Rezension von Ruth Kunz zu: Stritzker, Uschi/ Peez, Georg/ Kirchner, Constanze: Frühes Schmieren und erste Kritzel – Anfänge der Kinderzeichnung. Norderstedt (Books on Demand) 2008 |
Die vorliegende Publikation widmet sich einem in der Kinderzeichnungsforschung bislang wenig beachteten Thema: dem Schmieren und Salben. Damit öffnet sie den Blick auf jene, wie Hans-Günther Richter (2001) noch formulierte, vernachlässigte „Vorgeschichte des Zeichnens“.
Während ein auf Produkte ausgerichtetes Interesse sich schwer tut, in diesen polysensuellen Handlungen organisierte Formen zu sehen, zeigen Stritzker, Peez und Kirchner, wie über die konzise Arbeit mit visuellen Medien wesentliche Strukturen dieser Aktivitäten kenntlich werden. Die Dokumentation des Entstehungsprozesses lässt uns das bis anhin aus vorwiegend psychoanalytischer Sicht betrachtete „Schmieren“ als selbstgesteuerte, sinnlich fundierter Art und Weise der Wirklichkeitsaneignung und Welterkenntnis verstehen.
Anhand fotografischer Bildreihen zu den Schmieraktivitäten von Laura, Merle und Mila können wir die performative Dynamik körperbezogener Bewegungsabläufe nachvollziehen, hinterlassene und wieder verwischte Spuren in ihrem Auftauchen und Verschwinden wahrnehmen. Bereichert durch die Erfahrung teilnehmender Beobachtung beschreibt Georg Peez atmosphärisch dicht, was in den Momenten zwischen zwei Aufnahmen geschieht. Von Foto zu Foto belebt sich der Prozess neu und will vom Betrachter imaginiert werden.
Anders als im Gegenüber dieser Fotoreihen, wo gerade die nicht abbildbaren Momente nach Versprachlichung drängen, verlangt die Transformation einer Videosequenz eine Form der Beschreibung, die das Gleiten von einer Handlung zur nächsten erfahrbar macht und jene im Medium gegebene Besonderheit – dass wir Zeit und Materie verstreichen sehen – an den Lesenden vermittelt.
Im Bewusstsein, dass Bilder von Sprache schwer einzuholen sind, sucht Uschi Stritzker darum nach einem innovativen methodischen Ansatz, der genuin vom Bildnerischen ausgeht: Sie extrahiert aus dem vorhandenen Videomaterial Abfolgen von Stills und macht damit Zustände sichtbar, die im performativen Fortgang leicht übersehen werden. Indem sie diese Einzelbilder wiederum zu Reihen fügt, in denen das singuläre Moment in einem größeren Zusammenhang erscheint, macht sie die Ergebnisse ihrer Arbeit mit den Ergebnissen der fotografischen Erhebungen vergleichbar.
In Anlehnung an Balint (1970), der die Manipulation mit Material als eine der wichtigsten Erfahrungen des Kleinkindes bezeichnet, gehen die AutorInnen von der Annahme aus, dass im Umgang mit dem Pastosen: mit Brei und Farbe, erste regelhafte Beziehungen zwischen visuell, haptisch oder auditiv wahrnehmbaren Eigenschaften entdeckt werden und die Erfahrung des Kindes in eine Wechselbeziehung zu seinem Wahrnehmungsvermögen tritt.
Als lebensweltliche Erkundungen im häuslichen Umfeld realisiert, gehen alle vier Fallstudien der Frage nach, ob in sensomotorischer Exploration bereits eine Aufmerksamkeit für das als Spur Hervorgebrachte aufscheint. Wiewohl es sich um Beobachtungseinheiten von wenigen Minuten handelt, weisen sie eine Phasierung auf, die sich als Materialerkundung, Hervorbringen der Spur, Interessensverlust beschreiben lässt.
Für die beobachteten Initiationshandlungen charakteristisch ist, wie das Kind, von der Kontaktaufnahme mit dem Material absorbiert, eine mehr oder weniger lange Linie zum Körper hin zieht und diese Bewegung eins ums andere Mal wiederholt. Das auch im spätern Kritzelgeschehen als „vertical arc“ (Matthews 2003) beschriebene Moment transponiert sich ins Horizontale und wird zum Hin und Her.
Von den AutorInnen als „Wischen“ bezeichnet, verstärkt es die taktilen Reize. Ausgreifend und immer schneller werdend, intensivieren die Bewegungen das glitschige Gefühl: Motorische und sensuelle Erfahrung schaukeln sich gegenseitig hoch und erfassen nach und nach die ganze Handfläche. Ihrer Tendenz nach sind es Bewegungen, die vom Körper weg führen und das Material vertreiben.
Konzentriertes Betrachten der entstandenen Spuren lässt vermuten, dass das Kind seine Tätigkeit im Geiste vorbeiziehen lässt und die Folgen seines Handelns an den Veränderungen des Materials zu erkennen vermag. Dass diese Interpretation plausibel ist, bestätigt sich darin, dass es nach einer kurzen Pause das zuvor ausgeführte Bewegungsmuster wiederholt, so als wolle es sich vergewissern, dass seine Bewegung nicht nur eine Veränderung bewirken, sondern dass dieser Effekt ein zweites Mal – willentlich – hervorgebracht werden kann.
Der rhythmischen Wechsel von Tätigkeit und Pause zeigt, wie das Innehalten als rudimentäre Reflexion nicht minder bedeutend ist als die beobachtbare Handlung. Wiederholbar gewordene Bewegungen transponieren die rein sensomotorische Erfahrung in eine intentionale Materialerkundung und -manipulation und das Schmieren beginnt um des Spurenmachens willen interessant zu werden.
Materialien wie Bleistift, Kreide, in deren feiner Staubschicht, die Gebärde sich als Relikt bewahrt, sind kultur- und zivilisationsgebunden – das Schmieren ist es nicht! Was liegt also näher als diese bis dahin skeptisch beurteilte Tätigkeit aufgrund der neu gewonnenen Erkenntnisse als früheste Form ästhetischen Verhaltens zu begreifen?
Das Buch eignet sich ausgezeichnet als Lehrmittel. Nicht nur lassen sich Texte (Beschreibung/Interpretation) beispielgebend für die Vermittlung von Forschungspraxis nutzen – Eingangskapitel wie „Grundsätzliches zum Schmieren von Kindern“ sind so anregend geschrieben, dass man sie Dozierenden und Studierenden gerne zur Lektüre empfiehlt.
erschienen in: Heft 02 / 2009, Publikation des Verbandes der Lehrerinnen und Lehrer für Bildnerische Gestaltung Schweiz, S. 391-393