Ästhetisches Urteil und Evidenzurteil

Georg Peez

Ein "Klassiker" der Bewertungsmethoden ist das spontan gefällte Urteil, das so genannte Evidenzurteil. Eine Schülerarbeit wird von der Lehrperson betrachtet. Der entstehende Eindruck verdichtet sich in kürzester Zeit zu einer Bewertung, einer endgültigen Note. "Es ist ein gefühlsmäßiges, ganzheitliches Schauen gepaart mit einer Besinnung auf die Lehrerabsichten." (Hiebner 1985, S. 338) Häufig wird das Evidenzurteil in der Weise abgewandelt, dass der Klassensatz zunächst in drei Stapel sortiert wird: gut, mittelmäßig und nicht mehr mittelmäßig (Abb.). Reinhard Pfennig gliederte "drei etwa gleichgroße Wertgruppen (…):

A. Aufgabe verstanden und selbständig ‚original‘ gelöst,

B. Aufgabe verstanden, aber ohne besonderen selbständigen Beitrag gelöst,

C. Aufgabe nicht verstanden, keine brauchbare Lösung gefunden." (Pfennig 5 1974, S. 181) (Den Gründen, warum eine Aufgabe nicht verstanden wurde, geht Pfennig allerdings nicht weiter nach.)

Eine weitere Differenzierung bildet die Methode der so genannten Rangreihe.

Eine Legitimation für diese Methode findet sich hingegen in der Philosophie Kants. Denn ein ästhetisches Urteil ist demnach immer ein Geschmacksurteil. In seiner Schrift "Kritik der Urteilskraft" (1790) versuchte Immanuel Kant die ästhetische Urteilskraft als unabdingbare Voraussetzung eines Verstehens der Kunst nachzuweisen. Kant erörtert das Problem, wie das Besondere, das der Anschauung etwa durch ein Standbild gegeben ist, mit dem Allgemeinen, nämlich den ästhetischen Normen verbunden wird. Mit anderen Worten: wie wir beispielsweise ästhetische Normen auf spezifische ästhetische Phänomene anwenden. Nichts anders tun wir auch "unbewusst" im Evidenzurteil. Im Gegensatz zu erkenntnisbezogenen Urteilen kann ein ästhetisches Urteil aber nicht auf objektive Bestimmungsgründe zurückgeführt werden, so Kant. "Das Geschmacksurteil ist also kein Erkenntnisurteil, mithin nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann." (Kant 1790) Doch zugleich zeigt es über die Subjektivität hinaus: Wir stellen nämlich damit den Anspruch, dass andere Menschen beim Anblick dieses Werkes das empfinden werden, was wir selbst als Grund für unser Urteil erfahren, nämlich eine intersubjektive Lust, eine von bloß individuellen Interessen am Gegenstand losgelöstes zweckfreies Wohlgefallen. Damit wird diesem Urteil – und somit auch dem Evidenzurteil – ein intersubjektiver Anspruch auf Allgemeingültigkeit unterstellt.

Die Nachteile der auf Evidenzurteilen beruhenden Verfahren vor allem in kunstpädagogischen Kontexten liegen auf der Hand: Es ist weniger die Subjektivität der Bewertung als vielmehr vor allem die fehlende Transparenz, die Nicht-Begründbarkeit des Spontan-Urteils sowie dass Kunstunterricht bestimmte kunsterzieherische Absichten verfolgen sollte, die bei diesem Bewertungsverfahren kaum in die Überlegungen einfließen.

Literatur

  • Hiebner, Hans-Günther: Bewertung und Benotung bildnerischer Arbeiten im Kunstunterricht. In: Menzer, Fritz (Hg.): Forum Kunstpädagogik. Festschrift für Herbert Klettke. Baltmannsweiler (Schneider Verlag) 1985, S. 335-352

  • Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. 1790. In : http://gutenberg.aol.de

  • Pfennig, Reinhard: Beurteilung und Bewertung. In: Pfennig, Reinhard: Gegenwart der bildenden Kunst. Erziehung zum bildnerischen Denken, Oldenburg 5 1974, S. 180-182


Bibliografische Angaben zu diesem Text:

Peez, Georg: Ästhetisches Urteil und Evidenzurteil. In: Kunst + Unterricht, Heft 287, 2004, S. 38