Rezension von Prof. Dr. Wolfgang Legler zu: Georg Peez: „Ich möchte Nebel malen lernen.“ Theorieelemente erfahrungsoffenen Lernens in der kunstpädagogischen Erwachsenenbildung. Frankfurt a. M. (Dipa Verlag) 1994 |
Mit Hingabe und Überzeugung
Daß Fachtheorie aus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit eigenen Praxiserfahrungen entsteht und daß aus dieser Auseinandersetzung neue Orientierungen für die Praxis gewonnen werden, ist auch in den ursprünglich „pragmatisch“ orientierten pädagogischen Disziplinen nicht (mehr) allzu häufig der Fall. Es hat im Gegenteil den Anschein, als habe besonders die Integration der Lehrerausbildung in die Universitäten dazu beigetragen, die wissenschaftliche Dignität der Pädagogik (die sich nun als „Erziehungswissenschaft“ bezeichnete) in einer wachsenden Distanz zur Praxis zu suchen.
Georg Peez bildet hier mit seinem Anfang 1994 erschienenen Buch „Ich möchte Nebel malen lernen“ eine rühmliche Ausnahme. Der etwas ungewöhnliche Titel gibt die Äußerung der Teilnehmerin eines Malkurses wieder, den der Autor der seit fünfzehn Jahren in der kunstpädagogischen Erwachsenenbildung tätig ist, angeboten hatte. Seine „Theorieelemente erfahrungsoffenen Lernens in der kunstpädagogischen Erwachsenenbildung“ (Untertitel) sind wesentlich das Resultat solcher Erfahrungen. Der Begriff „Theorieelemente“ macht dabei deutlich, daß sich wissenschaftlich reflektierte Praxis in pädagogischen Kontexten niemals zu einer konsistenten Theorie verdichten lässt, sondern daß es im Blick auf die Verschiedenheit und Vielschichtigkeit solcher Praxis darauf ankommt, unnötige Festlegungen zu vermeiden und über das Aufarbeiten theoretischer Grundlagen, die Zusammenstellung relevanter Fakten und das exemplarische Reflektieren von Zusammenhängen flexible Bausteine für das Nachdenken über die Bedingungen und Möglichkeiten des jeweils eigenen didaktischen Handelns bereitzustellen. Dies leistet das Buch von Georg Peez in überzeugender Weise.
Im I. Teil werden zunächst „grundlegende theoretische Aspekte zu erfahrungsoffenem Lernen in der kunstpädagogischen Erwachsenenbildung“ herausgearbeitet. Den Ausgangspunkt bilden Überlegungen zum Verhältnis von Wahrnehmung, Erfahrung, Lernen und Handlung, das als Einheit begriffen wird. „Erfahrungen machen“ heißt „Veränderung der eigenen Deutungsmuster durch die Wahrnehmung“ (S. 18). Resultieren aus solchen Veränderungen (neue) Erkenntnisse über uns und unsere Umwelt, findet „Lernen“ statt und dieses Lernen wiederum verändert die Art und Weise, in der wir wahrnehmen und Erfahrungen machen.
Die Bereitschaft zur Veränderung der eigenen Deutungsmuster setzt i.d.R. eine stabile Persönlichkeit voraus, denn solche Veränderungen können mit Verunsicherungen und Risiken verbunden sein. Als wesentliche pädagogische Intentionen postuliert Peez deshalb unter Hinweis auf Positionen der humanistischen Psychologie „Selbstvergewisserung“ und „(Selbst-)Bildung“. Die Vorsilbe „Selbst“ macht deutlich, daß „weder Wahrnehmen, Erfahren noch Lernen“ stellvertretend von Pädagogen geleistet werden“ können. „Die Erwachsenen sind Akteure und Souveräne ihrer Lernprozesse“ (S. 224). Erst wer sich seiner selbst sicher ist, wer Prozesse der Selbstvergewisserung durchlaufen hat, ist offen für (Selbst-)Bildung, denn „(Selbst-)Bildung erfordert Offenheit für Veränderungen und Erweiterungen der eigenen Persönlichkeit, hin zu einem weitgehend offenen und umfassenden Wahrnehmen, Erfahren, Lernen und Handeln“ (ebd.). „Erfahrungsoffenes Lernen“ soll hierfür die Voraussetzungen schaffen.
Wer mehr über den von Georg Peez vertretenen didaktischen Ansatz erfahren möchte, findet interessante Hinweise zu seiner möglichen Weiterentwicklung im Heft 3/94 der BDK-Mitteilungen. Peez diskutiert sein Konzept hier in seinem Verhältnis zu den Intentionen einer „reflexiven Erziehungswissenschaft“ und entwickelt ein Verständnis kunstpädagogischer Methexis (Teilhabe), das einen guten Eindruck von der tiefen Achtung vermittelt, die Peez auch in seinem Buch gegenüber der persönlichen Integrität und den unterschiedlichen individuellen Dispositionen der Teilnehmer(innen) seiner Kurse erkennen läßt. Dies war für mich der stärkste Eindruck bei der Lektüre.
Daneben muß natürlich der Umstand ganz besonders hervorgehoben werden, daß hier ein in den letzten Jahrzehnten enorm expandierter Praxisbereich, um den sich die Fachdidaktik bislang kaum gekümmert hat, erstmals in allen Teilaspekten systematisch erfaßt und reflektiert wird. Im Unterschied zu dem gängigen und sehr unscharfen Begriff der „kulturellen Bildung“ spricht Peez präziser von „kunstpädagogischer Erwachsenenbildung“. So werden im II. Teil zunächst die Rahmenbedingungen und Verständigungsebenen untersucht, unter denen heute über kunstpädagogische Erwachsenenbildung nachgedacht werden muß. Das Spektrum reicht von einer Erörterung des Freizeitbegriffs über das Verständnis von „Kultur“ und „Kunst“, bis zu einer Bestandsaufnahme zur Situation der Laienkunst heute.
Im III. Teil geht es um die Teilnehmer(innen) in Kursen der kunstpädagogischen Erwachsenenbildung, d.h. um Fragen der Sozialisation und des Lernens bei Erwachsenen, um den Einfluß von Alter, Geschlecht oder sozialer Herkunft, um Motivation und das zu erwartende Kunstverständnis. Georg Peez hat hier wie im anschließenden IV. Teil, der Qualifikationen, Ausbildungsmöglichkeiten und den beruflichen Status von Kursleitern behandelt, ein enormes Lektürepensum bewältigt, um neben der problemorientierten Auswertung seiner eigenen Praxiserfahrungen möglichst keinen Aspekt unberücksichtigt zu lassen. Dieses verständliche und sicherlich auch wichtige Interesse an systematischer Vollständigkeit macht die Lektüre seines Buches manchmal ein wenig mühsam. Aber da der Autor nicht nur „mit Hingabe und Überzeugung“ (Rogers) kunstpädagogisch arbeitet (S. 132), sondern auch schreibt, sind solche „Durststrecken“ niemals allzu lang. Besonders den V. Teil, in dem „Konzeptionelle Ansätze zur Vorbereitung und Durchführung von Kunstkursen“- vorgestellt werden und der sich wie ein Ratgeber zur Planung, Ausschreibung, Gestaltung und Auswertung solcher Kurse liest, fand ich sogar wieder ausgesprochen spannend. Der Abschnitt über den schrittweisen Abbau der Leiterzentrierung in der Kursorganisation (S. 194 ff.) hat mich an meine eigenen Versuche in der kunstpädagogischen Erwachsenenbildung erinnert und ich habe bedauert, daß es ein Buch wie dieses nicht schon damals gegeben hat. Es hätte mir sehr geholfen.
erschienen in: BDK-Mitteilungen Heft 1, 1995, S. 30-31