Georg Peez
Die Kinderzeichnungsforschung kann nach über hundert Jahren ihres Bestehens auf wichtige Erkenntnisse verweisen (Bautz 1999). Der Blick von Erwachsenen auf die freie Kinderzeichnung und auf das Kind allgemein hat sich in dieser Zeit in Richtung einer grundsätzlichen Wertschätzung gewandelt. Für die Kunstpädagogik zumindest in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Kinderzeichnungsforschung eine, wenn nicht die zentrale Säule. Doch auch nach über hundert Jahren gibt es noch weitgehend unerforschte Bereiche. Ein solcher Bereich sind die Vor- oder Frühformen des Kritzelns oder Zeichnens: „Über die frühesten Entwicklungen von Bewegungsabläufen, die im Deutschen mit dem (negativ besetzten) Oberbegriff ‚Schmieren‘ gekennzeichnet werden, liegen in der Literatur erstaunlich wenig Hinweise vor“, konstatiert der Kunsttherapeut und Kunstpädagoge Hans-Günther Richter (Richter 5 1997, S. 25). In den letzten Jahrzehnten wurden „keine Untersuchungen über diesen Gegenstandsbereich“ vorgelegt (Richter 2001, S. 23). Fast immer werde übersehen, dass es im Laufe der bildnerischen Entwicklung eines Menschen mittels Schmieren zu den frühesten (motorischen) Ausdruckshandlungen komme (Richter 5 1997, S. 25).
Zwei Erklärungsversuche für das „Schmieren“
In psychoanalytisch orientierten Darstellungen wird die Entwicklung des Spurschmierens im Zusammenhang mit dem Erwachen der so genannten analen Libido gesehen, dem Interesse, das das Kind für seine Exkremente zeigt (Widlöcher 1974, S. 33f.): Die libidinöse Besetzung des Kotens vollziehe sich mit der Nahrungsumstellung (von flüssiger auf feste Kost) nach dem Beginn des zweiten Lebensjahres. Der Kot werde nun vom Kind als ein von ihm geschaffenes Produkt angesehen, und der Umgang mit diesem Produkt, d. h. das Kotschmieren und Kotkneten, werden zur lustbesetzten Tätigkeit. Freilich setze die Sauberkeitserziehung diesen Aktivitäten meist ein Ende, bevor sie begännen. Das Kind suche sich daraufhin andere Materialien. Das Schmieren mit Surrogaten von Kot, etwa mit Brei oder Spucke, sei eine ersatzweise Lustbefriedigung (Richter 5 1997, S. 24).
Zweiter Erklärungsversuch für das „Schmieren“ ist die Zuordnung zur Vorgeschichte der zeichnerischen Entwicklung: Am Anfang träfen zufällig eine manuelle Gebärde und eine Oberfläche, die diese Gebärde festhalte, zusammen. Der französische Philosoph Pierre Naville war es, der diese Verbindung zwischen dem Schmieren und dem Zeichnen zog, indem er auf die Bedeutung der Spur hinwies, die das Schmieren hinterlasse. Es sei die früheste Objektivierung des Kleinkindes: „Das Kind entdeckt, dass diese Spuren von ihm stammen und dass sie überdauern.“ (Richter 5 1997, S. 24) Diese relative Dauerhaftigkeit der Schmierspur sei dem Kind eine „Quelle des Glücks“ (Widlöcher 1974, S. 32), es seien „oft die ersten Urbilder“ (Widlöcher 1974, S. 31) bevor die grafische Spur, das erste Kritzeln, die zugelassene Objektivierung eigener motorischer Tätigkeiten werde. Der Anthropologe und Psychologe James J. Gibson verwies ebenfalls hierauf: Das Kleinkind praktiziere den „fundamentalen grafischen Akt im Sand, im Schlamm oder auf einem vollen Teller – sehr zum Missfallen seiner Eltern“ (Gibson 1973, S. 285; vgl. Peez 2 2005, S. 95). In einer Stichprobe von 60 befragten Eltern aus dem Kölner Raum im Jahre 1996, so Hans-Günther Richter, gaben über die Hälfte der Eltern an, dass ihre Kinder vor den kritzelartigen Aktivitäten mit den Händen geschmiert hätten und dass diese Schmieraktivitäten kurz nach dem ersten Lebensjahr begonnen und bis zum Ende des vierten Lebensjahres angedauert hätten. Der Beginn dieser Aktivitäten lag im Durchschnitt bei 13,3 Monaten (zwischen dem 4. und dem 30. Monat). Schmieraktivitäten können – so lässt sich vorerst resümieren – als eine Wegmarke in der Individualentwicklung eines Menschen betrachtet werden.
Konturierung des Forschungsbedarfs und dessen Begründung
Sowohl Pierre Naville (1950er Jahre) als auch Daniel Widlöcher sowie James J. Gibson (1970er Jahre) formulierten den Forschungsbedarf in folgender Hinsicht: Die Geschichte des Schmierens als Vorgeschichte des Zeichnens sei bis jetzt nur in Ansätzen theoretisch erfasst, jedoch empirisch nicht untersucht (Widlöcher 1974, S. 31). Die einzige, kurze und sehr allgemeine Beschreibung einer Schmiergebärde findet sich bei Daniel Widlöcher, allerdings ohne Altersangabe: Das Kind neige dazu, den Fleck mehr und mehr auszubreiten, es stürze sich daraufhin in ein „wildes grenzenloses Geschmier“ (Widlöcher 1974, S. 33). Den Forschungsbedarf bekräftigte Hans-Günther Richter noch in den 1990er Jahren, indem er leicht ironisch, den empirischen Untersuchungsansatz wohl nicht ganz ernst nehmend, formulierte: „Wer macht sich auch schon die Mühe, Fingerspuren auf Fensterscheiben und Möbelflächen, Spinatflecken und ihre motorisch-taktilen Veränderungen, Breispuren o. ä. zu dokumentieren und auf ihre möglichen Strukturbildungen hin zu untersuchen?“ (Richter 5 1997, S. 24)
Abb. 1 Abbildung einer verschmierten Kritzelzeichnung aus dem Buch von Hans-Günther Richter: Die Kinderzeichnung. Entwicklung – Interpretation – Ästhetik. Berlin (Cornelsen) 5 1997, S. 25 | Abb. 2 Malerei mit Fingerfarbe auf dem Titelbild des Buches von Hans-Günther Richter: Die Kinderzeichnung. Entwicklung – Interpretation – Ästhetik. Berlin (Cornelsen) 5 1997 |
Richter selbst illustrierte seine damaligen Ausführungen mit der Abbildung einer Kritzelzeichnung eines 1 Jahr und 10 Monate alten Jungen (Abb. 1): „Nach dem Kritzeln mit dem Stift vermischte Ulrich Speisereste mit Speichel und rieb sie in das grafische Gebilde mit den Fingern ein.“ (Richter 5 1997, S. 25) (Das Bild reproduzierte Richter nochmals 2001, S. 23.) Dieses Beispiel mache deutlich, so Richter, dass im Verlauf des zweiten Lebensjahres Spurschmieren und Kritzelaktivitäten nebeneinander und miteinander existieren könnten (Richter 5 1997, S. 25; Richter 2001, S. 23). Aber Richter fokussiert nicht das Schmieren vor dem Kritzeln. Hinzu kommt, dass die Abbildung in erster Linie eine Kritzelzeichnung ist; Schmierspuren sind kaum zu erkennen. Für Richter liegt die Schwierigkeit darin, „Differenzierungen in diesen Verhaltensweisen zu erkennen“ (Richter 2001, S. 23). Es ließen sich aus den Schmier- und Sudelaktivitäten selbst kaum organisierte Formen entdecken, „die eine Art motorischer Performanz darstellen und die dabei auf spezielle psychomotorische Muster und Affektqualitäten“ hindeuteten (Richter 2001, S. 23). Eine nähere Erforschung scheint ihm demnach nicht nötig.
Der Erziehungswissenschaftler Klaus Mollenhauer (Mollenhauer 1996), die Kunsttherapeutin Bettina Egger (1984) und die phänomenologisch orientierte Pädagogin Ursula Stenger (Stenger 2002) – um nur wenige neuere Untersuchungen zum schöpferischen und ästhetischen Vermögen zu nennen – ignorieren das Schmieren und setzen erst bei der „elementaren Kritzelgeste“ (Stenger 2002, S. 108) an; obwohl etwa Mollenhauer die Hand als den „Seismograph der Innenwelt“ (Mollenhauer 1996, S. 212) bezeichnet. Doch wenn die Hand wirklich ein solcher Seismograph ist – dies bekräftigen anthropologische Untersuchungen (Gebauer 1997) und künstlerische Arbeiten (Peez/ Schacht 1999) – , dann lassen sich die Notationen dieses Seismografen noch direkter als über das Zeichnen mit einem Stift fraglos mit den schmierenden Fingern erzeugen.
Dass dieser weiße Bereich auf der Landkarte der Kinderzeichnungsforschung bis heute besteht, ist um so überraschender, als das Schmieren allen Menschen in ihrer motorisch-taktilen Entwicklung im Kleinkindalter gemeinsam ist, egal, welchem Kulturkreis sie angehören. Spurgebende Materialien, wie der Bleistift oder die Kreide, sind kultur- und zivilisationsgebunden (Kemp 1979). Das Schmieren ist es kaum. Vergleichbare fundamentale grafische Akte sind nur noch das Hinterlassen von Spuren in Materialien durch Kratzen, das Graffiti (Brassai 1960; Widlöcher 1974, S. 31).
„Schmieren“ bildet demnach offenbar eine Wurzel für späteres bildnerisches Tun: Von diesen frühen Schmieraktivitäten lassen sich direkte Verbindungen zu Formen des Klecksens und Sudelns in der Kindheit, aber auch zum plastischen Gestalten, etwa mit Ton oder Knete (Becker 2003), ziehen. Hinzuweisen ist aus pädagogischer Sicht vor allem auf die Etablierung des Malmaterials Fingerfarbe im Vorschulbereich seit den 1970er Jahren – ein Material, mit dem Hans-Günther Richter ein Kind auf dem Titelbild seines Standardwerkes zur Kinderzeichnung malend abbildet (Abb. 2). Das Malen mit Fingerfarben fördert aus (kunst-)pädagogischer Sicht motorische Fähigkeiten und taktile Sinneswahrnehmungen. Unter (kunst-)therapeutischem Blickwinkel ermöglichen Fingerfarben im Zusammenhang mit motorischer Bewegung für alle Altersgruppen das Abreagieren von verdrängten, aggressiven Bedürfnissen und Trieben; Widerstände können abgebaut werden (Richter 1977, S. 98ff.). „Beim Gestalten mit den Händen kann man besonders gut Wut und Aggression ausleben, denn es besteht ein direkter Kontakt zum Material, ohne dass ein Pinsel o. Ä. dazwischen geschaltet wird. Dadurch wird auch die rationale Kontrolle weitgehend ausgeschaltet, da das unbewusste Material direkt von den Händen in das Material geleitet und gestaltet wird. Beim Schmieren mit Fingerfarben werden regressive Phantasien und Bedürfnisse aktiviert, denn dies erinnert an das Schmieren mit Kot im Kleinkindalter. Aus diesem Grund sind Finger- und Kleisterfarben besonders gut geeignet, den Folgen einer zu rigiden Sauberkeitserziehung entgegenzuwirken. Im Umgang mit Fingerfarben liegt eine starke kathartische Wirkung. Fingerfarben können entlastende, spannungsreduzierende, regressive und triebnahe Qualitäten zugesprochen werden.“ (http://www.survivors-arts.de/content/view/20/62/)
Schmieren kann aber auch für künstlerisches Tun grundlegend sein, denken wir an das Verteilen des Materials Ölfarbe mit Pinseln auf der Leinwand. Nicht nur Leonardo da Vinci vertrieb die schmierige Ölfarbe u. a. mit seinen Fingern auf den Bildträgern, etwa für die Modellierung der Untermalung (Janusczcak 1981, S. 26). Auch Max Doerner empfiehlt in seinem häufig als „Malerbibel“ bezeichneten Buch zur Maltechnik: „Ein Vertreiben (der Ölfarbe) mit den Fingern wird häufig von Malern geübt“ (Doerner 15 1980, S. 103). In der Malerei des 20. Jahrhunderts lassen sich Verbindungen zu expressiven Gestaltungen in der Kunst, etwa zum Abstrakten Expressionismus oder zum Tachismus ziehen. Ein herausragender Vertreter in der zeitgenössischen bildenden Kunst, der immer wieder direkt mit den Händen Farbe auf der Leinwand aufträgt und verteilt, ist der Österreicher Arnulf Rainer. Seit 1991 taucht Andreas Fasbender seine Hände in Eimer voller Ölfarbe und macht Musik, indem er mit den Händen auf die Leinwand trommelt (Fasbender 1999). Die Leinwand wird hierdurch zum Musikinstrument. Im plastischen und keramischen Gestalten mit Ton ist das Verschmieren des Materials eine ebenso grundlegende Tätigkeit.
Dass Kinder ab den ersten Lebensmonaten und über die Vollendung des zweiten Lebensjahres hinaus mit diversen Materialien „schmieren“, d. h. diese direkt mit ihren Fingern verteilen, wird als „common sense“ vorausgesetzt. Ob und welche Bedeutung diese früheste bildnerische Praxis für die Entwicklung der Kinderzeichnung hat, ist eine bislang auf empirischer Basis weitgehend unbeantwortete Frage. Ferner ist unbeantwortet, welche Merkmale das Schmieren aufweist, durch welche Aspekte es sich charakterisieren und eingrenzen lässt. In der im Folgenden dokumentierten Untersuchung werden vor allem Antworten auf die letzte Frage gesucht.
Untersuchungsverfahren
Anstelle der von Hans-Günther Richter vorgeschlagenen traditionellen Methode, die Forschungen zum „Schmieren“ produkt- und ergebnisorientiert auszurichten, d. h. „Fingerspuren auf Fensterscheiben und Möbelflächen, Spinatflecken und ihre motorisch-taktilen Veränderungen, Breispuren o. ä. zu dokumentieren“ (Richter 5 1997, S. 24), steht in der vorliegenden Untersuchung die Erkundung der Prozessualität des Schmierens im Vordergrund. Die Tätigkeit des Schmierens wird qualitativ-empirisch anhand des Fallbeispiels eines 9 1/2 Monate alten Mädchens untersucht. Will man die Prozessualität eines Vorgangs empirisch erfassen, so ließe sich etwa das Protokoll einer Teilnehmenden Beobachtung führen (z. B. Becker 2003, S. 16ff.) oder eine Videoaufnahme erstellen (z. B. Uhlig 2003; Dietl 2004, S. 222ff.).
Materialerhebung: Für die vorliegende Untersuchung wurden Einzelfotografien mittels einer Digitalkamera angefertigt. Primär waren hierfür die Kombination zweier Faktoren verantwortlich: Die Spontaneität der Situation ermöglichte nicht den Aufbau einer Videokamera, denn die Situation hatte keinen Experimental- oder Laborcharakter, bei dem die technischen Aspekte vorzuplanen sind. Ferner war die Situation „lebensmitgängig“, nicht gestellt und war hierdurch in die Lebenswelt des Kindes integriert. Sie genügt somit insbesondere den Voraussetzungen einer phänomenologisch orientierten Analyse (Mayring 3 1996, S. 85) als einer „prägnanten Situation in der Lebenswelt“ (Beekman 2 1987, S. 21). Demnach sind das Analysematerial 33 Einzelfotografien, die in unterschiedlichen Zeitabständen, meist im Rhythmus zwischen ca. 10 bis 20 Sekunden im Zeitraum von 13 Minuten erstellt wurden. In diesen 13 Minuten wurden von der 9 1/2 Monate alten Lara drei voneinander abgrenzbare Schmieraktivitäten ausgeführt: Ein paar Tropfen Karottenbrei befanden sich zu jeder Schmieraktivität auf der hellen Tischfläche, an der das Kind saß. Lara hatte die Möglichkeit, sich mit diesem, ihr als Nahrungsmittel bekannten Material zu beschäftigen oder auch nicht.
Materialaufbereitung: Videoaufnahmen lassen sich gut in ein deskriptives Beobachtungsprotokoll überführen, wie dies etwa Anja Mohr mittels eines tabellarischen Vorgehens zeigt (Mohr 2005, S. 300ff.). Marie-Luise Dietl reproduziert Videostills und fertigt hierzu Prozessbeschreibungen mit integrierten interpretativen Ansätzen an (Dietl 2004, S. 302ff.). Im Gegensatz hierzu gibt es für die Aufbereitung von Einzelfotografien unterschiedliche Vorschläge. In der Regel beginnen diese mit der Reduzierung des Materials (aus einer größeren Menge von Fotografien) für die eigentliche Analyse. Die Anzahl der zu interpretierenden Fotos wird in der vorliegenden Untersuchung auf neun beschränkt und zum Bildbestand der Untersuchung qualifiziert (Mietzner/ Pilarczyk 2003, S. 28).
In dieser Untersuchung handelt es sich um fotografisches Material, das wegen seiner engen zeitlichen Taktung an Videostills erinnert. Trotz allem sind es jedoch vom Autor zu bestimmten Zeitpunkten hergestellte Fotos, sie enthalten demnach bereits eine Selektion der Schmieraktivitätsaspekte des Kindes im Moment der Materialerhebung. Die von dem digitalen Fotoapparat gespeicherten Aufzeichnungsdaten lassen jeweils die Zeitangaben in Minuten rekonstruieren und selbstverständlich die Reihenfolge der Fotos. Zudem wird die Zoomfunktion der Digitalkamera vom Fotografen eingesetzt und lässt auf subjektive Betrachterkonditionen schließen. Die Fotografien sind also keinesfalls als ‚objektive Dokumentation‘ oder ‚unbestechliche Realität‘ zu nehmen (Sontag 1978; Sontag 2003), sondern die Umstände ihrer Herstellung müssen im Interpretationsprozess mit reflektiert werden. Ferner geben die Aufzeichnungen des genutzten digitalen Fotoapparats nicht Geräusche und lautsprachliche Äußerungen wider, wie dies bei Videoaufnahmen der Fall ist.
Materialauswertung / Interpretation: Im Zuge der Erörterungen zur Eingrenzung des Bildbestands findet zugleich eine weitere Fokussierung des Forschungsschwerpunkts statt. Das auf diese Weise qualifizierte Material erfährt nach der Beschreibung der Fotos eine hiermit verbundene erste Deutung im Zuge der Wahrnehmung der Fotografien (Wünsche 1991; Mollenhauer 1997) und eine sich anschließende Interpretation. Die Interpretation bezieht sich zunächst Bild für Bild auf die Spezifik des untersuchten Einzelfalls (Beck 2003; Mietzner/ Pilarczyk 2003, S. 28). Wahrnehmung und Beschreibung des Fotos, erste Deutung und Interpretationsansätze lassen sich in einer phänomenologisch orientierten Analyse nicht trennscharf unterscheiden. Der Erziehungswissenschaftler Konrad Wünsche formulierte demgemäß: „Die tastende Bewegung des Auges ist der Anfang der Beschreibung des Bildes, die Augen bewegen sich über die Fläche nach bestimmten Regeln, so dass das perzeptuelle Bild entsteht. Parallel zum Lesevorgang folgen Fixierungen und Identifizierungen, Dekodierungen und deren Überprüfung mit Hilfe von Korrektiven, bis die bewußte Bedeutung der gewußten Bedeutungen vorläufig abgeschlossen ist.“ (Wünsche 1991, S. 274)
In einem letzten Schritt werden daraufhin Verallgemeinerungen aufgrund eines argumentativen Abwägens formuliert (exemplarisch: Stenger 2002; Pilarczyk 2003). Auch wenn jeder Gegenstand und jeder Sachverhalt subjektiv und mannigfaltig in Erscheinung tritt, so gibt es jedoch nicht nur diese „subjektiv-situativen Gegebenheitsweisen“, denn sonst „würde uns keine Welt mit identisch verharrenden Gegenständen erscheinen, von deren Ansichbestehen wir in unserer natürlichen Einstellung in fragloser Selbstverständlichkeit überzeugt sind“ (Held 1992, S. 9). Gegenstände und Sachverhalte sind mehr als subjektiv und situativ Gegebenes, sie haben jenseits der Mannigfaltigkeit intersubjektiv Bestand. Phänomenologie erforscht vor allem diese Formen der Intersubjektivität: „Wie können Gegenstände verschiedenen Menschen trotz ihrer unterschiedlichen Erfahrungssituationen auf dieselbe Weise erscheinen?“ (Held 1992, S. 31) In diesem Punkt ergeben sich vielfältige Anschlussmöglichkeiten von phänomenologischen zu konstruktivistischen Theorieelementen (Peez 2 2002, S. 39). Instanz für die intersubjektive Überprüfung phänomenologischer Aussagen und Interpretationen ist die Zustimmung des selber erfahrenden und sachkundigen Lesers in einem „Ja, so ist es auch“-Eindruck (Seiffert 9 1991, S. 48). „Ein solcher sachkundiger Leser ‚überprüft‘ die Schlüssigkeit des Gesagten also einfach ‚hermeneutisch‘ an seiner eigenen Lebenserfahrung; er befragt den Text daraufhin, ob er diese Erfahrung angemessen wiedergibt und interpretiert.“ (Seiffert 9 1991, S. 48) Dies ist eine Grundprämisse der phänomenologisch orientierten qualitativen Forschung. Exemplarische Situationen spielen für die Phänomenologie die zentrale Rolle. „Beispiele sind phänomenologische Mittel der dialogischen Klärung fungierender, unthematischer Strukturen“ (Lippitz 2 1987, S. 125), d. h. von Strukturen, die zwar Wirkung tun, bisher aber nicht wissenschaftlich oder lebensweltlich explizit bewusst wurden. Innerhalb qualitativer Forschung werden solche Beispiele in aller Regel durch Feldforschung erhoben. Eine Interpretation und Deutung solcher Beispiele zielt immer darauf ab, andere Menschen zu überzeugen. Die exemplarische Deskription ist ein Deutungsakt, der sich kommunikativ und intersubjektiv überprüfbar zu bewähren hat; seine Validierung, d. h. der Beleg der Gültigkeit, geschieht in der konkreten Erfahrung. Infolgedessen stehen Intuition und exemplarische Deskription gleichsam stets „auf Bewährung“ (Lippitz 2 1987, S. 117).
Abb. 4 bis 12 Lara verschmiert im Alter von 9 1/2 Monaten Karottenbrei auf einer Tischfläche, vierminütige Sequenz bestehend aus neun Fotos | Abb. 4a Detail von Abb. 4 |
Das erste Foto (Abb. 4)
Die 9 1/2 Monate alte Lara sitzt auf einem Kinderhochstuhl an einem Tisch mit weißer Tischplatte. Das Foto ist schräg von vorne sowie von oben aufgenommen. Ihr Oberkörper befindet sich in Berührung mit der Tischkante. Beide Hände bzw. Unterarme liegen auf der Tischplatte. Der Kopf des Mädchens ist nach unten geneigt. Es blickt vor sich auf die helle leere Tischplatte, auf der sich lediglich drei größere Flecken aufgetropften Karottenbreis (aus einem handelsüblichen Gläschen mit dieser Fertignahrung) befinden: der Fleck mit der größten Ausdehnung direkt vor ihr, zwei kleinere, etwa gleich große Flecken rechts von ihr. Hinzu kommen einige weitere kleine Breispritzer. [Anm. Ob und inwieweit das Kind erkannte oder für längere Zeit in Erinnerung behielt, dass es sich um sein Nahrungsmittel, um Karottenbrei handelt, kann hier nicht mit Bestimmtheit gesagt werden. Dieser Umstand mag aber für die Schmierhandlungen selbst keine zentrale Rolle spielen.] Die Finger der linken Hand des Kindes sind gespreizt, die fünf Fingerkuppen liegen jeweils auf der Tischplatte, die Innenfläche der linken Hand liegt offenbar nicht oder kaum auf. Diese linke Hand befindet sich näher am Körper, weiter entfernt von den Flecken. Von seiner rechten Hand hat das Kind den Zeigefinger gerade ausgestreckt, Mittel- und Ringfinger sind zur Handinnenfläche angewinkelt. Der kleine Finger rechts außen ist nur wenig angewinkelt; seine Fingerkuppe berührt die Tischkante. Das erste Glied des Zeigefingers der rechten Hand ist ein wenig mit dem orangefarbenen Karottenbrei bedeckt. Bei genauerem Betrachten (im Detail; Abb. 4a) sieht man an der kurzen Schmierspur auf der Tischfläche in diesem größten, direkt vor dem Kind befindlichen Fleck, dass dieser rechte Zeigefinger von rechts oben seitlich kommend nach links unten in den Breifleck hinein bewegt wurde, denn die Zeigefingerkuppe schiebt ein wenig Brei nach links unten vor sich her. Mit einer leichten schwingenden Bewegung des Zeigefingers wurde der Brei offenbar in beide Richtungen auseinander getrieben bzw. auf dieser Spur verteilt. Zum Zeitpunkt der Aufnahme bewegt sich der Zeigefinger nach links unten, zur Körpermitte hin, erkennbar durch den Brei an der linken Seite des Fingers, der auch den linken Teil der Fingerkuppe, des Fingernagels bedeckt. Der ausgestreckte Zeigefinger wurde vom Kind nicht direkt in die Mitte des Flecks gesetzt, sondern offenbar eher an den (von ihm aus gesehen) rechten Rand. Durch die empfindlichen Sinneszellen der Haut, die ‚freien Nervenendigungen‘, die Kälte-, Wärme- und Tastrezeptoren in der Fingerkuppe, wird das feuchte und kühle Breimaterial wahrgenommen. Sensorischer Eindruck, Wahrnehmung und erkundende Bewegung folgen eng aufeinander, sie bedingen sich. Der erste Kontakt mit dem Material sowie der erste Eindruck werden neugierig und vorsichtig von Lara zunächst durch die Berührung und im zweiten Schritt durch die Bewegung gesucht. Hierfür verwendet sie sehr differenziert nur einen Teil ihres „Werkzeugs“ Hand: Sie streckt den Zeigefinger aus und nutzt nur das erste Fingerglied. Ältere Kinder und Erwachsene würden sich zu Beginn einer solchen Erkundung wohl kaum anders verhalten. An dieser Stelle der phänomenologisch orientierten Interpretation lässt sich nicht klären, inwieweit es sich hierbei um ein durch Sozialisation oder durch Mimesis bereits in den ersten Lebensmonaten angeeignetes Verhalten handelt oder um eine durch Aufbau und anthropologische Funktion der Hand evolutionär bedingte Determinante (Gebauer 1997). Neugierde – mit Vorsicht gepaart – spielt bei der Erkundung des eigentlich bekannten Materials im ungewöhnlichen, neuen Arrangement als isolierte Flecken auf dem Tisch offenbar eine große Rolle. Der vorgestreckte Zeigefinger ist erkundendes Werkzeug, Ausdrucksinstrument und wird zugleich zum Wahrnehmungsorgan. Er vermittelt zwischen der Außenwelt und der Innenwelt des Kindes, zwischen der Dingwelt und dem Körper. Die Körperhaltung und die langsame, nachvollziehbare Bewegung des Fingers verraten höchste Konzentration des Kindes in der fotografierten Situation. (Schnellere Bewegungen der Hand führen in den folgenden Fotos zu fotografischen Unschärfen.)Abb. 5 |
Das zweite Foto (Abb. 5)
Für die zweite Aufnahme wurde die Zoomfunktion des digitalen Fotoapparates genutzt. Der Fotograf fokussiert – seinen Standpunkt direkter vor das Kind verlagernd – den erwarteten Schmiervorgang, nicht mehr das gesamte Kind am Tisch. (Oben wurde deutlich, wie aufschlussreich ein detaillierter Blick auf die Finger von Lara ist.) Durch diese Fokussierung lassen sich einerseits die Bewegungen der Hand besser erkennen, andererseits gehen wichtige Kontextinformationen zum Kind und seinem Verhalten verloren. Jede Form der Datenerhebung bringt einen gewissen Verlust zugunsten anderer Aspekte mit sich. Ferner lässt sich reflexiv hieraus auf die Intentionen des Forschers schließen: Die Bewegungen der Hand und die Schmierspuren sind für ihn entscheidend. Während beim ersten Bild das Kind mit seinem ganzen Körper oberhalb der Tischplatte zu sehen war, sehen wir nun außer den auf die Tischplatte getropften Breiflecken nur seine linke Hand und ein wenig des sich hieran anschließenden Ärmels. Lara hat offenbar ihre rechte Hand weit zurückgezogen, diese Hand ist (bis auf die beiden letzten Bilder der Serie; vgl. Abb. 11 u. 12) nicht (mehr) zu sehen. Ob sie ihren rechten Zeigefinger mit dem Brei auf der Fingerkuppe genau ansah, ob sie ihn vielleicht ableckte, ist anhand der Fotos nicht rekonstruierbar. Ein zusätzlich angefertigtes knappes Erinnerungsprotokoll enthält die Kontextinformation, dass Lara ihren benutzten rechten Zeigefinger genau betrachtete, nachdem sie kurz, aber vorsichtig den mittelgroßen Breifleck rechts außen ebenfalls auf die oben beschriebene Art mit der Kuppe des rechten Zeigefingers leicht schwingend erkundend befühlte und teilweise nach rechts außen verstrich (Abb. 4). (Nachdem Lara ihre rechte Hand weggezogen hatte, werden an der Stelle, an der die rechte Hand lag, weitere kleine Breiflecken sichtbar, die das Mädchen offenbar schon zu Beginn mit ihrer rechten Handunterseite berührte und dabei ein wenig verschmierte. Ganz offensichtlich geschah dies aber unbeabsichtigt, eher zufällig. Im Rahmen der Materialerkundung schenkte das Kind diesen Breiflecken im gesamten Verlauf der Fotoserie keine tastende Aufmerksamkeit.) Das Kind nutzt nun ab dem zweiten Foto seine linke Hand. [Anm. In diesem Alter, so die Entwicklungspsychologie, haben die Kinder noch kaum Präferenzen im Sinne einer Rechts- oder Linkshändigkeit, diese bildet sich allerdings ab dem 9. Lebensmonat langsam heraus und ist bis ca. zum 18. Monat bei den meisten Kindern entschieden.] Das sensuell taktile Erlebnis des feuchten, kühlen, schmierigen Breis soll nicht nur der rechten Hand vorbehalten bleiben. Auch die linke Hand wird nun erkundend tätig, sie ‚behandelt‘ – im wörtlichen Sinne – das Material ebenfalls. Zugleich ist Lara jetzt nicht mehr so vorsichtig wie zu Beginn mit der rechten Hand: Sie nutzt zum Befühlen und gleichzeitigen Verteilen des Materials drei Finger ihrer linken Hand: Zeigefinger, Mittelfinger und Ringfinger. Alle fünf Finger ausgestreckt, teils gespreizt, liegt ihre linke Hand mit der Handinnenfläche geöffnet flach auf der Tischplatte. Die beiden äußeren Finger, Daumen und kleiner Finger, haben (noch) keinen Brei abbekommen. Beide sind offenbar für diese Phase der taktilen Erkundung und Materialbearbeitung nicht dominant. Eine Erklärung könnte sein, dass die drei mittleren Finger der Hand die längsten sind und deshalb zuerst mit dem Breifleck in Berührung kommen. Deutlich wird, dass die anfängliche Vorsicht – erkennbar am ursprünglich ausgestreckten Zeigefinger – einem zunehmend „sicheren Zupacken“ gewichen ist. Die Handhaltung signalisiert, dass nun das Vertreiben des Materials und die Veränderung des Flecks im Vordergrund stehen – nicht mehr die allzu vorsichtige Kontakt aufnehmende Erkundung. Inwieweit es Lara hier darum geht, eine Spur zu hinterlassen oder die Spezifik des auseinander streichbaren Materials motorisch zu erfahren, muss zunächst offen bleiben. Neben den sensorischen Erlebnissen ‚kühl‘ und ‚feucht‘ gewinnt die Erfahrung des schmierigen, „glitschigen“ Materials Brei auf dem glatten Untergrund an Bedeutung. Diese Erfahrung lässt sich ausschließlich durch den Einsatz von Motorik erreichen: Nur die Bewegung der Hand lässt die Fingerkuppen über die Tischfläche gleiten und führt zum Verschmieren des Materials. Der Brei zwischen Fingerkuppen und Tischfläche erzeugt einen geringeren Widerstand auf der Tischoberfläche. Das „glitschige“ Gefühl lässt sich nur durch Bewegungsdynamik erreichen und erhalten. Sobald der Arm nicht mehr bewegt wird, ist dieses Gefühl nicht mehr vorhanden bzw. nur in der Erinnerung abrufbar. Will Lara diese Erfahrung nochmals spüren, muss sie ihre Hand erneut bewegen. Auf diese Weise vertreibt sie den Brei zunächst mit ihren drei Fingern von der Fleckmitte weg nach links.Abb. 6 |
Das dritte Foto (Abb. 6)
In der gleichen Hand- und Fingerhaltung verbleibt die linke Hand, nur dass vor allem der Zeigefinger weiter nach außen gespreizt wird. Mit einer Art schwingenden Wischbewegung nimmt Lara mehr Brei des gleichen großen Flecks nun erkennbar mit vier Fingern auf und verteilt ihn im Schwung der aufgelegten Finger nach beiden Seiten. Mittel- und Ringfinger stecken mit ihrer Kuppe tiefer im Brei, die äußeren Finger – Zeigefinger und kleiner Finger – sind verstärkt mit den Vertreiben des Breimaterials nach außen von der Fleckmitte weg beschäftigt. Die Schmierspur wird hierdurch zu beiden Seiten des Flecks hin größer. Bei dieser schwingenden Wischbewegung liegt der linke Unterarm des Kindes weiter auf der Tischplatte. Die Handinnenfläche berührt jedoch nicht die Tischplatte, sondern der Daumen ist nach innen geschoben und stützt die Hand ab. Die Finger sind durch das Auseinanderspreizen stark in Bewegung. Auch das Handgelenk wird ein wenig – durch die Schmierspur gut nachvollziehbar – in Schwingung gebracht. Die zunächst vorsichtige Materialerkundung mit der Spitze des Zeigefingers (Abb. 4) ist nun der motorischen Erkundung der Materialqualitäten gewichen. Das Material wird durch die Schmierbewegung erfühlt.Abb. 7 |
Das vierte Foto (Abb. 7)
Das Verschmieren des Breis ist die weiter dominante Handlung. Indem sie sich fortsetzt, gewinnt die schwingende Motorik an Dynamik. Nun wird ganz offensichtlich außer den Fingern verstärkt das Handgelenk bewegt, aber auch vor allem der gesamte Unterarm. Die Schnelligkeit der Bewegung ist am Effekt der Unschärfe, mit der die Hand auf dem Foto wiedergegeben ist, eindeutig erkennbar. Immer mehr Brei wird zunächst von den Fingerspitzen der linken Hand aufgenommen und noch ausgiebiger mittels der schwingenden Bewegung nach rechts und links verteilt. Hierbei nimmt die Breimenge im Breifleck automatisch und Stück für Stück ab. Das Kind gewinnt an Sicherheit in seinem Tun. Es darf zugleich aber auch vermutet werden, dass das sensuelle Erlebnis des schmierigen Materials eine zunehmende Lust – gepaart mit weiter erkundendem Interesse – erzeugt. Wäre dies nicht der Fall, hätte das Mädchen seine Hand wohl bereits zurückgezogen und sich anderem zugewendet.Abb. 8 |
Das fünfte Foto (Abb. 8)
Ihre zuvor beschriebenen und gedeuteten Handlungen setzt Lara konsequent im Sinne einer zunehmenden senso-motorischen Dynamik fort. Motorik und Sensualität bedingen sich und ’schaukeln sich gegenseitig hoch‘: Die immer schnellere und ausgreifendere schwingende Bewegung verursacht verstärkt das glitschige Gefühl an den Fingern. Und das glitschige Gefühl an den Fingern führt zu der schnelleren Schwingbewegung – wieder erkennbar an der fotografischen Unschärfe der Hand. Lara hat nun praktisch die gesamte Breimenge des bisherigen Flecks mit ihren fünf Fingern der linken Hand verschmiert. Auch die sensible Handinnenfläche kommt hierbei nun erstmals voll zum Einsatz: Die Hand liegt flach auf dem Tisch und die Spur der Hand macht die Wischbewegung der gesamten Hand erkennbar. Dominant ist in dieser Phase die Wischbewegung nach außen, vom Fleck und vom Körper weg. Vom ursprünglich größten Breifleck sind nur noch Schmierspuren und Schlieren übrig geblieben. Die anderen beiden mittelgroßen Flecken sind – bis auf die Zeigefingererkundung eines der Flecken zu Beginn (Abb. 5) – noch weitgehend unberührt. Bei ihrer Tätigkeit – so das kurze Erinnerungsprotokoll – wirkt Lara hoch konzentriert und blickt auf ihre Hand sowie auf die Breireste vor sich auf dem Tisch. Sie schaut im gesamten Zeitraum nicht hoch und lässt sich vom Fotografen oder den Geräuschen des digitalen Fotoapparats nicht ablenken.Abb. 9 |
Das sechste Foto (Abb. 9)
Nahe der Tischkante sind auf dem sechsten Foto der insgesamt neunteiligen Serie oben rechts Breireste zu erkennen, die mit der dominanten Schwingbewegung von der Tischmitte weg nach außen befördert wurden. Auch unter und rechts von der flach auf dem Tisch liegenden linken Hand ist deutlich weniger Brei zu erkennen als noch auf dem vorigen Foto. Will die Hand mehr vom kühlen, feuchten und schmierigen Material erfahren, so gibt es nur die Möglichkeit, die beiden noch unangetasteten Breiflecken in die Tätigkeit einzubeziehen, die etwas weiter von Laras Körper entfernt sind. Das Mädchen taucht Zeigefinger, Mittelfinger und Ringfinger in den rechts von ihr befindlichen Fleck ein und verteilt mit sicherer und gekonnt schwingender Geste den Brei aus beiden Flecken nach links. Die drei mittleren Finger der linken Hand schieben den dickflüssigen Brei vor sich her. Diesmal liegen Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger enger aneinander, nur Ringfinger und kleiner Finger sind noch abgespreizt.Das Material Karottenbrei auf einer glatten Fläche besitzt für Lara offenbar einen starken Aufforderungscharakter, es scheint danach zu verlangen, befühlt, bearbeitet und abschließend fast vollständig über die Fläche verteilt zu werden. Lara kann nicht anders als diesem Impuls nachzugeben – und dies mit einer gewissen Freude und Lust am Senso-Motorischen. Würde sie diesen Drang, der sich im Eifer ihres Tuns ausdrückt, nicht verspüren oder wäre ihr unwohl hierbei, dann hätte sie ihre freiwillige Tätigkeit schnell eingestellt, sie hätte ihre Hand nach dem ersten Erkunden zurückgezogen.
Abb. 10 |
Das siebte Foto (Abb. 10)
Lara hält nun erstmals für kurze Zeit inne. Sie macht eine Pause von ca. einer Minute und zieht ihre linke Hand zurück. (Die rechte Hand ist wegen des fotografischen Ausschnitts und der Fokussierung auf die Schmierspuren immer noch nicht zu sehen.) Die Haltung ihrer Hand am oberen Bildrand zeigt, dass die Finger in der gleichen Position wie bei der zuvor ausgeführten Schmiertätigkeit verharren. Lara betrachtet die Tischfläche vor sich konzentriert, indem sie die Breispuren mit den Augen abtastet, ohne ihre Hand zu bewegen. Als nächstes formt sie – laut kurzem Erinnerungsprotokoll – ihre Hand zu einer leichten Faust, so dass sich ihre glitschigen Finger gegenseitig befühlen können. Sie scheint interessiert und zugleich überrascht. Nach der Aktivitätsphase folgen eine Kontemplationsphase und dann der Versuch, Kontakt aufzunehmen mit ihrer Umgebung, mit der hinter ihr stehenden Mutter sowie mit dem vor ihr stehenden Fotografen. Zuvor versunken in der Aktivität und einem gewissen senso-motorischen Automatismus folgend, ist Lara nun aus ihrem intrinsischen Tun ‚aufgewacht‘. Sich erinnernd scheint sie zu versuchen zu verstehen, was sie tat, was mit ihr geschah und versichert sich hierbei nicht zuletzt der Reaktionen ihrer Umwelt, vornehmlich ihrer Mutter. In diesem Kleinkindalter ist das ablehnende und bestimmte „Nein, nein!“ der Eltern eine allzu bekannte Reaktion auf solcherart Erkundungen ihres Nachwuchses. Nicht selten erwarten die Kleinkinder diese Mahnung bereits. Hier nun aber signalisiert die seitlich von Lara stehende Mutter mit einem freundlichen Lächeln Zustimmung. Ob Lara hierüber verwundert ist, lässt sich nicht mit Sicherheit nachvollziehen. Evtl. hat sie schon früher einmal mit Brei geschmiert und hierfür keine Zustimmung erhalten. Zumindest verharrt Lara weiter in Ruhe, bewegt Arme und Hände zunächst nicht und betrachtet wieder konzentriert die Tischfläche und den verschmierten Brei. Sie ist fähig, die von ihr gerade ausgeführte Tätigkeit in rudimentärer Form Revue passieren zu lassen, die Folgen ihrer Handlungen an der Veränderung des Breis zu erkennen. Inwieweit sie die Schmierspuren als Objektivationen ihres Tuns erfasst und reflektiert, darüber können an dieser Stelle lediglich Vermutungen angestellt werden. Anhand der folgenden Fotos der Sequenz soll jedoch der Versuch unternommen werden, diese Frage einer Klärung zuzuführen.Abb. 11 |
Das achte und vorletzte Foto (Abb. 11)
Nicht nur Lara, auch der Fotograf hat die kurze Pause genutzt, in der er sich re-situiert. Vielleicht erwartet er ein Ende der Schmieraktivität, eine „Schließung“ des Vorgangs durch das Kind, denn er verändert die Kameraeinstellung von der mit Zoom erzeugten Detailaufnahme wieder zurück in die anfängliche Totale. Lara sitzt noch wie zu Beginn auf ihrem Hochstuhl, den Oberkörper an die Tischkante gedrückt. Ihre rechte Hand, mit der sie zu allererst den Brei vorsichtig befühlte (Abb. 4), liegt nun an der Tischkante, weit abseits von den mit der linken Hand erzeugten Schmierspuren und Flecken. Nahe der rechten Hand sind ein paar leichte Breispuren auf dem Tisch zu erkennen. In der näheren, vergrößernden Betrachtung dieser rechten Hand lassen sich auf der Kuppe des Zeigefingers gut die Breireste von der ersten Berührung erkennen. Auch hier wird nochmals deutlich: Finger und Hände wurden von Lara nicht abgeleckt. Die Funktion des Materials Brei als Nahrungsmittel ist in diesem Moment sehr untergeordnet, wenn überhaupt vorhanden bzw. erkannt. Laras Oberkörper ist im Vergleich zu Abbildung 4 jedoch wesentlich dynamischer, er drückt die Schwing- und Wischbewegung deutlich aus: Der Oberköper ist leicht schräg gedreht. Die rechte Hand scheint – verlängert durch den rechten Arm – den Körper von der Tischkante leicht wegzudrücken. Der linke Teil des Oberkörpers ist hierdurch zum Tisch hin gedreht. Das Kind ist nach der Ruhephase wieder zur Dynamik zurückgekehrt: Mit von der Schulter ab gerade ausgestecktem Arm wischt das Kind mit der flachen Hand die Breireste in der bisher ausladensten Geste weiter als bisher im Winkel von 90 Grad über die Tischplatte, hin zur Tischkante und -ecke. Die fotografische Unschärfe der Hand indiziert erneut eine schnelle Bewegung. Hierbei beobachtet das Kind seine Tätigkeit, indem es sowohl die eigene aktive Hand als auch die Spur, die die Hand hinterlässt, betrachtet. Durch die nun erfolgte Schmierspur ist nicht nur der Bewegungsradius des Kindes am Tisch erkennbar, sondern auch eine veränderte Handlungsstrategie. Hatte bisher die senso-motorische Erkundung des glitschigen Materials durch das Verschmieren selbst im Vordergrund gestanden, so tritt nun ein zusätzliches Handlungsmotiv hinzu bzw. in den Vordergrund: Sie versucht nun, das Breimaterial von der Tischfläche zu befördern. Sie nimmt die wenigen Reste, die sich nur noch weit verteilt auf dem Tisch befinden, mit ihrer Schwingbewegung auf und schiebt sie bis zur Tischkante, wo sie zum größten Teil hängen bleiben. Diese Bewegung führt sie immer wieder aus, als wolle sie „reinen Tisch machen“, als sei ihr das Verschmierte nun unangenehm oder nicht mehr ganz geheuer. Eine so stark verschmierte Tischfläche ist auch für ein Kind in diesem Alter in unserer westlichen Kultur, in der die Sauberkeitserziehung eine wichtige Rolle spielt, recht ungewohnt. Falls das Kind verstehen sollte, dass es sich hier um die eigene Spur, eine Objektivation des eigenen Tuns handelt, so will es diese Objektivation dennoch nicht erhalten. Die Spur ist gestischer Ausdruck. Festgehalten werden kann aber, dass die im siebten Foto registrierte kontemplative Pause eine Handlungs- und Strategieänderung bewirkte. Aufgrund von Nachdenken und rudimentärer Reflexion setzte sich Lara ein neues Ziel: und zwar dem Brei von der Tischplatte wegzuschieben. Dieses erkundende Verhalten wich einer stärker zielorientierten oder vielleicht auch in Ansätzen intentionalen Handlung.Dennoch bleibt die Schwinggeste bis zum Ende die vorherrschende Handlung. Das 9 1/2 Monate alte Kind klatscht nicht etwa in die Breiflecken senkrecht von oben hinein oder es schlägt auch nicht auf die Tischplatte auf. Der Brei wird nicht verspritzt, sondern nach einem bestimmten bewährten Bewegungsmuster verschmiert. Dass Lara den Brei weg von der Tischfläche schiebt, spricht dafür, dass nicht das Spurmachen dominant ist, sondern das Sensomotorische.
Abb. 12 |
Das neunte und letzte Foto (Abb. 12)
Immer wieder streicht das Kind mit der flachen Hand über die schmierige Tischfläche und zieht hierbei die Breireste zur Tischkante nach links außen. Insbesondere richtet es seine Aufmerksamkeit auf den Tischbereich direkt vor sich. Hierbei nimmt es mit der Hand auch Breireste auf, die es bisher weniger beachtete. Sensuell dominant ist der Brei auf der Handinnenfläche und den Fingerkuppen, wie er über die Tischfläche verschmiert wird. Durch das immer weitere Verteilen der Breireste wird die Tischoberfläche vom Gefühl her wieder wie bekannt und wie ursprünglich breilos. Noch immer ist Lara hoch konzentriert bei der Sache, bis die Tätigkeit keine neuen Impulse mehr für sie bereithält. Das Material ist verschmiert, der leere Tisch wird tendenziell uninteressant. Lara zeigt nun zum Abschluss ihren Unmut. Was auf den Fotos nicht mehr festgehalten ist: Sie reckt ihre beiden Hände in die Luft zur Mutter hin. Ein eindeutiges Zeichen dafür, dass die Mutter die Hände abwischen soll, das Breimaterial ist ihr nun offenbar unangenehm.Resümee und Ausblick
Ziel war es, das Phänomen des „Schmierens“ anhand eines Fallbeispiels näher zu untersuchen, und dies angesichts der Tatsache, dass es bisher in der Fachliteratur zur Kinderzeichnungsforschung bzw. zur Wahrnehmungspsychologie nur vereinzelte, sehr knappe Hinweise zum „Schmieren“ gibt. Deutlich wird Hans-Günther Richter, der nicht nur den Forschungsbedarf anmahnt, sondern auch das Schmieren und Sudeln in unmittelbaren Bezug zu den ersten Kritzelzeichnungen setzt – wenn auch nicht als deren Vorstufe, sondern als zwei zeitlich weitgehend parallel verlaufende Aktivitäten (Richter 5 1997, S. 23ff.; Richter 2001, S. 22f.). Doch noch bevor das Kind einen Stift halten kann, ist es dazu fähig, direkt mit seinen Fingern Spuren – etwa im weichen Sand oder in breiähnlichen Materialien – zu hinterlassen und das nicht nur zufällig, sondern willentlich und mit Systematik. Dieses Phänomen wird im Folgenden sowohl unter Bezugnahme auf die Fallanalyse als auch mithilfe bisheriger Erkenntnisse aus der Fachliteratur näher konturiert.(1) Das Schmieren mit dem Finger kann durchaus als eine direkte Vorform des ersten Spuren hinterlassenden Kritzelns gelten. Wie ist diese Hypothese zu untermauern?
(1a) Sowohl das Kritzeln als auch das Schmieren sind sensomotorische Ausdruckshandlungen. Für das Kritzeln gilt dies als gesicherter Wissensbestand. Für das Schmieren konnte dies anhand der Fallstudie der 9 1/2 Monate alten Lara nachgewiesen werden. Das zu verschmierende Material – in der vorliegenden Fallstudie der Brei – wird nicht nur sensorisch als kühl und feucht wahrgenommen, sondern vor allem bedingt der motorische Vorgang des Verschmierens einen sensorischen Reiz an den Wärme-, Kälte- und Tastrezeptoren auf der Haut der Finger und der Hand: Nur durch Motorik lässt sich dieses „glitschige Gefühl“ erreichen bzw. aufrechterhalten.
(1b) Ein zweites Indiz dafür, dass das Schmieren eng mit dem Kritzeln zusammenhängt bzw. rein zeitlich gesehen dessen Vorstufe ist, zeigt sich an der Art der in der Fallstudie beobachteten sensomotorischen Schmierbewegung, dem Schwingen. Ein Blick auf die Phasierung der Kinderzeichnung offenbart den so genannten Schwingkritzel übereinstimmend als eine der ersten und damit elementaren Kritzelformen (Egger 1984, S. 12; Daucher 1990, S. 140; Richter 5 1997, S. 27). Bestimmte Bewegungsabläufe, wie das Schwingen, werden vom Kleinkind regelmäßig und rhythmisch wiederholt, etwa das Hin- und Herschieben eines Tonklumpens auf der Tischplatte, wie es auch Stefan Becker in seiner Untersuchung zum plastischen Gestalten von Kindern beobachtete (Becker 2003, S. 15f.)
(1c) Unabhängig von der hier vorgelegten empirischen Untersuchung wird beim näheren Blick auf unsere Sprache zudem deutlich, wie eng Graffiti und Kritzeln mit dem Schmieren assoziiert werden. Gemäß der Phänomenologie birgt die Sprache viele leib-sinnlichen Aspekte, die uns oft nur vorbewusst zugänglich sind (Peters 1996, S. 39ff.). So nennt das Synonymwörterbuch für das Verb „schmieren“ u. a. die Worte „kritzeln“, „krakeln“, „krickeln“ und für „Schmiererei“ „Gekritzel“, „Kritzelei“ oder „Gekrakel“ (Görner/ Kempcke 1987, S. 476). Wenn jemand im alltäglichen Sprachgebrauch abwertend gemeint etwas an die Wand „schmiert“, dann kritzelt oder sprayt er in aller Regel, oder er ritzt etwas ein. Auch avantgardistische Kunst der Moderne wurde auf diese Weise diskreditiert. In diesem Sinne wetterte beispielsweise ein deutscher Kritiker 1933 gegen das „irrsinnige, kindische Geschmiere eines Klee“ (Fineberg 1995, S. 14).
(2) Hans-Günther Richter behauptet, aus den „Schmier- und Sudelaktivitäten selbst“ ließen „sich kaum organisierte Formen entdecken, die eine Art von motorischer Performanz darstellen und die dabei auf spezielle psychomotorische Muster und Affektqualitäten hindeuten“ (Richter 2001, S. 23). Im Gegensatz hierzu kann jedoch aus der vorgelegten Fallanalyse die Hypothese entwickelt werden, dass sich durchaus bestimmte Bewegungsformen schlüssig nachweisen lassen, die nicht zufällig sind, sondern speziellen psychomotorischen Mustern folgen. Die beobachtete Dynamik lässt sich in drei Phasen gliedern:
(2a) Das breiförmige Material wird mit der Spitze des Zeigefingers vorsichtig berührt und dann motorisch erkundet, und zwar in einer leicht schwingenden Schmierbewegung wird das Material mit dem Zeigefinger zu beiden Seiten hin verteilt (Abb. 4).
(2b) In einer zweiten am längsten andauernden Phase werden mit einer schwingenden Handbewegung und mit mehreren Fingern größere Mengen des Breis aufgenommen und über eine Fläche vertrieben, ebenfalls nach rechts und links schwingend (Abb. 5-9). Die sinnliche Wahrnehmung und die Motorik der Hand gehen hier eine symbiotische Verbindung ein: Das breiige Material kann in seinen Qualitäten nur durch den Einsatz der Motorik erfühlt werden. Steht die Hand still, ist auch das sensuelle Erlebnis kaum mehr vorhanden.
(2c) Ist dieser Vorgang des Schmierens um des Schmierens willen vorläufig beendet, so schiebt die 9 1/2 Monate alte Probandin nach einer kurzen Ruhephase das dickflüssige Material – immer noch in schwingender Bewegung, nun den gesamten Arm bis zur Schulter nutzend und den Oberkörper leicht mitdrehend – von sich weg bis über die Tischkante an ihrer Seite hinaus, als wolle sie die Tischfläche leeren (Abb. 11 u. 12).
(3) Einige Aspekte sind im gesamten analysierten Prozess zugegen:
(3a) Alle drei beschriebenen Phasen im Zeitraum von 13 Minuten sind von höchster Konzentration des Kindes geprägt. Das Kind geht in seinen Schmieraktivitäten auf, es handelt völlig freiwillig, nur aufgrund des Impulses der vor ihm befindlichen Breiflecken. Es ist offensichtlich intrinsisch motiviert, was wiederum auf von Lust geprägte Handlungen hindeutet. Auch Stefan Becker beobachtete im senomotorischen Spielverhalten eine „zunehmende Lust an der Wiederholung von bestimmten Bewegungsmustern“, deutliche „visuelle Aufmerksamkeit“ und Konzentration (Becker 2003, S. 15f.).
(3b) Die schwingende Motorik ist allen drei Phasen des Schmierprozesses eigen: Zunächst wird der vorsichtig erkundende Zeigefinger nach rechts und links bewegt. Anschließend schwingt das Kind seine Hand mit den gespreizten Fingern hin und her, indem es das Handgelenk bewegt. Nach dem Bewegen des Unterarms bis zum Ellebogen schwingt das Kind abschließend ausladend den gesamten Arm im Winkel von 90 Grad. Das Bewegungsmuster des Schwingens wird also nicht einfach ständig wiederholt, sondern in Phasen variiert und so auf unterschiedliche Art unter unterschiedlichen körperlichen Einsatzmöglichkeiten vervollkommnet.
(3c) Neugierde, Gefühl, Sensorik, Motorik, Aktion, Lust, Kontemplation, Konzentration und Affekte gehen eine wechselseitige intensive Verbindung ein, wie sie nicht nur in der Lebensphase der ersten Lebensmonate sich entwickelt, sondern wie sie wegweisend ist für grundlegende Welterkundungsqualitäten des Menschen. Die genannten Aspekte lassen sich analytisch kaum voneinander trennen.
(4) Eingangs wurde die zentrale Frage aufgeworfen, ob und inwieweit Schmieraktivitäten von Kleinkindern bewusst gesteuerte, spurgebende Handlungen sind. Würde der Nachweis hierfür gelingen, so wäre das „Schmieren“ als der Beginn bildnerischer Tätigkeit einzuordnen. Bei der Analyse des Verhaltens von Säuglingen und Kleinkindern kann nicht auf sprachliche Äußerungen zurückgegriffen werden. Ob eine Handlung demnach intentional ist oder nicht, ist schwer zu ermitteln, denn wir sind angewiesen auf Interpretationen von beobachteten Verhaltensweisen sowie auf analysierende Rückschlüsse hieraus. Je überzeugender diese Rückschlüsse sind, desto überzeugender lässt sich die Frage nach dem Beginn bildnerischer Tätigkeit im Schmieren beantworten. Eine letzte Sicherheit kann es freilich nicht geben. Von bildnerischem Handeln ist dann auszugehen, wenn eine Schmierspur primär um der Spur willen gesetzt und gestaltet bzw. verändert wird – dies ist beispielsweise bei Schmierspuren bildender Künstler der Fall. Bildet die Spur jedoch lediglich eine affektbetonte Verhaltensweise ab, zeigt sich motorischer Ausdruck, der eher zufällig mittels eines spurgebenden Materials für gewisse Zeit manifest wird, so kann dies nicht zu den Frühformen bildnerischen Handelns gezählt werden. Stefan Becker beobachtete Kinder im zweiten Lebensjahr: Irgendwann in dieser Zeit entdeckt das Kind „den Zusammenhang zwischen seiner Betätigung am Material und den entstehenden Formveränderungen; es erlebt sich nun plötzlich als Verursacher dieser Veränderungen“ (Becker 2003, S. 17). Für diese Form der aktiven Erkundung, bei der die Aufmerksamkeit ganz auf die Handlung konzentriert ist, benutzt Becker in Berufung auf den Erziehungswissenschaftler Dieter Baacke den Begriff der „manipulativen Exploration“ (Becker 2003, S. 17). Ich möchte ihn hier gegenüber einer sensomotorischen Exploration abgrenzen, denn die „manipulative Exploration“ zeichnet sich dadurch aus, dass erst durch das Erkennen der Kausalzusammenhänge in den eigenen Handlungen nachfolgend intentional gesteuerte Aktivitäten möglich werden.
Zweifellos sind Sensorik, Motorik und Affekt dominante Einflussgrößen des Schmierens eines Kleinkindes, diese Faktoren sprechen nicht für eine bewusste Gestaltung. Wenn das Kind jedoch erkennt, dass es selber beim Schmieren eine bestimmte Spur hinterlässt, so ist der Schritt nicht weit, diese Spur intentional zu beeinflussen, d. h. aus verschiedenen möglichen Verhaltensweisen eine Verhaltensweise zumindest vorbewusst auszuwählen. Dies wäre eine Vor- oder Frühform bildnerischen Gestaltens, eine manipulative Exploration. Eine solche Wahl wäre im Fallbeispiel etwa dann deutlich geworden, wenn Lara ohne erkennbaren äußeren Anlass von der schwingenden Bewegung zu anderen Bewegungen der Finger oder der Hand übergegangen wäre, wenn sie zeitweise beispielsweise kreisrunde Formen geschmiert und diese beobachtet hätte, so dass sich diese Schmierspur von der schwingenden unterschieden hätte. Bewegungsvariationen von Lara finden aber nur in der Form statt, dass die schwingende Schmierspur immer ausladender, sicherer und großzügiger wird. Vieles spricht dafür, dass es sich hierbei (lediglich) um sensomotorische Explorationen handelt. Einzig der Moment der Pause (Abb. 10) lässt auf ein kontemplatives Besinnen schließen. Und wirklich: Hiernach verändert sich die Schmierbewegung: Der Brei wird jetzt nicht mehr auf der Tischplatte hin und her vertrieben, sondern er wird von der Tischplatte zur Kante geschoben; ein Vorgang, dem eine gewisse Intentionalität unterstellt werden kann. Doch lässt sich aus dieser veränderten Handlungsweise keine bildnerische oder gestaltende Intention herauslesen. Die eigene Relation zur Welt wird hier nicht modelliert. Die sensomotorische Aufmerksamkeit wird lediglich verlagert. Es bleibt recht eindeutig bei einer Spielart der sensomotorischen Exploration. Dass diese sensomotorischen Handlungen eine erste Stufe von intelligenten Leistungen sind, steht kognitionspsychologisch freilich außer Frage (Becker 2003, S. 15), bevor Perzeption und Motorik soweit koordiniert werden, dass es zu einer echten Materialformung kommt. Auch nach der Kunsttherapeutin Bettina Egger steht bei solchen Phänomenen der von ihr benannten „vegetativ-motorischen Phase“ die Bewegung im Vordergrund der Wahrnehmung der Kinder, nicht die Spur, die sie hinterlassen. „Das Kind hat dabei noch wenig Kontrolle und Entscheidung, die Bewegung wird weitgehend von der Motorik bestimmt.“ (Egger 1984, S. 14)
Weiterer Forschungsbedarf
Obschon die vorliegende Fallstudie zu grundsätzlichen Erkenntnissen über das „Schmieren“ führte, die im Resümee zusammengefasst wurden, sollte das Phänomen noch näher untersucht werden. Für solche weiteren Forschungen lautet beispielsweise eine Frage, (a) ob die Motorik des Schwingens auch bei anderen Kindern stets dominant ist oder ob je nach Kind individuell verschiedene Bewegungsabläufe vorherrschen, z. B. das Aufschlagen mit der Hand (ähnlich dem Hiebkritzel) oder eine kreisrunde Bewegung (ähnlich dem Kreiskritzel). (b) Eine zweite Frage wäre, inwieweit andere Kinder im Alter vor dem ersten Geburtstag im Gegensatz zur Probandin Lara ihre Bewegungsabläufe verändern und variieren. Wäre dies der Fall, so könnte beim Schmieren deutlicher auf eine intentional gesteuerte, spurgebende und damit tendenziell rudimentär gestaltende Handlung geschlossen werden. (c) Die Versuche des Schmierens sollten ferner mit unterschiedlichen Materialien durchgeführt werden. Neben dem eingesetzten Nahrungsmittel Karottenbrei wären etwa handelsübliche Fingerfarben oder dickflüssige Tonmasse denkbar. (d) Ferner wäre das Schmierverhalten von Kleinkindern zu untersuchen, die im Alltag mehr Freiräume zum Sudeln haben, bei denen das Schmieren aus Gründen der „Hygiene“ und Sauberkeitserziehung nicht so sehr sanktioniert wird, wie in unserer westlichen Kultur. Haben diese Kinder früher die Erfahrung des intentionalen Spurgebens und was bedeutet dies für deren bildnerische Entwicklung?Literatur
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