Rezension von Prof. Dr. Peter Metz zu: Glaser-Henzer, Edith / Diehl, Ludwig / Diehl Ott, Luitgard / Peez, Georg: Zeichnen: Wahrnehmen, Verarbeiten, Darstellen. Empirische Untersuchungen zur Ermittlung räumlich-visueller Kompetenzen im Kunstunterricht. München (kopaed) 2012 |
Wie jedes Schulfach hat auch das Zeichnen seine eigene Geschichte, die zum einen von gesellschaftlichen Erwartungen, zum andern von den der Schule eigenen Voraussetzungen abhängt. Fast so alt wie das Schulfach selber ist die Geschichte der Kinderzeichnungsforschung, sei es aus Interesse an der Anthropologie des Kindes, der Entwicklungspsychologie oder der Kunst. Die vorliegende Studie bezieht ihre Fragestellung und ihr Untersuchungsdesign – durchaus im Bewusstsein der eigenen Schulfachgeschichte – auf die aktuelle Bildungsdiskussion und Fachdidaktikforschung.
Die aktuelle bildungspolitische und fachdidaktische Curriculumsdiskussion zielt auf die Bestimmung von Kompetenzen und Standards. Dieser Aufgabe stellt sich die vorliegende Studie, was sich im Untertitel des Buches ausdrückt: „Empirische Untersuchungen zur Ermittlung räumlich-visueller Kompetenzen im Kunstunterricht“. Die Studie fragt nach der Entwicklung und Förderung der räumlich-visuellen Kompetenz bei Schülerinnen und Schülern der vierten bis sechsten Klassenstufe. Wie es der Haupttitel des Buches sagt, umfasst der Kompetenzbegriff das Gesamt von Prozessen der räumlich-visuellen Wahrnehmung, Verarbeitung und Darstellung. Dieser weite Kompetenzbegriff, zudem differenziert nach Niveaustufen, erfordert ein entsprechendes Untersuchungsdesign, das unterschiedliche Methoden verwendet und die Resultate trianguliert. Die Wahl der Altersstufe hängt damit zusammen, dass sich Kinder der Klassenstufen vier bis sechs zunehmend Fragen der Perspektivdarstellung stellen und diesbezügliche Anforderungen und Umsetzungen auch zu verbalisieren wissen. Die Förderung dieser Kompetenzen legt Grundlagen für die weitere Schullaufbahn und Arbeitswelt, in denen das Räumlich-visuelle zunehmend an Bedeutung gewinnt.
Der Forschungsbericht bezieht sich auf Untersuchungen, die im Rahmen von mehreren Unterrichtssequenzen und didaktischen Settings zum Thema „Piraten“ bei 10-13jährigen Kindern zwischen Februar 2007 und März 2009 erfolgten. Das Thema „Piraten“ spricht diese Altersstufe an und ermöglicht herausfordernde und komplexe Aufgabenstellungen, die individuelle Erfahrungs- und Lernformen zulassen und sichtbar machen. Die im Unterricht entstandenen Zeichnungen, die audio- und videografischen Aufnahmen des Entstehungsprozesses der Zeichnungen sowie die in Interviews gewonnenen Kommentare und Urteile der Kinder zu ihrem Vorgehen und ihren Produkten vermitteln Daten, die sich mit Hilfe von Kriterien- und Kategorienrastern auswerten lassen. Die Auswertung der Daten erfolgte in verschiedenen Schritten durch Triangulation der drei Datenquellen. Den Schülerleistungen gingen fünf Fördersequenzen voraus: Nach einer Standortabklärung erstens eine Übung zum sensomotorischen Wahrnehmen des Raumes, zweitens eine Tast-Übung zur Bestimmung von Objekten in der Fläche, drittens eine Übung zum visuellen Wahrnehmen und Erinnern, viertens und fünftens eine Übung zum sprachlichen Erfassen und bildhaften Vorstellen.
Was zeigt die Auswertung der drei Datenquellen? Die Beurteilung einer zeichnerischen Darstellung ist nicht primär von der Höhe räumlicher Komplexität in der Darstellung abhängig, sondern von der Darstellungsabsicht, die das Kind mit seiner Zeichnung verfolgt. Der Einbezug von Videografie und mündlichen Kommentaren erlaubt, präzisere Kriterien für die Einschätzung der zeichnerischen Lösung zu bestimmen; diese kann auf hohem Niveau auch dann erfolgen, wenn perspektivisch gesehen einfachere Raumdarstellungstypen gewählt werden, weil sich damit die Absicht auch und subjektiv gesehen auch deutlicher darstellen lässt. Die Auswahl und Nutzung vielfältiger Formen in der Raumdarstellung ist abhängig von den ermittelten Verarbeitungskompetenzen, die den Darstellungsformen zugrunde liegen. Dieses Ergebnis widerspricht somit einer linearen Entwicklungsannahme von „zunehmend perspektivisch“. Die Untersuchung belegt vielmehr, dass sich die Entwicklung der räumlich-visuellen Wahrnehmung und Darstellung im Zusammenspiel von zeichnerischem Können und Wissen und den Verarbeitungskompetenzen differenziert und die Förderung und Einschätzung entsprechend ausgerichtet werden sollte. Offensichtlich folgt die Art und Komplexität der Raumdarstellung der didaktisch formulierten Problemstellung und den individuellen Gestaltungsabsichten und Verarbeitungsprozessen. Dies illustrieren die Forscherinnen und Forscher an zahlreichen Fallbeispielen.
Worin besteht der Gewinn dieser Untersuchung? Sie gilt einem Schulfach, das weit weniger im Fokus der bildungspolitischen Aktualität steht, und sie bringt es theoriegestützt und praxisnah voran. Die Diskussion um PISA leitet und verleitet in der öffentlichen Diskussion dazu, einseitig die Fachbereiche Sprache, Mathematik und Naturwissenschaften zu fokussieren. Schaut man sich die PISA-Studien an, geht es aber auch da vielfach um die Bewältigung visueller Aufgabenstellungen. Die Studie ist in mehrfacher Hinsicht innovativ: Sie eröffnet eine Vielfalt adäquater und aufeinander abgestimmter Forschungsmethoden, mit denen sich die anspruchsvollen Forschungsfragen im Bereich der Ästhetik empirisch und schulfeldnah verfolgen lassen. Sie findet theoretisch curricular Anschluss an die Fachdiskussion um Kompetenzen und Standards. Sie steht ein für ein anspruchsvolles Verständnis des Schulfaches „Bildnerisches Gestalten“ und sie zeigt der bezüglichen Fachdidaktik auf, wie herausfordernde, lernförderliche ästhetische Problemstellungen formuliert werden können. Diese Programmatik ist vorbildlich und auch für andere Fachdidaktiken anregend.
erschienen in: Kompetenzorientierung. Beiträge zur Lehrerbildung BzL. Zeitschrift zu theoretischen und praktischen Fragen der Didaktik der Lehrerbildung, 32 (3), 2014, S.499-500