Rezension von Helmut Messner zu: Glaser-Henzer, Edith / Diehl, Ludwig / Diehl Ott, Luitgard / Peez, Georg: Zeichnen: Wahrnehmen, Verarbeiten, Darstellen. Empirische Untersuchungen zur Ermittlung räumlich-visueller Kompetenzen im Kunstunterricht. München (kopaed) 2012 |
Kompetenzen und Bildungsstandards sind Schlüsselbegriffe in der aktuellen bildungspolitischen und fachdidaktischen Curriculumdiskussion (vgl. CH-Lehrplan 21). [Anm. Lehrplan 21 ist ein laufendes Projekt der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz (D-EDK) mit dem Ziel, für die 21 Deutschschweizer Kantone einen gemeinsamen kompetenzorientierten Lehrplan für die Volksschule auszuarbeiten.] In der vorliegenden Studie geht es um räumlich-visuelle Kompetenzen als Grundlagen der Entwicklung der Wahrnehmungs- und zeichnerischen Gestaltungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen. Was ist darunter zu verstehen, wie lassen sich diese näher bestimmen und fördern? Das Projekt „raviko“ (Räumlich-visuelle Kompetenzen in Bezug auf ästhetische Erfahrungen im Unterricht Kunst/ Bildnerisches Gestalten) ging mit empirisch-qualitativen Methoden diesen Fragen nach und liefert Erkenntnisse, die für die fachdidaktische Diskussion und die Förderung dieser Kompetenzen im Kunstunterricht bzw. im Bildnerischen Gestalten bedeutsam sind.
Die Untersuchungen, auf welche sich dieser Forschungsbericht bezieht, erfolgten im Rahmen von aufeinander folgenden Unterrichtssequenzen und didaktischen Settings zum Thema „Piraten“ bei 10-13 jährigen Kindern auf den Klassenstufen 4-6 zwischen Februar 2007 und März 2009. Dabei wurden bei ausgewählten Kindern systematisch verschiedene Daten erhoben und qualitativ ausgewertet: die im Unterricht entstandenen Zeichnungen, die audio- und videografischen Aufnahmen des Entstehungsprozesses der Zeichnungen sowie die in Interviews gewonnenen Kommentare und Urteile der Kinder zu ihrem Vorgehen und ihren Produkten. Die Analyse der Daten erfolgte mit Hilfe von Kriterien- und Kategorienrastern zu räumlich-visuellen Kompetenzen, die aufgrund theoretischer Annahmen und auf der Basis der „Grounded Theory“ gewonnen wurden.
Bei der Analyse der räumlich-visuellen Darstellung der Kinderzeichnungen werden verschiedene Raumdarstellungstypen und Niveaus der Raumdarstellung (von der zweidimensionalen bis zur dreidimensionalen projektiven Darstellung) unterschieden. Dabei zeigt sich, dass es diese Typen in Reinkultur nicht gibt, sondern dass die Komplexität einer Raumdarstellung je nach didaktischer Situation und subjektiv-prozessbezogenen Faktoren variiert. Die erzielten Raumdarstellungsniveaus hängen offensichtlich mit Verarbeitungsprozessen und Gestaltungsabsichten zusammen, welche in den Audio- und Videoaufnahmen sowie in den begleitenden Interviews sichtbar werden. Diese betreffen die bildsprachliche Konkretion, das Vorgehen beim bildnerischen Problemlösen, die räumliche Selbstpositionierung, die Fantasie und das eigene ästhetische Urteil. Die unterschiedlichen Darstellungstypen und -niveaus sowie die damit verbundenen Verarbeitungsprozesse werden durch zahlreiche Fallbeispiele anschaulich illustriert.
Was bedeuten diese Ergebnisse nun für das Lernen in diesem Schulfach und für die Förderung räumlich-visueller Kompetenzen? Der hier entwickelte Kompetenzbegriff bedingt eine Fokusverlagerung vom Endprodukt auf den Entstehungsprozess von bildlichen Darstellungen. Dieses erweiterte Kompetenzverständnis, das sich an den Kompetenzbegriff von Weinert (2001) anlehnt, führt zu einer Abkehr von einem vereinfachenden, linearen Steigerungsmodell für die räumliche Wahrnehmung und Darstellung auf der Fläche. Es wird abgelöst durch ein Komplexitätsmodell der Raumdarstellung, wobei die Komplexität der Darstellung durch die Reflexion des eigenen Tuns, durch hartnäckiges Problemlöseverhalten und durch das Erlernen zusätzlicher bildnerischer Möglichkeiten der Raumdarstellung erhöht werden kann. Dieses erweiterte Lern- und Entwicklungsmodell hat Konsequenzen sowohl für die Entwicklung von Aufgabenstellungen in didaktischen Settings als auch für die Unterstützung und Förderung der damit verbundenen Kompetenzen. Offen bleibt jedoch die Frage, ob und inwieweit auch die Entwicklung einer individuellen Bildsprache im Kunstunterricht durch die in dieser Studie zugrunde gelegte Kompetenzorientierung erfasst und gefördert werden kann.
Der vorliegende Forschungsbericht ist beispielhaft dafür, dass auch in den gestalterischen Fächern unterschiedliche Niveau-Stufen von Kompetenzen bestimmt und gemessen werden können, welche zur Differenzierung der Zielvorstellungen und Zugänge des Unterrichts in diesen Schulfächern beitragen. Die entwickelten didaktischen Unterrichtssequenzen sowie die Kriterienraster zur Analyse von Zeichnungen und den zugrunde liegenden Verarbeitungsprozessen sind nicht nur wertvolle Grundlagen für weitere Untersuchungen, sondern auch für die Diagnose und Beurteilung von Leistungen und Lernzugängen brauchbar. Der vorliegende Untersuchungsbericht stellt deshalb nicht nur für die Fachdidaktik des Kunstunterrichts bzw. des Bildnerischen Gestaltens eine wichtige Referenzquelle dar, sondern bietet auch für interessierte Fachlehrpersonen und Studierende wertvolle Anregungen und Hilfsmittel für das bessere Verständnis von räumlich-visuellen Kompetenzen und deren Förderung.
erschienen in: Zeitschrift für Bildungsforschung, Januar 2013