„… ein Publikum zu bilden …“

Gespräch der Redaktion der BDK-Mitteilungen (Georg Peez) mit Ulrich Schötker, dem "Leiter der Vermittlung" der documenta 12


Herr Schötker, Sie sind "Leiter der Vermittlung" der diesjährigen documenta. Carmen Mörsch erarbeitet die Begleitforschung hierzu. Wie kam es zu diesem Vermittlungsteam, wie fanden Sie zusammen?

Carmen Mörsch ist ja schon seit vielen Jahren eine wichtige Figur für den Kunstvermittlungs-Diskurs in Deutschland und hat sowohl praktisch als auch theoretisch daran gearbeitet. Sie hat diesbezüglich auch einige Forschungsbeiträge geliefert, war eine oft eingeladene Tagungsbeitragende und hat vor allem seit geraumer Zeit über den deutschen Tellerrand nach England geschaut, wo Gallery Education ein selbstverständlicher Teil vieler Galerien, Museen und Ausstellungshäuser ist. Ich suchte auf andere Weise nach Zusammenhängen zwischen ästhetischer Erziehung und Kunstvermittlung, hatte in Schulen gearbeitet, einen Projektraum in Madrid aufgebaut und mich in den letzten zwei Jahren an der Universität Hamburg mit der Systemtheorie befasst. Wir kannten uns aus früheren Arbeitszusammenhängen und ich glaube sogar, dass wir aus der Ferne beobachteten, was der andere jeweils so treibt.
Carmen Mörsch hatte bereits im Februar 2006 Kontakt zu Ruth Noack und Roger Buergel und gemeinsam mit ihnen Konzeptideen zur Realisierung der Kunstvermittlung auf der documenta 12 entwickelt. Im August suchte man nach einer Person, die die Abteilung vor Ort in Kassel übernimmt. Unmittelbar nach dem für mich überraschenden Anruf musste ich mich sehr schnell entscheiden. Da ich aber selbst seit 2005 die Entwicklungen der documenta 12 mit Spannung beobachtete – immerhin wurde Bildung als ein zentrales Thema sehr früh herausgestellt – fiel die Entscheidung für die documenta 12 nicht besonders schwer.
Nach dem Anruf gab es sehr bald ein längeres Gespräch mit Roger Buergel und Ruth Noack in Hamburg. Wir kamen schnell in die Diskussion und das Spannende war, dass wir uns nicht einmal einig waren. Für mich ein Zeichen, dass sich vieles noch entwickeln ließ und noch nicht abgeschlossen war.

Abb. 2: Ulrich Schötker; Foto: Jan Windszus; © documenta GmbH

Roger M. Buergel, der künstlerische Leiter der documenta 12 gab ja – wie Sie bereits sagten – schon früh das Motto der "documenta 12 als Bildungsinstitution" aus. Welches Bildungsverständnis findet sich in Ihrem Sinne, aus Sicht der Vermittlung, hinter dieser Aussage?

Die zweifache Konnotation "ein Publikum zu bilden" fasziniert mich immer noch sehr. Es handelt sich nicht allein darum Lernprozesse anzustoßen, sondern zuvor darum, ein Publikum zu erreichen, eines herzustellen. Roger Buergel und Ruth Noack haben meines Erachtens diesen Sachverhalt sehr früh als Handlungsanweisung verstanden und daraus den Kontext für die Ausstellung erarbeitet. Als Beispiel kann hier der documenta-12-Beirat gelten. Um eine lokale Bezugsmöglichkeit herzustellen, bildeten sie mit ca. 40 lokalen ExpertInnen diesen Beirat. Die Teilnehmer sind Personen, die Kenntnisse und Erfahrungen aus formaler und informeller Bildung mitbringen: Stadtplanung, Arbeitswelt, Wissenschaft, sozialer Arbeit, politischen Organisationen, religiösen und kulturellen Lebenswelten sowie Kinder- und Jugendarbeit. Über diesen Kreis, der sich seit über einem Jahr einmal im Monat im Kulturzentrum Schlachthof in Kassel trifft, haben sich nicht nur Kontakte zwischen dem documenta-Team und Kasseler Mitbürgern sowie zwischen Künstlern und lokalen Gruppen ergeben. Er sorgte durch die intensive Beschäftigung mit den drei Leitmotiven auch für die Schnittstelle zwischen dem oftmals nicht repräsentierten, lokalen Wissen und der Ausstellung.
In ähnlicher Weise arbeitet auch das Vorhaben "documenta 12 magazines", unter der Leitung von Georg Schöllhammer. Weltweit wurden ca. 90 verschiedene Magazine-Redaktionen eingeladen, die drei Leitmotive auf ihre jeweiligen geopolitischen Kontexte zu beziehen. In so genannten stillen Kolloquien trafen sich ausgewählte Teilnehmer bislang in Hong-Kong, Neu-Delhi, Sao Paolo, Kairo und Johannesburg.
Mit diesen Arbeitszusammenhängen korrespondiert auch die Arbeit der KunstvermittlerInnen, die mit den Besuchern die Ausstellung betrachten und sich darüber austauschen. Für eine Ausstellung, die ihre Form erst finden muss, bedeutet es zunächst, die eigene autorisierte Sprecherposition zur Disposition zu stellen, die eigene Intention zu hinterfragen und die vorhandenen Wissensressourcen der Besucher zu berücksichtigen. Dazu braucht man ein Vermittlungskonzept, welches in besonderer Weise Zeit und Raum neu diskutiert.

Ganz konkret: Welche Anlässe wird die d12 selbst bieten, die Besucherinnen und Besucher den ausgestellten Werken näher zu bringen? Im Vorfeld war von "Palmenhainen", "Kontemplation" sowie "Markierungen zum Pausieren" zu lesen. Was hat es hiermit auf sich?

Von Roger Buergel stammt das Konzept, so genannte Palmenhaine im Ausstellungsraum zu realisieren. Das sind nun keine wirklichen Palmen, sondern inszenierte Räume im Ausstellungsraum. Als Vermittler erwarten wir uns von diesem Konzept Orte, an denen wir uns mit den Besuchern zurückziehen können, an denen gesprochen und diskutiert wird. Mir erscheinen sie wie eine Aktualisierung der Differenz zwischen Konversation und Kontemplation. Zudem mag ich die metaphorische Tragweite des Begriffs Palmenhain. Sie geht zurück auf eine Erfahrung, die Roger Buergel auf einer Reise nach Indien machte. Dort besuchte er Santiniketan, eine westbengalische Universitätsstadt, die von Rabindranath Tagore gegründet wurde. Ich nehme an, es war die Einfachheit der Inszenierung pädagogischer Orte, die ihn faszinierte. Eine Einfachheit im Zugang zu pädagogischen Prozessen, die ich mir als ausgebildeter Kunstpädagoge auch in Deutschland oft gewünscht habe. Vielleicht sind das romantisch-verklärte Fantasien, aber vielleicht sind es gerade diese Fantasien, die einem die paradoxe Arbeit im pädagogischen Feld oder die Vermittlungsarbeit, für die der Schwebezustand auch typisch ist, erleichtern. Vielleicht brauchen wir einfache Lösungen und lyrische Zugänge auch für ein hypermodernes, administratives Bildungssystem, dessen bürokratische Schwere auf viele Teilnehmer sehr belastend wirkt.
Sicherlich ist es ein Anliegen der documenta 12, über Bildungsprozesse und Bildung als solche zu reflektieren. Die "Palmenhaine" bewirken eine Selbstreflexivität der Kunstvermittlung. Sie wird thematisierbar, weil zum einen die Besucher nicht nur die Werke beobachten können, sondern auch Personen, die sich mit Kunst auseinandersetzen. Zum anderen ist damit auch die soziale Komponente der Kunst deutlich herausgestellt. Die KunstvermittlerInnen als auch die Besucher müssen Taktiken im Umgang mit den "Palmenhainen" erfinden, wenn die gewohnte Führung keinen Raum erhält. Das ist so ungewohnt, wie die Vorstellung, dass an Schulen kein 45 Minuten-Unterricht stattfindet, oder es keine Klassenräume gibt; es wird immer Personen verärgern, die auf Gewohnheiten setzen, aber dadurch nehmen Bildungsprozesse ja kein Ende, sondern ihren Anfang.

Wie wirkt sich dieses Bildungs- und Vermittlungsverständnis z.B. auf den Umgang mit bestimmten Zielgruppen aus, wie Schulklassen, Oberstufen-Kurse oder auch bildungsfernere Besucher?

Mir gefällt zwar das Wort Zielgruppe nicht, es hilft aber vielleicht bei der Unterscheidung geläufiger Auffassungen von Bildung zu denen, die einerseits durch Kunst und ästhetische Theorie inspiriert sind und andererseits auf der documenta 12 ihre Anwendung finden. Der Begriff Zielgruppe kommt meines Erachtens aus der Marktforschung. Hier werden relevante Personengruppen mit bestimmten Kriterien identifiziert und angesprochen. Das sind sehr moderne Kommunikationsformen, die Gesellschaft nicht zwangsläufig zu ihrem Vorteil strukturieren. Sie führen immer auch zu Ausschlüssen und stellen damit die Unerreichbarkeit von Gesellschaft heraus. Für das gesellschaftliche Zusammenleben brauchen wir aber die Illusion einer Erreichbarkeit von Verbindlichkeit und diese scheint sich paradoxerweise auf der Basis von Singularitäten und Nicht-Verstehen einstellen zu können.
Mich persönlich interessiert diese Frage, was es bedeutet, wenn man beim Nicht-Wissen den Anfang setzt, Unerreichbarkeit problematisiert und Singularitäten herausstellt. Mich interessiert die Frage, wie sich gesellschaftliche Prozesse und darin eingebettet Erziehungsprozesse herausbilden, die von diesen Punkten ihre Impulse beziehen und sie sogar als Movens begreifen. Es zeigen sich zu aller erst Unsicherheiten, da man annehmen darf, mit völlig falschen Vorstellungen auf Besucher zuzugehen. Die Kunstbetrachtung bietet da Parallelen. Kunst hat sich als Medium in der modernen Gesellschaft herausgebildet, um Wahrnehmungsgewohnheiten in Frage zu stellen, und ihre Funktion ist es dann, immer wieder neu zu verunsichern, gerade das eigene Selbstverständnis, auch das Selbstverständnis einer Kunstausstellung wie die documenta, die sich alle fünf Jahre neu erfindet.
Eine Kunstvermittlung, die diese Besonderheiten von Kunst berücksichtigen will, kann also nicht von einer zuvor gerasterten Zielgruppe ausgehen. Vielmehr muss sie davon ausgehen, dass diese besondere Form der Kommunikation gleichsam jeden Besucher betrifft. Wir geraten aber in zweifacher Hinsicht in einen Widerspruch. Wie lassen sich auf dieser Folie die Heterogenitäten der Besuchergruppen noch berücksichtigen? Und kann ich überhaupt mit Personen arbeiten, die ein völlig anderes Verständnis von Kunst, oder vielleicht gar keines mitbringen – SchülerInnen z.B.? Auf beide Fragen kann man nur mit der Paradoxie antworten, welche sich aus dem Verhältnis von Kunstwerk und ästhetischer Erfahrung ergibt.

Ästhetische Erfahrung ist ja ein Dreh- und Angelpunkt für die Kunstdidaktik. Welche Rolle spielt sie in Bezug auf die sprachliche Dimension der Vermittlung auf einer solchen Groß-Ausstellung?

Die Erfahrung von Kunst ist nicht eine reine Selbsterfahrung, sondern stets eine Erfahrung in die ich bestehende Wissensressourcen einbringe und zur Disposition stelle. Sie wird erst dann gesellschaftlich relevant, wenn ich beginne, sie in Sprache zu übersetzen – dann also, wenn ich sie einem sozialen Zusammenhang zur Verfügung stelle. Sie wird ja nicht durch Konsens maßgeblich, also weil wir alle das gleiche sehen, spüren, erfahren, sondern gerade dadurch, dass sie Unterschiedlichkeiten herausstellt, Differenzen aufzeigt und sogar Konflikte erzeugt. Mit der eigenen Urteilsfähigkeit hört also der Prozess nicht auf, sondern beginnt erst.
Man muss sich klar machen, dass Zumutungen in der gesellschaftlichen Funktion von Kunst angelegt sind – und auch in der gesellschaftlichen Funktion von Erziehung. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Möglichkeit, der Kunstvermittlung selbst etwas zuzumuten. Die ausgewählten KunstvermittlerInnen sind eingeladen, ein eigenes Konzept für eine von ihnen ausgewählte Besuchergruppe zu erarbeiten. Begreift man die documenta 12 als Bildungsinstitution, so fallen gerade all die Gesellschaftsmitglieder ins Auge, die ohne eine Aufforderung die documenta eher nicht besuchen würden. Viele der Vermittlerinnen haben Konzepte erarbeitet, die sich diesen Besuchergruppen widmen. Diese Gruppen sind so heterogen, wie die Werke in der Ausstellung sein werden: Besucher aus Warschau/Krakau aus der Gay-, Lesben-, und Transgender-Szene, Erwerbslose aus Kassel, stillende Mütter und ihre PartnerInnen, Personen vom Wagenplatz und der alternativen Szene in Kassel, Frauen mit Brustkrebserkrankungen, interreligiöse, christlich-muslimische Gruppen, Blinde, Gehörlose, Jugendliche und Senioren mit Migrationserfahrungen, um nur einige Beispiele zu nennen.
Eine Zusammenarbeit mit diesen Gruppen wird nur möglich sein, wenn man sensible Formen des Einladens er-findet, eigene Vorstellungen vor der Kontaktaufnahme kritisch reflektiert und sich auf den Austausch von Wissen und Erfahrungen einzulassen versteht. Es bedeutet vor allem Formen zu finden, welche die Widersprüche produktiv machen lässt. Denn den Widersprüchen – so wie sie sich auch in den Leitmotiven wiederfinden – scheint man nicht entgehen zu können, aber man wird an Formen arbeiten, um mit ihnen umzugehen.

Welche Rolle wird also die Subjektivität der Vermittlerinnen im Vermittlungskonzept spielen?

Die Vermittlungsarbeit basiert immer auf dem Einbringen der eigenen Person und Persönlichkeit, auf dem Erkennen individueller Spielräume, die man aktiv gestalten will. Die eigene Subjektivität kann in Vermittlungsprozessen ein wichtiger Anfangspunkt sein, Kunstbetrachtung zu suggerieren. Damit steht die eigene Übersetzung zur Disposition und ermöglicht anderen, sich ebenfalls, und zwar immer different, dazu einzubringen. Man sollte dabei die eigenen Methoden offenlegen. Kunstinterpretation ist ja kein Geheimnis. Dieses Anliegen hatte übrigens Bazon Brock mit der Besucherschule von d4 bis d6 ja besonders herausgestellt. Geheimnisvoll wird es aber dann, wenn die VermittlerInnen beginnen, mit dem Publikum zu kommunizieren, und wenn das Publikum beginnt, das Gespräch über Kunst zu kultivieren, oder Formen findet, die man weder den Werken, der Ausstellung noch sich selbst zugeschrieben hätte. Da lässt sich auch offen spekulieren.

Auf der letzten documenta wurden Kunstlehrerinnen und -lehrer vom Aufsichtspersonal ermahnt, nicht selber führungsähnliche Funktionen auszuüben, hierfür seien die professionellen Führungskräfte zuständig. Wie kam es damals hierzu? Werden sich solche Situationen auf der d12 wiederholen?

Diese Situationen haben ihre Geschichte. Soweit es mir bekannt ist, gab es erst auf der zehnten und elften documenta diese Beschränkungen. Im Verlauf der 1990er-Jahre wuchs das Interesse an Besucherführungen beträchtlich, und zu beiden Ausstellungen vergab die documenta GmbH den Besucherdienst an Unternehmen. Sie organisierten die Anrufe, Buchungen, Tagesfahrten, ordneten die Vermittlerinnen den Gruppen zu etc. Wenn man so will: es war ein Geschäft. Diesmal will die Kunstvermittlung zwar mehr sein als nur ein Besucherservice. Sie ist stärker integriert in die Ausstellungsarchitektur durch die Palmenhaine sowie die gemeinsame Präsenz der Magazines, des Beirats und der KunstvermittlerInnen, die in der documenta-Halle einen gemeinsamen Ort bespielen werden. Aber leider ist der Kunstvermittlung nach wie vor kein Budget zugedacht und es gibt eine ökonomische Abhängigkeit durch den Vertrieb. Das ist dann nicht positiv zu bewerten, wenn man mit neuen Formen experimentieren will und zugleich vom Verkauf abhängig ist. Nicht umsonst galt es als Errungenschaft des modernen Bildungssystems, die pädagogische Aufgabe vom Gewinnstreben zu befreien.
Sicher ist aber, dass wir uns selbst vor kommerziellen Anbietern schützen müssen, die auf ihrem Gebiet sicher gute Arbeit leisten, aber nicht zwangsläufig eine Bildungsarbeit im Sinne der documenta 12. Trotzdem werden wir für Gruppen, die einer Bildungsinstitution angehören und ihre Gespräche oder Führungen selbst moderieren möchten, die Möglichkeit dazu geben. Wir geben ein Kontingent frei, damit diese Gruppen in den Ausstellungsräumen arbeiten können. Es wird jedoch unterschieden, ob diese Gruppen eine Kontinuität in der Bildungsarbeit mitbringen, oder einfach eine günstige Alternative im Kontext der Eventkultur suchen. Möchte man all den Besucherinnen und Besuchern, die nicht aus dem Kontext einer Bindungsinstitutionen zur documenta finden, eine Begleitung sichern, so muss man ein Vermittlungsteam aufstellen, das geordnete Zugangsrechte aufweist. Grundsätzlich empfehlen wir den Besuchern sich diesmal nicht nur mit den Werken, sondern auch mit den KunstvermittlerInnen auseinanderzusetzen.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Schötker, und viel Erfolg für Ihre Arbeit in Kassel!


Bibliografische Angaben zu diesem Text:
"… ein Publikum zu bilden …". Gespräch der Redaktion der BDK-Mitteilungen (Georg Peez) mit Ulrich Schötker, dem "Leiter der Vermittlung" der documenta 12. In: BDK-Mitteilungen, Heft 2, 2007, S. 2-5

Georg Peez (http://www.georgpeez.de) Zuletzt geändert am 23.07.2007