Von der Schmier-Bewegung zu Punkt und Linie

Von der Schmier-Bewegung zu Punkt und Linie

Georg Peez

Ergebnisse aus der Forschung zur Kinderzeichnung zeigen, dass sich die Grundlagen der bildnerischen Gestaltungselemente Punkt und Linie nachweisen lassen, bereits bevor ein Kind einen Stift halten kann. Punkt und Linie sind sensomotorisch – also durch die Kombination von Fühlen und Bewegen – bedingt. Diese Bewegungsmuster sind verbunden mit frühesten ästhetisch motivierten Erfahrungen der Selbstwirksamkeit – nicht nur in der Kunst und im Kunstunterricht – und universell einsetzbar.

Ob an der beschlagenen Fensterscheibe, ob mit Spucke auf der glatten Tischfläche oder mit Brei, Suppe und Marmelade auf dem Teller: Das Schmieren von Kleinkindern ist ein eigentlich immer schon zu beobachtendes Phänomen. Vor der Nutzung eines Zeichenstifts oder Pinsels hinterlassen Säuglinge Spuren mit ihren Fingern und der Hand. Solche Frühformen des ästhetischen Verhaltens lassen sich bereits vor dem ersten Geburtstag eines Kindes feststellen. In seinem Standardwerk zur Entwicklung der Kinderzeichnung resümierte Hans-Günther Richter 1987: „Von den frühesten Ausdruckshandlungen des Kindes, welche in den sichtbaren Objektivationen der sog. Schmierspuren enden, wissen wir kaum etwas. Zwar kann jeder, der Kinder im ersten Lebensjahr beobachten konnte, über (unwillkürliche und zunehmend koordinierte) Bewegungen berichten, die in und mit einem Material wie Brei und anderen pastösen Substanzen vollzogen werden, aber sowohl der Ablauf dieser ‚Schmierhandlungen‘ wie die objektivierten Resultate sind bisher nicht hinreichend dokumentiert.“ Aus dieser Aussage leitete sich der Forschungsbedarf ab, das Schmierverhalten von Kleinkindern im Alter zwischen 8 bis 13 Monaten näher zu untersuchen. Mehrere Fallstudien wurden erhoben (s. Lit. Stritzker/Peez/Kirchner 2008), deren Ergebnisse im Folgenden in Bezug auf „Punkt und Linie“ kurz vorgestellt werden.

Abb. 1 – 3

Schmier-Motorik

Mittels der Sensomotorik von Fingern, Hand und Arm lassen sich die folgenden Bewegungsabläufe beobachten und verallgemeinern.
(1) Die häufig erste Kontaktaufnahme des Kleinkindes mit dem Breifleck oder etwas Fingerfarbe erfolgte durch das Antippen und die Berührung mit der Kuppe des ausgestreckten Zeigefingers (Abb. 1).
(2) Wenn der ausgestreckte Zeigefinger im Brei verbleibt und daraufhin die Hand und der Arm zum Körper hingezogen werden, entsteht eine gerade Bewegungsspur, eine kurze Linie (Abb. 2).
(3) Bleibt der Finger im Brei-Klecks und wird nicht auf den Körper zubewegt, sondern leicht hin und her geschwungen, so verursacht dies eine Art kleinen Bogen. Der Zeigefinger wischt quasi das Breimaterial ein wenig nach links und rechts (Abb. 3).
(4) Mit Daumen und Zeigefinger, die sich aufeinander zubewegen und dann berühren, dem sogenannten Pinzettengriff, wird von den Kindern versucht, Brei-Material aufzunehmen und anschließend zum Mund zu führen, um dies oral zu ertasten und zu schmecken.

Bezüge zum Zeichnen

Diese Bewegungsabläufe sind mit ihrer Sensomotorik Grundlage für das anschließende Kritzeln (ca. ab dem 13. bis 15. Monat) sowie das spätere Zeichnen von größeren Kindern und Erwachsenen.
(1) Das erste Antippen des Materials mit der Kuppe des ausgestreckten Zeigefingers hinterlässt einen Punkt. Diese Bewegung und Spur entspricht dem späteren sogenannten Hiebkritzel oder „geschlagenen Punkt“ in der Kinderzeichnung.
(2) Wird der Zeigefinger dann zum Körper hin gezogen, so ergibt sich, wie oben bereits gezeigt (Abb. 2), eine erste Linie als Bewegungsspur.
(3) Das schwingende Hin-und-her-Bewegen des Fingers und Unterarms entspricht dem späteren Schwingkritzel. Diese Tätigkeit ist insbesondere dann flächenbildend, wenn das Kind nicht nur mit dem Finger, sondern mit mehreren Fingern oder der Handinnenfläche schmiert.
(4) Zwar hält jedes Kleinkind ab etwa dem 13. bis 15. Lebensmonat einen Löffel oder einen Stift zunächst in der Faust, aber aus dem oben beschriebenen Pinzettengriff ergibt sich zweifellos die spätere Handhabung etwa von Stiften und Pinseln zwischen Daumen und Zeigefinger.

Kognition

Grundsätzlich bedeutsam ist bei den Schmiervorgängen, dass diese zumindest im Nachhinein bewusst geschehen, d.h., dass dem Kind nach einer ursprünglichen, quasi intuitiv-reflexartigen Bewegung die Folgen dieser Tätigkeit klar werden. Es sieht das Ergebnis, also die Bewegungsspur, und stellt eine Verbindung zum eigenen Tun her. Wird diese Verbindung erkannt, wiederholt das Kind intentional seine Bewegungen, um zu überprüfen, ob erneut eine Spur bzw. die gleiche Spur entsteht. Das Kind denkt nach und versteht – freilich auf noch sehr elementarem Niveau – dass es Veränderungen hervorrufen kann, die zunächst bleiben und die es betrachten kann. Hier zeigt sich bereits der große und wichtige Unterschied des Bildnerisch-künstlerischen etwa zu auditiven oder rein motorischen Ausdrucksformen, also etwa Schreien, Lallen, Singen, Aufschlagen mit der Hand oder Krabbeln.

Abb. 4 u. 5

Vielfältige Anwendungen

Diese frühen Selbstwirksamkeitserfahrungen speichert unser Körpergedächtnis ab. Sie werden später von Grundschulkindern, Jugendlichen und Erwachsenen genutzt. So sind die Vorgänge des Zeichnens gar nicht ohne die beschriebenen sensomotorischen Grundlagen denkbar. Sitzen Kinder im Sandkasten, so führen sie unmittelbar und unwillkürlich die beschriebenen Bewegungsmuster aus und verursachen auf diese Weise Spuren im Sand. Das gleiche beobachten wir als Erwachsene bei uns selbst, wenn wir etwa an einem Sandstrand sitzen: Wir können gar nicht anders, als mit unseren Fingern Spuren im Sand zu hinterlassen. Diese sind zunächst Punkte und Linien, bevor ganze Flächen mit der Hand entstehen. Betrachten wir Einritzungen an Höhlenwänden oder Graffitis an Häuserfassaden, so finden wir aus der Sensormotorik heraus motivierte ganz ähnliche Spuren. Selbst die Kommunikation mittels Schriftzeichen beruht letztlich auf den beschriebenen Vorgängen (Abb. 4). Und auch die Nutzung von rührungssensitiven Bildschirmen, den Touchscreens, basiert auf den beschriebenen Bewegungsmustern und früheren Selbstwirksamkeitserfahrungen (Abb. 5).

Literatur

Richter, Hans-Günther: Die Kinderzeichnung. Entwicklung – Interpretation – Ästhetik. Düsseldorf (Schwann-Bagel) 1987.
Stritzker, Uschi/Peez, Georg/Kirchner, Constanze: Schmieren und erste Kritzel. Der Beginn der Kinderzeichnung. Norderstedt (BoD) 2008.

Bildunterschriften

Abb. 1 Merle (11 Monate; 3 Wochen) setzt mit der Kuppe des Zeigefingers einen Punkt in einen vor ihr befindlichen Breifleck.
Abb. 2 Merle (11 Monate; 3 Wochen) schmiert daraufhin mit dem Zeigefinger eine Linie.
Abb. 3 Lara (9 Monate; 2 Wochen) führt konzentriert mit dem leicht hin und her schwingenden Zeigefinger eine Wischbewegung aus.
Abb. 4 Pieter Bruegel der Ältere: Christus und die Ehebrecherin, 1565, Öl auf Leinwand, 24,1 cm × 34,4 cm, Courtauld Institute of Art, London
In früheren Zeiten waren Stifte kaum verbreitet oder nicht vorhanden, man schrieb oder zeichnete mittels Linien und Punkten mit dem Finger oder einem Stöckchen direkt etwa in den Sand oder Staub am Boden. Beispielhaft hierfür ist eine Szene aus dem Neuen Testament: „Aber Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde.“ (Evangelium nach Johannes, Kapitel 8,6)
Abb. 5 Auf dem Touchscreen führen wir vergleichbare Bewegungen aus.


Bibliografische Angaben zu diesem Text:

Peez, Georg: Von der Schmier-Bewegung zu Punkt und Linie. Grundschule KUNST, Heft 57 „Punkt und Linie“, 2014, S. 28-29


Georg Peez (http://www.georgpeez.de) Zuletzt geändert am 23.02.2015