„Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.“

Skizzen zum Verständnis von Kreativität und Bildung in interdisziplinären Selbstorganisationsmodellen

Georg Peez

Die Anknüpfungspunkte dieses Beitrags sind erstens die von der Wirtschaft bei der Pädagogik geforderte Schlüsselqualifikation „Kreativität“ (Maucher 1993, Präsident der Néstle AG, Schweiz) und zweitens die neuen Auffassungen von „Kreativität“, die weniger mit klassischen Verständnissen von „Schöpfungskraft“ denn vor allem mit dem Kreativitätsbegriff der 60er und 70er Jahre brechen. Dritter Anknüpfungspunkt ist der Beitrag „Entfaltung von Kreativität im Umgang mit Literatur“ in den HBfV 3 / 1995 von V. Pagin.

Pagin verbindet hierin den Kreativitätsbegriff mit dem Bildungsbegriff, während sie zugleich eine „vorgegebene Trennung“ (Pagin 1995, S. 227) konstatiert: „Kreativität im ursprünglichen Sinne gilt als subjektiv autochthon und wird als Begabung a priori personalisiert – auf einem anerkannten Niveau ist sie angeblich nicht lehrbar.“ (ebd., S. 226) Pagin fährt fort: „… denn der Begriff (Kreativität; G.P.) verdankt seine Vagheit der hierzulande strikt vorgenommenen Trennung von Bildung und Schöpferkraft, die als sui generis gilt.“ (ebd.) Zumindest fahrlässig ist m. E. folgende Aussage der Autorin: „In unserem Kulturverständnis besteht zwischen Lernen (analog dazu Lehre) und künstlerischer Kreativität keine direkte Verbindung, sie sind – wenn überhaupt – zeitversetzt durch individuelle Aufnahme von Ausbildungsimpulsen aufgrund natürlicher Begabung verknüpft“. (ebd.) Ein hauptsächlich aus dem angelsächsischen Raum hergeleitetes Verständnis von Kreativität der 50er bis 70er Jahre legt die Autorin zugrunde. Hierdurch entsteht jedoch ein verkürztes Bild der gegenwärtigen Diskurse. 

Zunächst werde ich am Beispiel J. Beuys‘, F. Schillers und J. W. Goethes mittels Zitaten kurz beleuchten, daß selbstverständlich auch bedeutende deutschsprachige Künstler und Autoren Schöpferkraft und Bildung nicht getrennt sehen. Es muß also keine Divergenz zwischen deutschsprachiger und angelsächsischer Tradition dargestellt und dann auf die letztere zurückgegriffen werden. Wichtiger ist mir ferner, darauf hinzuweisen, daß aktuelle Entwicklungen bei der Entfaltung des für den Bildungsbereich bedeutenden Kreativitätsverständnisses nicht ausgeblendet bzw. ignoriert werden sollten. Gedanken hierzu werde ich – verbunden mit dem Versuch einer konstruktiven Kritik des Kreativitätbegriffs im Erwachsenenbildungsbereich – abschließend kurz skizzieren.

Exemplarische Annäherungen

Bekanntermaßen stellten vor allem in unserem Jahrhundert viele bildenden Künstler Lehren auf und versuchten so, mit pädagogischen Mitteln Anhänger für ihre Ideen und Ansichten auf künstlerischem und kunsttheoretischem Gebiet zu gewinnen (z.B. P. Klee, W. Kandinsky, J. Itten, J. Albers, W. Baumeister).

Eine Verknüpfung von künstlerischen und pädagogischen Tätigkeiten durch Künstlerinnen und Künstler wird heute nicht nur vom Gesetzgeber als selbstverständlich angenommen (Oehrens 1986/87, S. 17; 61ff.); so z.B. in der Künstlersozialversicherung, im Ergänzungsplan zum Bildungsgesamtplan „Musisch-kulturelle Bildung“, im abgeschlossenen Modellversuch des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft „Künstler in der Kulturellen Weiterbildung“; auch die Standesvertretung der bildenden Künstlerinnen und Künstler (Bundesverband Bildender Künstler, BBK) fördert Verbindungen von Kunst, Pädagogik, Kreativität und Bildung (Engelken 1988). Sowohl der „Modellversuch Künstlerweiterbildung“ in Berlin (Hochschule der Künste, Berlin/BBK 1981) als auch die „Konzeption Kunstschule“ wurden unter Federführung des BBK geschaffen. Bereits Ende der siebziger Jahre zeigte eine Untersuchung des Instituts für Projektstudien in Hamburg zur Situation künstlerischer Berufe, daß in einigen, meist großstädtischen Regionen wie Berlin und Bremen die Künstlerinnen und Künstler, die pädagogisch tätig waren, sich mit dieser kunstpädagogischen Tätigkeit „oft stärker identifizierten, als z.B. mit ihrer (…) Arbeit als Maler oder graphischer Künstler“ (Wiesand 1978, S. 168, S. 186f.). Schon auf dem großen Künstlerkongreß 1971 in der Frankfurter Paulskirche stellten sich die Künstlerinnen und Künstler die Aufgabe der „Erweiterung des pädagogischen Auftrags“ und der „Mitwirkung an der Volksbildung“ (Jedermann 1988, S. 17).

Diese Aufgabe ist für das Lebenswerk des in den letzten 20 Jahren einflußreichsten Zeichners, Plastikers und Aktionskünstlers Joseph Beuys zentral und wird in seinen Werken, Reden und Schriften deutlich; etwa wenn er sagt: „Alles menschliche Wissen stammt aus der Kunst. Jede Fähigkeit stammt aus der Kunstfähigkeit des Menschen, das heißt: kreativ tätig zu sein. Woher soll es anders stammen können? Der Wissenschaftsbegriff ist erst eine Abgabelung von dem allgemeinen Kreativen. Aus diesem Grunde muß man auch eine künstlerische Erziehung für den Menschen fordern.“ (Beuys 1975, S. 73)

Die Idee des „erweiterten Kulturbegriffs“, in dem selbstverständlich Pädagogik und Bildung zentral sind, erläutert Beuys an anderer Stelle: „Es muß etwas entstehen, was den ganzen Kulturbegriff erweitert, man möchte sagen, eine Übergangsform schafft, einen Bereich schafft, wo (…) etwas (…) ausgebrütet wird, (…) im Sinne der Erweiterung des Kulturbegriffs, der fähig ist, in alle Felder einzudringen (…) als Gestaltungsbegriff, und sich zweitens auf den Menschen bezieht und nicht auf diesen verkürzten Kulturbegriff (…) des modernen Kulturbetriebs.“ (Beuys 1977, S. 6)

Friedrich Schiller sah im menschlichen Spieltrieb eine Fähigkeit, die jedem Menschen, nicht nur den angeblich Begabten, eigen ist. 1795 schrieb Schiller seine Argumentation in den berühmten Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ nieder. Diese Fähigkeit zum Spiel sei Wesensmerkmal des Menschen und Grundlage von schöpferischem Schaffen und Kulturtätigkeit. Schiller legitimiert die politische Forderung der Freiheit ästhetiktheoretisch sowie bildungstheorerisch. „Der Gegenstand des sinnlichen Triebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Leben in weitester Bedeutung; ein Begriff, der alles materiale Sein und alle unmittelbare Gegenwart in den Sinnen bedeutet. Der Gegenstand des Formtriebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Gestalt (…); ein Begriff, der alle formalen Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen derselben auf die Denkkräfte unter sich faßt. Der Gegenstand des Spieltriebes, in einem allgemeinen Schemata vorgestellt, wird also lebende Gestalt heißen können (…).“ (Schiller 1795, 15. Brief) Ästhetische Erziehung und Bildung sind für Schiller – eingedenk seiner berühmten Worte im 10. Brief, der Mensch sei nur in voller Bedeutung des Wortes ganz Mensch, wo er spiele – kein schmückendes Beiwerk, sondern Grundbedingung für Freiheit und Humanität.

Nicht zuletzt durch diese Briefe zur ästhetischen Erziehung ergab sich eine mehrjährige Zusammenarbeit zwischen Goethe und Schiller. Goethe selbst setzte Zeichen gegenüber den genieorientierten Theorien der Romantik.

Daß die Assoziationen zwischen Natur, Kreativität, Kunst und Bildung differenziert zu handhaben sind, und von Johann Wolfgang von Goethe bereits poetisch gefaßt wurden, ist an Goethes berühmtem Gedicht „Natur und Kunst“ offensichtlich: 

„Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen
Und haben sich, eh man es denkt, gefunden;
Der Widerwille ist auch mir verschwunden,
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.

Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!
Und wenn wir erst in angemeßnen Stunden
Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden,
Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.

So ist’s mit aller Bildung auch beschaffen:
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.

Wer Großes will, muß sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.“ (Goethe 1965/1993, S. 152f.)

Was ist Kreativität im Rahmen von Selbstorganisation?

Mag der Versuch, Parallelen zwischen diesem Gedicht Goethes zu Ansichten aus der heutigen Chaosforschung und interdisziplinären Selbstorganisationsforschung zu ziehen überraschend und nicht unumstritten sein, so soll er im folgenden – in gebotener Kürze sowie waghalsig knapp – umrissen werden, um zu weiteren Reflexionen anzuregen, statt Festschreibungen vorzunehmen.

Eine m.E. zu Goethes Intentionen in Beziehung stehende (keinesfalls gleiche) Orientierung zeigt sich in der Antwort des Physikers Gerd Binnig, 1986 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, auf die Frage „Was ist Kreativität?“: „Kreativität ist eine Eigenschaft der Natur, obwohl sie ursprünglich anders definiert ist. Im Brockhaus steht eine Definition, die sich nur auf den Menschen bezieht. Man kann aber sehen, daß die gesamte Natur sehr kreativ ist. (…) Welche in der Natur herrschenden Mechanismen können solche Dinge hervorbringen? Haben diese Mechanismen etwas gemeinsam mit denjenigen, mit denen wir Menschen versuchen, kreativ zu sein? Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß das sehr eng miteinander verwandt ist.“ (…) „Interessant ist, daß jede Einheit aus Untereinheiten aufgebaut ist, und das geht ins Unendliche so weiter. (…) All diese Einheiten, ob klein oder groß, sind kreativ.“ (Binnig 1990, S. 116f.)

Freilich fußen Goethe und Binnig auf wissenschaftlich und kulturhistorisch differenten Grundlagen. Binnig steht in der Kontinuität westlicher Naturwissenschaft und Physik und deren Methoden. Goethe steht für die Begründung der humanistischen Tradition der Weimarer Klassik. Deutlich wird, daß nicht zu fordern ist, die Geisteswissenschaften sollten endlich neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung tragen. Sondern fast gegenteilig besteht die Tendenz, daß nun – angesichts der elektronischen Möglichkeiten, zeitgeraffte exakte Berechnungen nicht-linearer selbstorganisierter Systeme zu erstellen – das deterministische Weltbild der Naturwissenschaften korrigiert wird (Schmidt-Denter 1992, S. 12).

Aspekte von Selbstorganisation in Pädagogik und Kunst

Das Spannungsverhältnis zwischen Chaos (welches uns ja nur auf den ersten Blick als ungeordnete Regellosigkeit erscheint, sich aber doch auch nach Regeln konstituiert) und Ordnung (d.h. einer uns verständlichen und zugänglichen Geregeltheit) stellt die Verbindung zu Selbstorganisationsmodellen dar. In Bildung, Kunst und Natur wirkt dieses Spannungsverhältnis konstitutiv.

„In jedem Fall“, so der Erziehungswissenschaftler D. Lenzen, „hat mit dem Ansatz der Selbstorganisation unausgesprochen eine theoretische Transformation des Bildungskonzepts stattgefunden.“ (Lenzen 1995, S. 5) Nicht alle Facetten von Selbstorganisation verstehen sich jedoch als Konkurrenz oder Widerspruch zu bisher in der Pädagogik gefundenen Erklärungskonzepten (so etwa dem Bildungsbegriff). Sie lehnen sich teilweise ausdrücklich an vorhandene Konzepte an und versuchen, in Form von Verweisungszusammenhängen in eingegrenzten Bereichen zu vermitteln (Arnold 1995, S. 611f.).

Der Systemtheoretiker N. Luhmann beschäftigt sich seit Jahren mit der Problemstellung, welche Konsequenzen systemtheoretische Erkenntnisse für die Pädagogik nach sich ziehen (Luhmann/Schorr 1992). Laut Systemtheorie entstehen, erhalten und verändern sich u.a. jeder einzelne Mensch sowie soziale Systeme durch Autopoiesis innerhalb systemeigener Grenzen und Wirklichkeiten. Dieses Selbstorganisationsverständnis läßt sich unter zwei Kriterien näher bestimmen:

(a) Selbstorganisationsprozesse sind – so wie die Wirklichkeit – zwar vielfältig, aber nicht beliebig. Kriterien für ihr Gelingen lassen sich allerdings nur direkt aus den Selbstorganisationsprozessen gewinnen, nicht von außen. Eine Parallele findet sich in der Kunst: Seit dem Ende der in Kriterien noch weitgehend verbindlichen Moderne bildet das Werk jeder einzelen Künstlerin bzw. jedes einzelnen Künstlers in sich weitgehend einen eigenen ‚Kosmos‘ (vgl. die von Arnold 1995, S. 609 zitierte ‚Universum-Metapher‘). Ein tieferes Verständnis erschließt sich primär über werkeigene Kriterien. Der Philosoph Wolfgang Welsch sieht auf dieser Ebene Orientierungshilfen aus dem Bereich der Kunst auf andere Wissenschaftsgebiete als übertragbar an. Der Totalitätsanspruch über den innovativen Stil der einstigen Avantgarden ist – wie oben erwähnt – nicht (mehr) einlösbar. Eine radikale Öffnung ist die Folge. „In der Kunst gilt vielmehr die Koexistenz des Heterogenen, des radikal Verschiedenen. (…) Zumal die moderne Kunst ist (…) geradezu eine Werkstatt und Schule vollendeter Pluralität, das Nebeneinander hochgradig differenter Gestaltungen geworden. Sie hat unterschiedliche Ansätze und Möglichkeiten in ihrer jeweils eigenen Logik entfaltet.“ (Welsch 1989, S. 144) Er spricht davon, daß eine solchermaßen „freigesetzte Wahrnehmung“ nicht mehr dem Gesetz bestimmender, sondern „der Struktur reflektierender Urteilskraft folgt“ (Welsch 1991, S. 3).

Selbstorganisation hebt so das Streben nach Allgemeingültigkeit auf (Rorty 1988, S. 8), zweifelt es zumindest stark an. Dieser Gedanke führt nicht zu allgemeiner Unverbindlichkeit, sondern fordert uns immer wieder zu situativer Verbindlichkeit und Verantwortlichkeit auf (Foerster 1987, S. 147). Situative Verbindlichkeit erfordert vor allem in pädagogischen Situationen von Empathie geprägte Reflexivität.

Denken wir an die aktuelle Diskussion um Qualitätskriterien und Normen im Erwachsenenbildungsbereich, so geben uns Regeln, Weltanschauungen, Traditionen, Sozialisation, Üblichkeiten, Metatheorien, empirische Daten und sogenannte Lebenserfahrung Orientierung für die Praxis (Treml 1991, S. 351ff.). Alle diese Faktoren sind zwar kontingent, sie machen jedoch – gemäß Welschs „Struktur reflektierender Urteilskraft“ (s.o.) – eine Trennung von „besseren“ und „schlechteren“ Argumenten kontextbezogen möglich.

(b) Selbstorganisationsprozesse sind keine Selbstbespiegelung, sondern „Erschaffung am anderen“ (Lenzen 1992, S. 86). Selbstorganisation findet im Rahmen der Sozialisation da statt, wo jeder einzelne mit Kultur verbunden ist (Lenzen 1992, S. 82). Diese Erkenntnis wird in einer Aussage einer 45-jährigen Teilnehmerin (von Beruf Ergotherapeutin) an Kursen kunstpädagogischer Erwachsenenbildung deutlich. Nach ihrer Motivation zum Malen befragt, schrieb sie:

„Daheim nehme ich mir Zeit für das Bild, und stelle mir viele Fragen, z.B. in Zusammenhang mit dem Motiv. Ich frage mich, warum ich ausgerechnet diesen Gegenstand, Tier oder Landschaft ausgesucht habe. Welche Gefühle kommen mir dabei hoch? Welche Assoziationen kommen mir spontan in den Sinn? Es gibt Bilder, die ich nicht mag, die ich ablehne. Dabei versuche ich herauszukriegen: Was mag ich nicht? z.B. ein Landschaftsbild mit einem See. In dem See möchte ich weder schwimmen noch tauchen. Plötzlich werden mir Ängste bewußt, die ich zu klären versuche. Meistens bespreche ich es mit einer guten Freundin oder Kollegin. Dabei entstehen wunderbare Gespräche, die uns beiden viel Befriedigung oder Klarheit geben, oder aber auch wieder weitere Fragen entstehen. Allgemein setze ich mich viel intensiver mit mir selbst auseinander, aber auch mit Menschen um mich herum. Meine Wahrnehmung ist wacher, intensiver, differenzierter geworden, was sich auch in meinem Beruf spiegelt.“

Leitmotiv von Pädagogik wäre demnach nicht, von Menschen etwas Bestimmtes zu wollen, sondern durch die teilhabende Begleitung Raum für selbstorganisatorische Entwicklungen zuzulassen, zu ermöglichen und zu erweitern.

(c) Wenn komplexe Systeme eine heterogene Vielzahl der untereinander im allgemeinen hierarchisch koordinierten Zusammenhänge aufweisen, besitzen sie die Eigenschaft, daß in ihnen durch Nicht-Determinierbarkeit oder „Unvollkommenheit“ (Mocek 1990, S. 176) in „Potentionalsituationen (…) mitunter spontan Innovationen auftreten“ (Niedersen/Pohlmann 1990, S. 28). Innerhalb des Selbstorganisationsmodells „sind Systeme die Gestaltungspotenzen und Funktionskreise individueller Handlung, (sie sind; G.P.) Ausdruck der kreativen Eingliederung und des Einbringens einmaliger, subjektiver Intentionen. Der Blick auf das Neuartige, Unkonventionelle, Kreative, das zugleich systemrelevant ist, dominiert.“ (Mocek 1990, S. 172) „Unvollkommenheit“ und „Zufall“ sind innerhalb der meisten gegenwärtigen Theoriemodelle die Triebfeder für Differenzierung, für Veränderung und für Kreativität (Mocek 1990, S. 172ff.).

Zur Herkunft und Eingrenzung des Selbstorganisationsverständnisses

In den 60er Jahren wurden im Zuge der Kybernetik- und Synergetikdiskussion Phänomene mit Selbstorganisation zuerst in den Natur- und kurze Zeit später auch in den Sozial- und Geisteswissenschaften bezeichnet. Im Mittelpunkt steht hier die Vorstellung von sich spontan selbst organisierenden komplexen Systemen, einer spontan sich selbst organisierenden Welt. Der traditionelle Gegensatz – und das ist m.E. entscheidend – zwischen Mensch und Natur wird mittels naturwissenschaftlicher Erkenntnismethoden, die diesen Gegensatz einst begründeten, zugunsten der Idee komplexer Strukturen und Systeme aufgegeben. Die Perspektivenvielfalt des Selbstorganisationsphänomens von molekularen Strukturen über das psychische System Mensch bis zur Entstehung des Universums rechtfertigt auch die eher vorsichtige Rezeption von Selbstorganisation im Bereich der Erziehungswissenschaft und Kulturellen Bildung.

Abgesehen davon, daß bereits Kant in der „Kritik der Urteilskraft“ eine Erklärung des Lebens auf die Hypothese der Selbstorganisation begrifflich eingrenzte (Krohn/Küppers 1992, S. 50ff.), lassen sich im zeitgenössischen Selbstorganisationsdenken nicht weniger als sechs unabhängige Entwicklungsstränge verfolgen (Niedersen/Pohlmann 1990; Paslack 1992, S. 62ff. informieren im Überblick). Die ‚Autopoiesis‘ der Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela ist die auch in der Pädagogik wohl bekannteste Selbstorganisationskonzeption (vgl. zur Einführung Maturana/Varela 1987, S. 50ff.).

Zwar ordnen sich die Begriffe Selbstorganisation und Autopoiesis ursprünglich dem gleichen Theorieansatz zu, sie sind jedoch nicht völlig synonym zu gebrauchen. Die Charakterisierung ‚Autopoiesis‘ bedeutet wörtlich ‚Selbst-Erzeugung‘ bzw. ‚Selbst-Machen‘. Sie wird gemäß ihrer ursprünglichen Bedeutung als der Schlüssel zum Verständnis biologischer Phänomene betrachtet (Varela 1987, S. 119ff.). Autopoietischen Prozessen ist Autonomie, d.h. wörtlich Selbstgesetzlichkeit, eigen (Varela 1987, S. 119ff.). Autopoietische Prozesse sind organisatorisch geschlossen, selbstorganisatorische müssen dies nicht in jedem Fall sein. Autopoiesis ist als eine von mehreren Grundformen der Selbstorganisationsdynamik zu verstehen. Im Gegensatz zur Autopoiesis, die sich mit Hilfe der Komplementarität von Struktur und Funktion beschreiben läßt, kann Selbstorganisationsdynamik „als gigantische Fluktuation verstanden werden“ (Jantsch 1987, S. 162). Fluktuation bedeutet in diesem Zusammenhang – in Kontrast zu einem Determinismus – die Evolution von Strukturen, die nie streng voraussagbar ist (Jantsch 1987, S. 162ff.).

 

W. Ebeling erläutert den prozeßhaften Verlauf von Selbstorganisation:

„a) Ein relativ stabiler Gleichgewichtszustand des Systems wird unter konstanten oder veränderlichen äußeren Bedingungen durch neue Bewegungsformen auf Stabilität getestet. (…) In gesellschaftlichen Systemen kann es sich um das Auftreten neuer wissenschaftlicher, technischer oder politischer Ideen handeln, welche die etablierten Strukturen infizieren und einer Stabilitätsprobe unterwerfen.

b) Wenn das etablierte System gegenüber der neu auftretenden Bewegungsform stabil ist, so weist es diese zurück und kehrt im wesentlichen zum alten Zustand zurück. Liegt eine Instabilität gegenüber der neuen Bewegungsmode – wie Haken sagt – vor, so kommt es zu einem Verstärkungsprozeß der betreffenden instabilen Bewegungsmode.

c) Die anfänglich nur als Keime vorhandenen Elemente der neuen Mode werden amplifiziert und verdrängen in einem Selektionsprozeß die bisher existierenden (…)Elemente. (Ebeling 1990, S. 59) Hiermit ist ein Selbstorganisationszyklus abgeschlossen.

Die Vokabel ‚Selbstorganisation‘ ist im Sinne pragmatistischer und konstruktivistischer Argumentationsweisen nicht als Spiegel für Wirklichkeit anzuwenden. Selbstorganisation läßt uns nicht verstehen, wie die Welt und wie wir Menschen eigentlich und wirklich sind, sondern der Begriff ist kreativ als Werkzeug zur Selbsterschaffung und Selbsterweiterung zu nutzen (Rorty 1988, S. 61; Treml 1991, S. 353; Mocek 1990, S. 172).

Folgerungen für die Kulturelle Bildung

Es sollte an der Zeit sein, daß sich Kulturelle Bildung mit solchen Darstellungsversuchen von Kreativität auseinandersetzt, sich zumindest an ihr reibt. Kulturelle Bildung sollte sie sich keinesfalls vollständig zueigen machen, was eher der Gefahr von undifferenzierter Reflexionsunfähigkeit Vorschub leisten würde. In der (menschlichen) Unvollkommenheit liegen die größten Chancen für die Pädagogik im allgemeinen und für die Kulturelle Bildung im besonderen. Diese Unvollkommenheit ist der Garant für spielerische Variationen, für Komplexität, für das Träumen, für Differenzierungen und für den Mut zum Anderssein (Mocek 1990, S. 176). Sie ist anzuerkennen und mit ihr sind wir Träger kreativer Potentiale. Bildung vollzieht sich dann, wenn deterministische Abläufe zu Gunsten von offenen Gestaltungsprozessen zurücktreten. „Eine Grundfrage der Pädagogik müßte demzufolge lauten, wie Bedingungen beschaffen sein können, die dazu verhelfen, daß Komplexität sich in Bildungsprozessen organisieren kann und nicht den Zerfall von Zusammenhängen beschleunigt.“ (Schäfer 1993, S. 121)

Hinsichtlich des z. Zt. herrschenden Drucks der Qualitäts- und Normendiskussion in der Erwachsenenbildung, war „Insidern“ immer schon ersichtlich, daß in Pädagogik sowie ästhetischer und kultureller Bildung keine unflexiblen Normierungen zu einer Qualitätssicherung beitragen können. Aber eine solche Einsicht muß auch offensiv begründet und vertreten werden können. Andererseits ist Erwachsenenbildung in gesellschaftliche Normen und Wertesysteme eingebunden, innerhalb denen Beeinflussungen und Legitimationen unvermeidlich sind. Durch die Anerkennung, die beispielsweise G. Binnig zuteil wird, wird jedoch deutlich, daß sich das auf Selbstorganisationstheorien basierende Kreativitätsverständnis etabliert und auch Kulturelle Bildung in Kongruenz zu anderen Bildungs- und Wissenschaftsbereichen überzeugend legitimieren kann.

Literatur

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Beuys, J.: Jeder Mensch ein Künstler. Gespräche auf der documenta 5, 1972. Frankfurt a.M. 1975
Beuys, J.: Abendunterhaltung, No. 1, documente, August 1977. Achberg 1977
Binnig, G./Wendt-Rohrbach, G.: Interview „Warum ist es einfach, kreativ zu sein, Herr Binnig?“ In: Frankfurter Allgemeine Magazin, 41. Woche, 12. Oktober 1990, Heft 554, S. 116 – 117
Ebeling, W.: Instabilität, Mutation, Innovation, Erneuerung als evolutionstheoretischer Sicht. In: Niedersen, U./Pohlmann, L. (Hg.): Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Berlin 1990
Engelken, D.: Konzeption Kunsschule – Zur Unterstützung empfohlen. In: Kulturpolitik, Vierteljahresschrift für Kunst und Kultur, Mitteilungsblatt des Bundesverbands Bildender Künstler, Nr. 2, 1988, S. 2
Foerster, H. v.: Erkenntnistheorien und Selbstorganisation. In: Schmidt, S. J. (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt a.M. 1987
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Hochschule der Künste Berlin / Bundesverband Bildender Künstler (Hg.): Künstler und Kulturarbeit: Modellversuch Künstlerweiterbildung 1976 – 1981, Berlin 1981
Jantsch, E.: Erkenntnistheoretische Aspekte der Selbstorganisation natürlicher Systeme. In: Schmidt, S. J. (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt a.M. 1987
Jedermann, K.: Die Zukunft der Gewerkschaften und die Probleme der Künstlerinnen. In: Beilage: Bildende Künstlerinnen in der IG Medien. In: Kulturpolitik, Vierteljahresschrift für Kunst und Kultur, Mitteilungsblatt des Bundesverbands Bildender Künstler, Nr. 1, 1989, S. 4 – 5
Krohn, W./Küppers, G.: Die natürlichen Ursachen der Zwecke. Kants Ansätze zu einer Theorie der Selbstorganisation. In: Rusch, G./Schmidt, S,J. (Hg.): Konstruktivismus: Geschichte und Anwendung. DELFIN 1992. Frankfurt a.M. 1992
Lenzen, D.: Reflexive Erziehungswissenschaft am Ausgang des postmodernen Jahrzehnts. In: Benner, D. u.a. (Hg.): Erziehungswissenschaft zwischen Modernisierung und Modernitätskrise, 29. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik. Weinheim 1992
Lenzen, D.: Reflexivität und Methexis (unveröffentl. Manuskript) 1995
Luhmann, N./Schorr, K.E. (Hg.): Zwischen Absicht und Person. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt a.M. 1992
Maturana, H. R. / Varela, F. J.: Der Baum der Erkenntnis. Bern/München 1987
Maucher, H.: o. T. (Diskussion). In: Guntern, G. (Hg.): Irriation und Kreativität. Hemmende und fördernde Faktoren im kreativen Prozeß. Zürich 1993
Mocek, R.: Einsicht statt Voraussicht – Aspekte einer Ethik der Selbstorganisation. In: Niedersen, U./Pohlmann, L. (Hg.): Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Berlin 1990
Niedersen, U./Pohlmann, L.: Komplexität, Singularität und Determination. Die Koordination der Heterogenität. In: Niedersen, U./Pohlmann, L. (Hg.): Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften, Berlin 1990
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Paslack, R.: Ursprünge der Selbstorganisation. In: Rusch, G./Schmidt, S,J. (Hg.): Konstruktivismus: Geschichte und Anwendung. DELFIN 1992. Frankfurt a.M. 1992
Rorty, R.: Solidarität oder Objektivität? Stuttgart 1988
Schäfer, G. E.: Zwischen Ordnung und Chaos. Spiel als Bildungsprozeß in der Natur und beim Menschen. In: Freizeitpädagogik, Heft 2, 1993, S. 115 – 122
Schiller, F.: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 1795. Krefeld 1948
Schmidt-Denter, U.: Chaosforschung: Eine neue physikalische Herausforderung an die Psychologie? In: Psychologie in Erziehung und Unterricht, Heft 1, 1992, S. 1 – 16
Treml, A. K.: Über die beiden Grundverständnisse von Erziehung. In: Oelkers, J. / Tenorth, H.-E. (Hg.): Pädagogisches Wissen, 27. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik, Weinheim/Basel 1991
Varela, F. J.: Autonomie und Autopoiese. In: Schmidt, S. J. (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt a.M. 1987
Welsch, W.: Zur Aktualität ästhetischen Denkens. In: Kunstforum International, Bd. 100, April / Mai 1989, S. 134 – 149
Welsch, W.: Über Wahrnehmung – sich inmitten der Pluralität richtig bewegen. In: Kunst + Unterricht, Heft 156, 1991, S. 2 – 3
Wiesand, A. J.: 20 Fragen zum Berufsfeld Bildende Kunst, 1978, In: Wick, R./Wick-Kmoch, A. (Hg.): Kunstsoziologie, Bildende Kunst und Gesellschaft. Köln 1979


Bibliografische Angaben zu diesem Text:

Peez, Georg: „Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben“. Skizzen zum Verständnis von Kreativität und Bildung in interdisziplinären Selbstorganisationsmodellen. In: Hessische Blätter für Volksbildung, Heft 3, 1996, S. 234 – 242