet wird. Und weiter gedacht: von dem aus das Fach selbst gegenüber der Öffentlichkeit legitimiert wird.
• Geht die Begründung
von der Bedeutung des Bildes für die Bildung zur Stärkung der
"Bildkompetenz" aus (Bildorientierung)?
• Basiert die Legitimation auf dem erweiterten Kunstbegriff, entwirft
Kunstpädagogik als kunstanalogen Prozess und beruft sich auf Ideen
der Lebenskunst (Künstlerische Bildung)?
• Steht zu Beginn der kunstpädagogischen und -didaktischen Überlegungen
der Bezug zur Biografie und Subjektivität der einzelnen Schülerin,
des Schülers im Mittelpunkt (Biografieorientierung)?
• Oder wird die bildnerische Auseinandersetzung, künstlerisch-ästhetischen
Strategien gleich, als eine forschende Annäherung an das Unbestimmte
betrachtet (Ästhetische Forschung)?
Literatur
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bei Joseph Beuys. Frankfurt a.M. 1997
Buschkühle, Carl-Peter (Hg.): Perspektiven künstlerischer Bildung.
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auf den Hund kommt. In: Peez, Georg/ Richter, Heidi (Hgg.): Kind – Kunst
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Mohr, Anja: Digitale Kinderzeichnung. München 2005
Niehoff, Rolf: Aus kunstdidaktischer Sicht: Beobachtungen und Reflexionen
zum Bildverständnis in ‚anderen‘ Fächern. In: Bering, Kunibert/
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Selle, Gert: Betrifft Beuys: Annäherung an Gegenwartskunst. Unna 1994
Selle, Gert: Kunstpädagogik jenseits ästhetischer Rationalität?
In: Kunst+Unterricht, H. 192, 1995, S. 16-21
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In: Buschkühle, Carl-Peter (Hg.): Perspektiven künstlerischer
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In: Kunst+Unterricht, H. 244, 2000, S. 4-5