„Und da hat sie auf einmal keine Angst mehr gehabt.“

Wirkungen ästhetischer Erziehung am „Fallbeispiel Beate“ (12 Jahre)

Georg Peez

Es ist zweifellos eine zentrale Aufgabe des Kunstunterrichts, ästhetische Erfahrungen im bildnerischen Gestalten wie auch in der Rezeption bzw. Wahrnehmung zu ermöglichen. Dieses Ziel ist quer durch alle kunstpädagogischen Konzepte hindurch seit Jahrzehnten anerkannt (u. a. Selle 1988, S. 30; Grünewald u. a. 1997; Kirchner/ Otto 1998, S. 1ff.) und von Adelheid Sievert immer wieder in den Mittelpunkt ihrer fachdidaktischen Konzeptionen gestellt worden (u. a. in Staudte 1993, S. 298ff.; Sievert-Staudte 1998, S. 24ff.). Über die pädagogischen Mittel zur Erreichung dieses Ziels gibt es in der Kunstpädagogik sehr verschiedene Auffassungen und Praxen. Letztlich sind aber alle an der Frage interessiert, ob bestimmte konzeptionelle kunstpädagogische Maßnahmen ästhetische Erfahrungen auslösen -und grundsätzlicher: ob sie überhaupt etwas auslösen. 

Wolfgang Legler schrieb hierzu kürzlich: „Um (…) in der bildungspolitischen Diskussion nicht unter die Räder zu kommen, müssen wir also, so scheint es, mehr einbringen als bildungstheoretische Postulate -so wichtig und fundiert diese sein mögen. (…) Mit anderen Worten: Wir müssen der Empirie gegenüber der Theorie einen größeren Stellenwert zugestehen und mehr darüber sagen können, was wirklich im Kunstunterricht bzw. in ästhetischen Lernprozessen geschieht, welche kurz-, mittel- und langfristigen Wirkungen daraus resultieren und welche Faktoren auf welche Weise die Qualität solcher Wirkungen beeinflussen können.“ (Legler 2001, S. 44)

Evaluationsforschung tut also Not. Die Herausforderung lautet, empirische Forschungsverfahren zu entwickeln und anzuwenden, die es ermöglichen, Wirkungen ästhetischer Erziehung zu beobachten und festzustellen. Konkret: Wurden ästhetische Erfahrungen gemacht, die Voraussetzung für ästhetische Bildungsprozesse sind? Seit einigen Jahren sind hierzu durchaus vermehrt empirische Studien angefertigt worden (z. B. Peters 1996; Kirchner 1999; Mollenhauer 1996; Neuß 1999; Peez 2 2002; Brenne 2003). Ich werde im Folgenden darlegen, wie solche Wirkungsforschung fallspezifisch aussieht, wie man ästhetische Erfahrung nachweisen sowie ästhetisch bildende Wirkungen des Unterrichts untersuchen und klären kann. 

Der evaluierte Unterricht im Forschungskontext

Das dem folgenden Fallbeispiel der Schülerin Beate zugrunde liegende Unterrichtsprojekt im Fach „Bildende Kunst“ in zwei 6. Klassen wurde mit qualitativ-empirischen Interpretationsverfahren in seiner Wirkung auf die Schülerinnen und Schüler untersucht. Verschiedene Forschungsmaterialien wurden erhoben und mit vorwiegend phänomenologischen Analysemethoden (Lippitz 2 1987; Rumpf 1991) meist sequenzanalytisch interpretiert. Die Forschungsmaterialien waren im Einzelnen: 
– Fotos, die die Schülerinnen und Schüler mit der Digitalkamera aufnahmen;
– Zeichnungen der Heranwachsenden;
– von den Kindern aufgeschriebene Geschichten zu ihren Zeichnungen;
– Transkriptionen von Interviews, die mit den Schülerinnen und Schülern geführt wurden.
Das gesamte Material für diese Wirkungsforschung besteht also nur aus Äußerungen der Heranwachsenden selbst. Und die hieraus gezogenen didaktischen Schlüsse beruhen ausschließlich auf diesen Äußerungen.
Doch zunächst sei der Unterrichtsverlauf, um den es hier geht, umrissen (Anm. 1): Mit einer Digitalkamera wurden von den insgesamt ca. 40 Schülerinnen und Schülern aus zwei integrativen 6. Klassen einer Integrierten Gesamtschule Nahaufnahmen im Außenbereich ihrer Schule gemacht, vor allem von Flecken, u. a. auf dem Boden, an Wänden und Bäumen (Abb. 1). Diese Unterrichtssequenz fand in Kleingruppen von ca. fünf Kindern mit je einer Lehrerin bzw. eine Betreuerin statt. In den isoliert gesehenen Formen sollten die Heranwachsenden Fantasiegestalten frei assoziieren. In der nächsten Unterrichtsstunde erhielten die Kinder hellgraue A4-Ausdrucke ihrer Fotos (fertig erstellt mit dem so genannten Transparenzeffekt eines Bildbearbeitungsprogramms). Auf die Ausdrucke malten und zeichneten sie diese Assoziationen, Fantasiegestalten oder -dinge (Abb. 2). Zu ihren Bildern entwickelten die Schülerinnen und Schüler Geschichten und schrieben sie auf (siehe unten). Die Bilder und Texte wurden sowohl im Internet als auch in einer Ausstellung in der Schule präsentiert. Nach Abschluss des Projekts führte ich mit den Kindern Leitfaden-Interviews mit narrativen Elementen.

Abb. 1: Beate (12 Jahre): Fleck an der Wand; Digitalfoto, (Ausgangsbild für Abb. 2), August 2001

Das Fallbeispiel „Beate“: „Das leuchtende / goldene Hufeisen“

Auf dem Digitalfoto eines Flecks an der Wand (Abb. 1) ist kaum etwas zu erkennen. Beate sieht jedoch einen schmalen, hellen, gekrümmten Bereich in diesem Fleck und assoziiert hiermit die Krümmung eines Hufeisens. Wenden wir uns der Zeichnung zu (Abb. 2), die Beate auf dem Computerausdruck anfertigte, dann sehen wir vor allem die recht einfache, reduzierte Darstellung dieses einzigen Gegenstandes. Den hellen Hufeisen-Umraum verstärkt sie dadurch, dass sie den Hintergrund gleichmäßig dunkel schräg schraffiert. Wie an dieser Schraffur zu erkennen ist, ist sie offenbar Rechtshänderin. Das Hufeisen selbst ist schmal und zugleich dunkel. Sie betitelt ihre Zeichnung mit „Das leuchtende Hufeisen“, welches goldgelb zu strahlen scheint. Eine möglicherweise stärkere magische Intention steht hier hinter dem Adjektiv „leuchtend“ und weniger die Funktion einer Lampe, die Licht abgibt, da das Hufeisen als mögliche Lampe selbst ja sonst der hellste Lichtpunkt sein müsste. 

Abb. 2: Beate (12 Jahre): „Das leuchtende Hufeisen“, farbige Zeichnung auf Computerausdruck, A4-Format, August 2001

Hufeisen sind in unserer Kultur Symbole für Glück. Somit wird Hufeisen eine magische Wirkung zugeschrieben, z. B. werden sie als Geschenk für den Einzug in ein Haus über der Eingangstür aufgehängt – mit der Öffnung nach oben, damit das Glück nicht herausfällt. Sie sind Glücksbringer auch zu Sylvester oder ganz allgemein vor Beginn eines neuen Zeitabschnitts. Weshalb dies so ist, dazu gibt es verschiedene Erklärungsansätze: (1) Das Hufeisen wurde zum Glücksbringer, weil es die Form des aufgehenden Mondes hat. (2) Eine weitere Deutung geht auf den heiligen Dunstan zurück, der ein geschickter Hufschmied war. Einst sollte er des Teufels Huf beschlagen, und dabei schlug er so fest zu, dass der Teufel um Gnade winselte. Der Heilige hörte aber mit dem Hämmern erst auf, nachdem der Teufel versprochen hatte, alle jene zu verschonen, die ein Hufeisen mit sich tragen. (3) Ferner ranken sich auch nordische Sagen um Wotan, in denen dem Hufeisen eine wichtige Bedeutung in Bezug auf Pferde zukommt, die für Kraft und Macht stehen. Der Glaube an die Kraft des Hufeisens, Böses abzuweisen und Glück zu bringen, ist nicht nur im deutschen Sprachraum, sondern weltweit verbreitet (http://www.soemer-digital.de/ geomichi/monat1202_2.htm).

Beate wählte auf ihrer Zeichnung die Variante, das Hufeisen mit der Öffnung nach unten darzustellen, dies scheint zunächst dem allgemein, oben genannten Brauch zu widersprechen. Doch muss – laut anderen Überlieferungen -das Hufeisen mit der Öffnung nach unten gehalten werden, damit das Glück auslaufen und somit erst zur Wirkung kommen kann (http://www.soemer-digital.de/geomichi/monat1202_2.htm). 

Wieder auf die formalen Aspekte in Beates Zeichnung zurückkommend, wird diese von einem starken Kontrast dominiert: Dunkelheit bzw. Nacht stehen gegen Helligkeit und Licht. Die Dunkelheit könnte für etwas Verborgenes, auch evtl. Angstauslösendes stehen und zugleich bedeutet Licht in der Dunkelheit Faszination, es kann Hilfsmittel zur Orientierung sein. 

Bei einer so reduzierten Darstellung starker Kontraste und eines symbolträchtigen Gegenstandes ist eine wichtige inhaltliche Ebene zu vermuten. Aus diesem Grunde wurden mit allen an der Untersuchung beteiligten Schülerinnen und Schülern narrative Interviews nach einem Leitfaden geführt. Beate erzählt ihre Geschichte, liest sie nicht vor: „Also, das geht halt um so ein goldenes Hufeisen. Und da war so ein Mädchen, das hatte immer Angst, in den Keller zu gehen, weil es da so dunkel war. Und da sollte das eben eines Tages dann in den Keller, um nach der Wäsche zu gucken, oder so, und das wollte halt als nicht. Da hat die Mutter gesagt, dass es ja kein Baby mehr ist und dass es das machen soll, und da ist es halt in den Keller gegangen. Dann war es da halt ganz dunkel drin, und als sie wieder hochgehen wollte, ist hinter ihr so ein Leuchten gewesen, und da hat sie sich umgedreht, und da lag da vor ihr so ein goldenes Hufeisen. Das hat sie dann aufgehoben. Und da hat sie auf einmal keine Angst mehr gehabt. Und da war auch für sie der Keller immer ganz hell.“ (Interview H&B/01, Z. 121-130) (Abb. 2) (Anm. 2)

Motive aus Märchen und archetypische Elemente werden in ihrer Geschichte zur Zeichnung von Beate mit eigenen Lebensweltaspekten verbunden. Angst wird nicht in Form von Katastrophenszenarien verarbeitet (wie dies viele Mitschülerinnen, aber vor allem Mitschüler von Beate tun), sondern Beate bezieht ihre Geschichte auf autobiografisch selbst Erlebtes. Zudem wird das leuchtende Hufeisen zum goldenen Hufeisen. Beates Geschichte richtet sich auf die Magie von Dingen in alltäglichen Ereignissen. Ich vermute als Interviewer autobiografische Aspekte in ihrer Geschichte und frage nach:

Interviewer: Ah ja. Und wie bist du auf diese Idee gekommen?
Beate: Also ich hatte in der Wand, das sah aus, wie so ein Hufeisen. Das habe ich dann so gelb gemalt und außen ‚rum ganz schwarz gemalt. Und dann ist mir das so gekommen.
I.: Und hast du da irgendwie so Ideen von anderen Geschichten, die du mal so gelesen hast oder was du mal gesehen hast?
B.: Nee, so ausgedacht. 
I.: Und habt ihr einen Keller zu Hause? 
B.: Ja.
I.: Und geht es dir da so ein bisschen ähnlich oder nicht?
B. (lachend, verlegen gesprochen): Nee.
I.: Nee? Früher?
B.: Früher ja, als wir da eingezogen sind, ein bisschen.
I.: Wie alt warst du da? Weißt du es noch?
B.: Zehn oder so.
“ (Interview H&B/01, Z. 131-145)

Beates Geschichte beginnt mit der Schilderung einer alltäglichen Szene: Ein Mädchen hat Angst, in den Keller zu gehen, obwohl ihr die Räume als Teil ihrer Wohnumgebung eigentlich vertraut sind. Die Dunkelheit des Kellers löst in ihr Furcht aus. Nur auf Drängen der Mutter hin begibt sich die Hauptperson der Geschichte schließlich in den Keller. Erst mit der Sequenz „und als sie wieder hochgehen wollte, ist hinter ihr so ein Leuchten gewesen“ nimmt Beates Geschichte eine Wendung, die über das alltäglich Erlebte hinausgeht. Diese Sequenz („ist hinter ihr so ein Leuchten gewesen„) weckt zunächst Assoziationen an biblische oder legendenhafte Erzählungen etwa von Engel-Erscheinungen. Die Geschichte erhält hiermit ein spirituelles, zumindest ein übernatürliches, stark magisches Stilelement. Zwar lässt Beate in ihrer Geschichte keinen Schutzengel auftreten („und da hat sie sich umgedreht, und da lag da vor ihr so ein goldenes Hufeisen.„). Aber das „goldene Hufeisen“ hat eine ähnliche Funktion. Das Hufeisen leuchtet in einer subjektiv als bedrohlich empfundenen Situation den Weg. Erfolgreich hilft das Hufeisen, die Angst „auf einmal“ – also auch magisch in der plötzlichen Wirkung – zu beseitigen („Und da hat sie auf einmal keine Angst mehr gehabt.„). 

Dieses „goldene Hufeisen“ ist von nun an in der Folgezeit immer für sie da: „Und da war auch für sie der Keller immer ganz hell.“ In der Formulierung dieses Satzes klingt an, dass die magische Kraft und das Leuchten nur für das Mädchen in der Erzählung vorhanden sind und wirken. Hier handelt es sich wiederum um eine Eigenschaft, die ebenso für die Vorstellung von Schutzengeln gilt. Letztlich wählt Beate aber nicht eine religiös-spirituelle Variante für die Lichterscheinung. Sie entnimmt Elemente aus Märchen. Denn in Märchen spielen goldene – ansonsten ebenfalls recht alltägliche – Gegenstände, wie Kugeln oder Haare, häufig eine wichtige Rolle, und sie verleihen oder haben magische Kräfte. Zudem steht das Hufeisen in unserer Kultur als Symbol für Glück, wie oben ausgeführt. Die Zwölfjährige zeichnet das Hufeisen – ob bewusst oder unbewusst – mit der Öffnung nach unten, sie nutzt das Glück, das ihr dieser magische Gegenstand beschert. Zudem dürfen der Überlieferung nach Hufeisen nicht mit Absicht gesucht werden, sondern man muss sie zufällig finden, damit sie Glück bringen (http://www.soemer-digital.de/geomichi/monat1202_2.htm). Beates Erzählung nimmt ein glückliches Ende, die Angst ist überwunden worden.

Auf den bildnerischen Impuls bezogen, den Papierausdruck von Beates Aufnahme mit der Digitalkamera, wählte Beate lediglich das Hauptmerkmal ihrer Geschichte, das sowohl in der Überschrift ihrer Erzählung wie auch im Bildtitel genannt ist, als dominantes Bildmotiv „Hufeisen“. Ihre Zeichnung enthält keine Personendarstellungen, keine erzählerischen Elemente. Die Figuren aus der Geschichte treten nicht in der Zeichnung auf. Beate beschränkt sich auf das Wesentliche, denn sie hält den für sie offenbar entscheidenden Moment ihrer Erzählung, die Entdeckung des magischen Gegenstandes, im Bild aus der Ich-Perspektive fest. Die Darstellung wirkt ikonenhaft: Es handelt sich lediglich um das Abbild dieses magischen Gegenstandes.

Einige Wirkungen der beschriebenen und in Fallbeispielen nachgewiesenen Wirkungen sind: die kompensatorische Funktion ästhetischer Praxis, direkte autobiografische Bezüge im bildnerischen Tun sowie Entlastung von Angst bzw. Druck. Es kann vermutet werden, dass Beate nicht zugibt, zum Zeitpunkt der Erzählung immer noch etwas Angst zu haben, alleine in den dunklen Keller zu gehen. Die Zwölfjährige hat ihre Angst, die sie als Zehnjährige hatte, wohl noch nicht vollständig überwunden, sonst würde sie das Thema nicht mehr innerlich beschäftigen. Die Offenheit des Unterrichtsimpulses bietet für sie die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit Fantasien magisch-spirituellen Inhalts. Er hat hierdurch eine ausgleichende Wirkung zur alltäglichen Realität. Er bietet darüber hinaus die Möglichkeit des Eintauchens in eine ‚Fantasie- und Traumwelt‘, in der sich unerfüllbare Wünsche erfüllen. Massenmedial werden solche Fantasien gerade auch für die Zielgruppe der Mädchen und jungen Frauen bedient, etwa in den Manga-Comics und -Cartoons oder in Fernsehserien wie „Charmed“ oder „Buffy – Im Bann der Dämonen“ (beide auf „Pro 7“), in denen junge Frauen „Hexen“ mit magischen Kräften spielen.

Ästhetische Erfahrung im Detail

Schauen wir genauer hin und interpretieren diese Ergebnisse nochmals mit Blick auf das eingangs angesprochene Thema, dann lassen sich ästhetische Erfahrungsprozesse rekonstruieren. An verschiedenen Interviewsequenzen lassen sich Merkmale für ästhetische Erfahrungen am Fall herausarbeiten, die im Laufe des Unterrichts bei den Kindern erfolgten. 

Bei den Kriterien für die Bestimmung ästhetischer Erfahrung halte ich mich vor allem an den US-amerikanischen Pädagogen und Philosophen John Dewey (Dewey 1934/ 1980) und den deutschen Erziehungswissenschaftler Ludwig Duncker (Duncker 1999), aber auch an die sehr aufschlussreichen Darlegungen „des Ausdrucks ‚ästhetisch'“ (Welsch 1997, S. 69) des Philosophen Wolfgang Welsch. Die Kriterien bzw. Strukturmomente von ästhetischer Erfahrung, wie sie dieser Untersuchung zugrunde liegen, lauten in gebotener Kürze: 

(1) Überraschung 
Zwar beginnen Erfahrungen mit unmittelbaren Sinneseindrücken, doch kann nicht schon jede sinnliche Wahrnehmung als eine Erfahrung gelten. Ästhetische Erfahrungen macht man da, wo etwas Widerständiges und Unerwartetes eintritt, dessen man sich mit Hilfe der Sinne gewahr wird (Sievert-Staudte 1998, S. 25). Dieses Gewahrwerden kann auch mit einem Staunen vor dem wahrgenommenen Phänomen verbunden sein. Ästhetische Erfahrungen geben somit im ästhetischen Reiz in Verbindung mit der Aufnahme überraschender Eindrücke Anlass zu Korrekturen bisheriger Annahmen von Wirklichkeit (Duncker 1999, S. 11). Im hier dargestellten Unterricht erfolgt die „neue“ Wahrnehmung der näheren, scheinbar völlig bekannten Umgebung, des Schulhofes. Beate wurde von mir gemeinsam mit ihrer Mitschülerin Heike interviewt, ein Ausschnitt:
Interviewer: Hast du schon einmal eine Digitalkamera in der Hand gehabt? 
Beate: Nee, hatte ich noch nie. 
Heike: Ich auch noch nicht. 
Interviewer: Und was ist dir da aufgefallen oder so? 
Beate: Also, es hat halt total Spaß gemacht. Es war mal etwas anderes, es war nicht so, also nicht so normale Bilder, sondern so Fantasiebilder. 
Heike: Und die waren vergrößert. Die waren viel größer als -. Wenn man hier einen Fleck sieht, dann sieht man den nicht so genau, aber bei einer Digitalkamera kann man die ganz groß – oder wenn man ganz nah heran gehen will, kann man das halt so einstellen. (…) 
Heike: Ich habe mehr Teerflecken oder so Zeichnungen auf Steinen gefunden. Meistens waren das auch Tiere, eher. Weil die Tiere sieht man eher in den Bildern, weil die eher eine Form annehmen können. Ein Tier kann ja ganz verschieden aussehen, kann wie ein Drache irgendwelche Flügel haben, und ein Mensch muss halt immer Arme und Beine haben. (…) Wir waren, glaube ich am längsten -; ich war mit der Erika und der Natalie noch draußen. Wir konnten gar nicht aufhören
.“ (Interview H&B/01, Z. 56-100) 
Ein Strukturmoment ästhetischer Erfahrung, nämlich die „Überraschung“ lässt sich hier nachweisen: Neues wird – ästhetisch sensibilisiert – im Vertrauten entdeckt. Die spontane und überraschende Assoziation leitet das weitere ästhetische Verhalten von Beate und Heike.

(2) Genuss 
Weiteres Strukturelement ästhetischer Erfahrung ist der mit dem Staunen verbundene Genuss, das „hedonistische Bedeutungselement“ (Welsch 1997, S. 70) des Ästhetischen. In diesem Sinne umfasst ästhetische Erfahrung einen komplexen Spannungsbogen, der von der Überraschung über die genussvolle Identifikation, die Einsicht einer spielerischen Distanz zur Wirklichkeit bis hin zur Erkenntnis des Neuen reicht. Ästhetische Erfahrung lässt neu erleben und bereitet mit dieser entdeckenden Funktion „den Genuss erfüllter Gegenwart“ (Duncker 1999, S. 15; vgl. Sturm 1999, S. 269ff.). Diesen Aspekt machen Heike und Beate im obigen Zitat besonders deutlich. Auf die Frage nach der Besonderheit der Digitalkamera sagt Beate: „Also, es hat halt total Spaß gemacht. Es war mal etwas anderes, es war nicht so, also nicht so normale Bilder, sondern so Fantasiebilder.“ (Interview H&B, Z. 56-62) Heike machte „ganz viele“ (Interview H&B, Z. 99) Fotos mit der Digitalkamera. „Wir waren, glaube ich, am längsten -; ich war mit der Erika und der Natalie noch draußen. Wir konnten gar nicht aufhören.“ (Interview H&B, Z. 99-100) Im letzten Satz zeigt sich, welch starken intrinsisch motivierten genussvollen Sog die Tätigkeit mit der Digitalkamera auf die Mädchen ausübte. Als Begründung nennt Heike, dass sie mittels der Kamera in Kombination mit der Unterrichtsanregung nach Formen in Flecken zu suchen, überall „Fantasiebilder“ (Interview H&B, Z. 62) und Fantasietiere entdeckten. Das im ersten Punkt benannte Staunen und die Überraschung, wurden im ästhetischen Sinne als genussvoll erlebt. Die Mädchen gingen intrinsisch in dieser neuen Wahrnehmungsweise und ihrer Tätigkeit auf. Aber es verblieb nicht hierbei, sondern das abschließende Unterrichtsgespräch wie auch das Interview boten die Möglichkeit zu einer gewissen reflexiven Distanzierung, die von den Kindern auch genutzt wurde. Denn „erst in diesem reflexiven Prozess kann aus sinnlicher Empfindung ästhetische Erfahrung werden“ (Staudte 1993, S. 299).

(3) Ausdruck im kulturellen Kontext 
Einen offenen Abschluss von Erfahrungsprozessen bilden Resultate von verarbeiteten ästhetischen Erfahrungen in manifesten Äußerungen, etwa in ästhetischen Objekten bzw. Kunstwerken. Ästhetische Erfahrungen lassen sich eben nicht authentisch in Erklärungen und minutiösen Interpretationen vermitteln, sondern vornehmlich durch ästhetische Ausdrucksformen; bei Beate mit einer Zeichnung und einer Geschichte. In den vielfältigsten Ausdrucks- und Gestaltungsformen kann sich ästhetische Erfahrung weiter klären und mitteilen. Adelheid Sievert schrieb: „Zugleich verändert und konkretisiert ästhetische Praxis ihrerseits die Wahrnehmung und bindet die flüchtigen Bilder der Vorstellung in eine neu geschaffene Realität.“ (Staudte 1993, S. 300) Diese Ausdrucksformen sind freilich kulturell geprägt und in sozialen Kontexten eingebettet. Die Verwobenheit von Kulturaneignung und Kulturproduktion kann kennzeichnend für ästhetische Erfahrungen sein (Duncker 1999, S. 16f.; vgl. Sturm 1999, S. 269ff.). Dieser Aspekt zeigt sich in der Vielschichtigkeit von Beates Arbeit, indem sie etwa Elemente aus Märchen, Volksglauben und Religion mit Medieneindrücken und autobiografischen Lebensweltaspekten verbindet.

Abb. 3: Leonardo da Vinci (1452 – 1519): Sonderbare Physiognomien, ohne Jahresangabe, Royal Collection, Windsor und Accademia von Venedig

(4) Bezüge zur Kunst 
Verbindungen zu künstlerischen Wahrnehmungs- und Produktionsweisen können – aber müssen nicht – Teil ästhetischer Erfahrung sein (Welsch 1997, S. 79). Im „Fall Beate“ ist ein solcher Bezug allerdings vorhanden. Während der Nutzung der Digitalkamera erfuhren die Heranwachsenden eine neue, experimentelle Sichtweise auf die ihnen wohl vertraute Umwelt – hier auf den Schulhof, wie oben im ersten Punkt dargelegt. Es erfolgte eine ästhetische Sensibilisierung, die von Aspekten einer unkonventionellen, tendenziell künstlerisch orientierten Wahrnehmungsweise geprägt ist. Eine Parallele zu einem bekannten Zitat Leonardo da Vincis (1452-1519) mag dies verdeutlichen: „Wenn du in allerlei Gemäuer hineinschaust, das mit vielfachen Flecken beschmutzt ist, oder in Gestein von verschiedener Mischung – hast du da irgendwelche Szenerien zu erfinden, so wirst du dort Ähnlichkeiten mit diversen Landschaften finden, die mit Bergen geschmückt sind, Flüsse, Felsen, Bäume – Ebenen, große Täler und Hügel in wechselvoller Art; auch wirst du dort allerlei Schlachten sehen und lebhafte Gebärden von Figuren, sonderbare Physiognomien und Trachten und unvermeidliche Dinge, die du auf eine willkommene und gute Form zurückbringen kannst.“ (Leonardo da Vinci in Holeczek/ Mendgen 1992, S. 16) (Abb. 3) Diese assoziative Wahrnehmungsweise verbindet offenbar künstlerische und kindliche Rezeptionsmodi. Neben den Surrealisten wie Max Ernst pflegen auch zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler, wie Antony Cragg, Hans-Peter Feldmann, Mike Kelley, Ulrich Meister oder Naomi Tereza Salmon (Kämpf-Jansen 2001, S. 77, 79, 88, 92, 98), vielfach den assoziativen Blick auf’s Detail.

Fachdidaktisches Zwischenresumé

Die ästhetischen Fächer bieten die Möglichkeit einer „anderen“ Sicht auf die Welt, aber auch eines „anderen“ Umgangs mit Materialien und Geräten. „Anders“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass nicht eine zweck- und zielorientierte Nutzung vorherrscht, wie etwa in dem Schulfach Informatik, in welchem meist lehrgangsartig ganz bestimmte Kompetenzen für den Umgang mit den digitalen Medien antrainiert werden. Sondern ein offenerer, assoziativer, nicht „verzweckter“ Umgang mit dem Digitalen kann ganz neue Einsichten eröffnen und ästhetisch bedeutsame Kompetenzen fördern. Doch „solches Sehen, das die subjektiven Gefühlsmomente der Empfindung mit forschendem Betrachten vor dem Hintergrund von Erinnerungen und Kenntnissen zu einer bewussten Erfahrung verbindet, will gelernt werden.“ (Staudte 1993, S. 299)

Auf diese Weise erfolgte im evaluierten Kunstunterricht beispielsweise das Kennenlernen eines wichtigen Merkmals der Digitalkamera (im Vergleich zu normalen analogen, den Kindern aus ihrem Alltag bekannten Kleinbildkameras): die extremen Nahaufnahmen bzw. Makroaufnahmen. Sie lernen, dieses Merkmal unkonventionell einzusetzen und umzusetzen. Insbesondere viele der Mädchen der beiden untersuchten Klassen waren von der Digitalkamera und ihren Möglichkeiten begeistert. – „Beate: Also, es hat halt total Spaß gemacht. Es war mal etwas anderes, es war nicht so, also nicht so normale Bilder, sondern so Fantasiebilder.“ (Interview H&B, Z. 60-61)

Resümiert werden kann, dass sich mittels qualitativer Empirie nachweisen lässt, dass innerhalb des untersuchten Unterrichts bei den Heranwachsenden ästhetische Erfahrungen ausgelöst wurden. Die hier ermittelten Merkmale des Erfahrungsprozesses decken sich zugleich in ihren zentralen Anteilen mit dem, wie Adelheid Sievert ästhetische Erfahrung charakterisiert: „Ästhetische Erfahrung und sinnliche Erfahrung sind jedoch nicht einfach das Gleiche: Erst wenn wir uns einer sinnlichen Wahrnehmung ‚bewusst‘ werden, wenn wir ihrer ‚gewahr‘ werden und uns bemühen, die Vielfalt der sinnlichen Empfindungen in einem Gesamtbild zu integrieren und zu interpretieren, Eindrücke zu einem Eindruck zusammenfassen, verhalten wir uns nicht nur sinnlich, sondern auch ästhetisch.“ (Sievert-Staudte 1998, S. 25) Damit zudem aus einer sinnlichen Empfindung eine ästhetische Erfahrung werden kann, „ist auch die ästhetische Dimension der Wahrnehmung nie auf Dauer abtrennbar von der inhaltlichen Bedeutung des Wahrgenommenen – schon gar nicht für Kinder.“ (Staudte 1993, S. 299) In den Worten Beates: „Und da hat sie auf einmal keine Angst mehr gehabt.“ (Interview H&B, Z. 128-129)

Literatur

Brenne, Andreas: Ressource Kunst: „Künstlerische Feldforschung“ in der Primarstufe – Qualitative Erforschung eines kunstpädagogischen Modells. Dissertation. Frankfurt a.M. 2003

Dewey, John: Kunst als Erfahrung, 1934. Frankfurt a. M. 1980

Duncker, Ludwig: Begriff und Struktur ästhetischer Erfahrung. In: Neuß, Norbert (Hg.): Ästhetik der Kinder. Frankfurt a. M. (GEP Verlag) 1999, S. 9-19

Grünewald, Dietrich/ Legler, Wolfgang/ Pazzini, Karl-Josef (Hg.): Ästhetische Erfahrung. Seelze 1997

Holeczek, Bernhard/ von Mendgen, Linda (Hg.): Zufall als Prinzip. Spielwelt, Methode und System in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Heidelberg 1992

http://www.soemer-digital.de/geomichi/monat1202_2.htm: Hufeisen, Bedeutung und Brauchtum; Datum des Zugriffs: 20.04.2003

Kämpf-Jansen, Helga: Ästhetische Forschung. Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft. Köln 2001

Kirchner, Constanze: Kinder und Kunst der Gegenwart. Zur Erfahrung mit zeitgenössischer Kunst in der Grundschule. Seelze 1999

Kirchner, Constanze/ Otto, Gunter: Praxis und Konzept des Kunstunterrichts. In: Kunst+Unterricht, Heft 223/ 224, 1998, S. 1, 4-11

Legler, Wolfgang: Wegweisend. In: BDK-Mitteilungen 4/2001, S. 44-45

Lippitz, Wilfried: Phänomenologie als Methode? In: Lippitz, Wilfried/ Meyer-Drawe, Käte (Hg.): Kind und Welt. Phänomenologische Studien zur Pädagogik. Frankfurt a. M. 2 1987, S. 101-130

Mollenhauer, Klaus: Grundfragen ästhetischer Bildung. Theoretische und empirische Befunde zur ästhetischen Erfahrung von Kindern. Weinheim 1996

Neuß, Norbert (Hg.): Ästhetik der Kinder. Frankfurt a. M. 1999

Peez, Georg: Qualitative empirische Forschung in der Kunstpädagogik. Methodologische Analysen und praxisbezogene Konzepte zu Fallstudien über ästhetische Prozesse, biografische Aspekte und soziale Interaktion in unterschiedlichen Bereichen der Kunstpädagogik, Norderstedt 2 2002

Peters, Maria: Blick – Wort – Berührung. München 1996

Rumpf, Horst: Die Fruchtbarkeit der phänomenologischen Aufmerksamkeit für Erziehungsforschung und Erziehungspraxis. In: Herzog, Max/ Graumann, Carl F. (Hg.): Sinn und Erfahrung. Phänomenologische Methoden in den Humanwissenschaften. Heidelberg 1991, S. 313-335

Selle, Gert: Gebrauch der Sinne. Eine kunstpädagogische Praxis. Reinbek (Rowohlt) 1988

Siwik, Hans/ Siwik, Marina: Hätte Leonardo da Vinci eine Digitalkamera gehabt … Kommunikative Digitalfotografie der Guck-Mal-Akademie. In: Kunst+Unterricht, H. 262, 2002, S. 29-30

Sievert-Staudte, Adelheid: Ästhetisches Lernen. In: Haarmann, Dieter (Hg.): Wörterbuch Neue Schule. Die wichtigsten Begriffe der Reformdiskussion. Weinheim/Basel 1998, S. 22-27

Staudte, Adelheid: Ästhetische Erziehung und Kunst. Lernen zwischen Sinnlichkeit, Kreativität und Vernunft. In: Haarmann, Dieter (Hg.): Handbuch Grundschule. Bd. 2. Weinheim/Basel 1993, S. 292-303

Sturm, Hermann: Die Lust am Falschen und die ästhetische Erfahrung. In: Kirschenmann, Johannes/ Spickernagel, Ellen/ Steinmüller, Gerd (Hg.): Ikonologie und Didaktik. Begegnungen zwischen Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik. Weimar 1999, S. 269-282

Welsch, Wolfgang: Ästhetische Rationalität modern: Familienähnlichkeiten des Ausdrucks ‚ästhetisch‘. In: Grünewald, Dietrich/ Legler, Wolfgang/ Pazzini, Karl-Josef (Hg.): Ästhetische Erfahrung. Perspektiven ästhetischer Rationalität. Seelze 1997, S. 69-80


Bibliografische Angaben zu diesem Text:

Peez, Georg: „Und da hat sie auf einmal keine Angst mehr gehabt.“ Wirkungen ästhetischer Erziehung am „Fallbeispiel Beate“ (12 Jahre). In: Peez, Georg/ Richter, Heidrun (Hg.): Kind – Kunst – Kunstpädagogik. Beiträge zur ästhetischen Erziehung. Festschrift für Adelheid Sievert. Frankfurt a.M. / Erfurt / Norderstedt (Books on Demand) 2004, S. 139-152