Rezension von Dr. phil. Christa Seidel zu: Stritzker, Uschi/ Peez, Georg/ Kirchner, Constanze: Frühes Schmieren und erste Kritzel – Anfänge der Kinderzeichnung. Norderstedt (Books on Demand) 2008 |
Nicht nur Säuglinge und Kleinkinder, auch ältere Kinder und selbst Erwachsene schmieren und sudeln zu manchen Gelegenheiten gerne und lustbetont. Äußert sich hier ein Urbedürfnis der Menschheit als anthropologische Konstante, dem die Wissenschaft bisher zu wenig Beachtung geschenkt hat? Lassen sich hier die ersten Spuren ästhetischer Bildung mit anerkannten wissenschaftlichen Methoden nachweisen?
Mit der vorliegenden Neuerscheinung ist es den Autor/innen Uschi Stritzker M. A.; Dr. Constanze Kirchner, Professorin am Lehrstuhl für Kunstpädagogik der Universität Augsburg und Dr. Georg Peez, Professor für Kunstpädagogik / Didaktik der Kunst an der Universität Duisburg-Essen gelungen, dieser Fragestellung auch in der Langzeit-Beobachtung nachzugehen und mit phänomenologischen Einzelfall-Analysen neue und grundlegende Erkenntnisse der qualitativen Entwicklungspsychologie vorzulegen.
Sie weisen den prozessualen Verlauf der Schmier-Handlungen von Säuglingen und Kleinkindern nach und charakterisieren detailliert das Schmieren als Vorform des Kritzelns und Frühform der Kinderzeichnung. Auf der Grundlage einer phänomenologisch orientierten Auswertung von digitalen Fotographien (Fotoserien), Videoaufnahmen und Gedächtnisprotokollen sowie der Sammlung von Daten auf der Grundlage der Teilnehmenden Beobachtung werden unterschiedliche Phasen und spezifische „Bewegungsmuster“ des Schmierens herausgearbeitet. Diese werden in Beziehung zu den aus der Literatur bekannten „Mustern“ des Kritzelns gesetzt und interpretiert (vgl. H. Meyers, 1957, S. 48).
Das Buch ist mit 5 Kapiteln sehr gut strukturiert.
Zentrales Ergebnis dieser auf mehreren Fallstudien basierenden qualitativ empirischen Untersuchung ist, dass das Schmieren und Sudeln von Kleinkindern zwischen dem achten und zwölften Lebensmonat als eine Wurzel ihres bildnerisch-ästhetischen Verhaltens und als eine Vorform (Frühform) der Kinderzeichnung zu werten ist. Das Schmieren kann im prozessualen Ablauf und bei der Entwicklung seiner Bewegungsmuster (Schemata) mit dem Entwicklungsgeschehen des Kritzelns verglichen werden. Die vorliegenden Beobachtungen und Untersuchungsergebnisse belegen, dass es sich bei der Schmiertätigkeit um kein zufälliges planloses bewegungsfrohes Handeln, sondern um einen ganzheitlich orientierten Entwicklungsprozess handelt, der in die Gesamtentwicklung des Kindes eingebettet ist und einem festgelegten Handlungsablauf sowie festgelegten Bewegungsmustern folgt. Der prozessuale Ablauf (Erkundungsphase, Experimentierphase und Phase des Beendens der Schmiertätigkeit) und seine Muster (Schwingspuren, Hiebspuren, Kreisspuren) zeigen deutliche Übereinstimmungen mit dem Entwicklungsprozess des Kritzelns. Beurteilungen, auch wissenschaftliche Analysen zur Kinderzeichnung sollten künftig bei den frühen Schmieraktivitäten der Kinder beginnen, denn in ihnen sind die wichtigsten Elemente angelegt, die auch die frühe Kinderzeichnung prägen.
Das erste aufmerksame Betrachten der Schmierspur weist, vergleichbar dem ersten bewussten Betrachten der Kritzelspur, auf erste Ansätze des Bewusstwerdens der eigenen Gestaltungsmöglichkeit hin und kann Ausgangspunkt ästhetischer Gestaltung sein. Dieses Bewusstwerden ist Voraussetzung zur Entwicklung und aktiven Umsetzung von Vorstellungen und damit zur Weiterentwicklung kognitiver und affektiver Voraussetzungen bei der Bildung von Lernerfahrungen. Es kann dann positive Auswirkungen zum Aufbau der Ich-Identität und des Selbstkonzepts haben. Schmier-Pausen weisen nach Auffassung der Autor/innen auf erste rudimentäre Reflexionsmöglichkeiten des Kindes hin. Aus meiner Sicht wären in diesem Zusammenhang ergänzende nachfolgende Studien der Schmieraktivitäten älterer Kleinkinder (12 bis ca. 24 Monate) aufschlussreich, bei denen im prozessualen Verlauf geprüft werden könnte, in welcher Weise sich der Übergang vom sensomotorischen Denken zum Denken auf der Grundlage anschaulicher Operationen (vgl. Piaget) sowohl beim Schmieren wie beim Kritzeln vollzieht.
Dieses Buch ist sehr anschaulich und gut verständlich geschrieben, reichhaltig mit vielen farbigen und schwarz-weißen Abbildungen illustriert, führt praxisorientiert in die vorliegende Thematik ein und unterstreicht die wichtige Bedeutung des Schmierens für die Gesamtentwicklung des Kindes. Es handelt sich um eine Grundlagenliteratur im Sinne der qualitativen Entwicklungspsychologie und gibt allen Berufsgruppen, die mit Kindern malen und zeichnen und das bildnerische Gestalten in der ästhetischen Erziehung, Förderung und Therapie einsetzen, wichtige Informationen und Anregungen (Kunstpädagog/innen, Psycholog/innen, Sonder- und Heilpädagog/innen, Therapeut/innen, Erzieher/innen).
Für Leser/innen, die über ihr Studium, Referendariat oder Praktikum ein besonders Interesse an entwicklungspsychologischen Fragestellungen und Forschungsvorhaben haben, eignet sich das Buch ebenfalls in besonderem Maße.
erschienen in: Kunst+Unterricht, Heft 327/328 / 2008, S. 85-86