Kommentare, Klebezettel und ein Orakel

Verknüpfung von Produktions- und Reflexionsphasen

Thomas Michl / Georg Peez

Kennzeichnend für Kunstunterricht ist das Ineinander-Greifen von Produktions- und Reflexionsphasen – sowohl einzelperson- als auch gruppenbezogen. Das Ziel der Stärkung der ästhetischen Urteilskompetenz in den Reflexionsphasen wird anhand von zwei Methoden verfolgt. Vornehmlich sind diese beiden Methoden von der Unterscheidung zwischen gegenstands- und subjektorientiertem Beurteilen geprägt.

Zum Unterrichtskontext

Grundlage des Unterrichts war die Orientierung an den durch eine Befragung ermittelten Interessen und Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler (Todt 1986) einer 7. Klassenstufe. Hieraus folge die innere Differenzierung nach thematisch gegliederten Projektgruppen (Otto 1994) – inhaltlich abgeglichen mit dem Curriculum.

Abb. 1 Schülerinnen und Schüler formulieren Kommentare zu den Zwischenständen der eigenen bildnerischen Arbeiten in einem Projekttagebuch. Abb. 2 Bewertung der Zwischenstände der bildnerischen Arbeiten durch Mitschülerinnen und Mitschüler.

"Intern" und "extern" orientierte Urteilsbildung

Zu Beginn und Ende der ersten beiden Doppelstunden erfolgen ca. 10- bis 15-minütige Phasen des Nachdenkens zum Stand der eigenen bildnerischen Arbeit. In diesen Etappen der Selbstreflexion (Kansy 2010) formulieren die Schüler spontan und in ganzen Sätzen (!) Kommentare in ihr Projekttagebuch (Abb. 1). Der Fokus in der folgenden Stunde liegt bei der beurteilenden Begutachtung von Werken der Mitschüler; wobei das praktische Procedere (zu Beginn und Ende der Stunde) beibehalten wird (Abb. 2). Daraufhin findet die Betrachtung exemplarischer Schülerkommentare mit den dazu gehörenden Schülerarbeiten im Klassengespräch statt. Unter dem sprachlich-formalen Aspekt stellt sich die Frage, inwieweit von jedem folgende für die ästhetische Urteilsbildung grundlegende Differenzierung – zunächst implizit und unbewusst – vorgenommen wurde:

• "extern": Handelt der beurteilende Kommentar des Schülers primär von gegenstandsbezogenen konkreten Bewertungen, in denen Eigenschaften der bildnerischen Arbeit im Mittelpunkt stehen? Zum Beispiel: "Die Idee ist gut, aber es sollten noch andere Bilder oder Figuren aufgeklebt werden." "Nach einigen Pose-Schwierigkeiten von Kathrin, gelang es uns schließlich, die perfekte Position zu finden."

• "intern": Thematisiert der beurteilende Kommentar primär subjektive Empfindungen, in denen "person-interne" Einstellungen und auch Gefühle zur bildnerischen Arbeit geäußert werden? Zum Beispiel: "Das Foto gefällt mir eigentlich ganz gut." Oder "Ich finde, dass das Bild ein bisschen zu leer ist: Aber ich finde es trotzdem beruhigend."

Die "interne" Fokussierung lässt sich identifizieren durch sprachliche Wendungen wie "Ich finde…" oder "Mir gefällt…". Wohingegen die "externe" Sicht konkret Aspekte des ästhetischen Objekts thematisiert. Häufig finden sich freilich beide Aspekte in den Schüleräußerungen kombiniert, wie etwa: "Meine Zeichnung finde ich auch gut, da sie sehr klar verständlich ist und keine überflüssigen Elemente enthält."

Nun schreiben die Schüler Beurteilungen in ihre Projekttagebücher; mit dem Unterschied kürzerer zeitlicher Abstände. Solch relativ kurze Intervalle fallen ihnen allerdings schwer, denn sie wollen sich oft nicht von ihrer bildnerischen Tätigkeit – wenn auch nur für kurz – lösen. Zugleich äußern sie verbal und mitgängig ständig ästhetische Urteile, weshalb hier die als Hausaufgabe zu verschriftlichende Aufnahme mündlicher Beurteilungen mittels der Audioaufnahme des Mobiltelefons hilft.

Das gegenstandsbezogene Beurteilen unterstützt im Gestaltungsprozess, klarer bestimmte Wirkungen des eigenen Werkes absichtlich und kriterienorientiert zu erzielen. Beim empfindungsorientierten Urteil wird den Schülerinnen und Schülern hingegen der wichtige subjektive Anteil eines ästhetischen Urteils deutlich.

Abb. 3 An der Station "Orakel" schlägt eine Zeichnerin u.a. auf Transparentpapier zeichnend Verbesserungsmöglichkeiten vor; sie wird unterstützt von einer Schriftführerin und eine Fotografin. Abb. 4 Post-its mit Vorschlägen für die Weiterarbeit an der Station "Orakel".

Station "Orakel"

In der Abschlussphase der praktischen Arbeit wird ein Gremium gebildet, das die Arbeitsergebnisse der Mitschüler behandelt. Diese sogenannte „Orakel“-Station (Abb. 3) setzt sich  zusammen aus (1) einer Zeichnerin, die auf Transparentpapier direkt über die Zeichnung Verbesserungsmöglichkeiten einarbeitet bzw. aufschreibt, (2) einer Schriftführerin, die alle wichtigen Bestandteile des Beurteilungsgesprächs protokolliert und (3) einer Fotografin, die das zu beurteilende Werk sowie die Beurteilungssituation dokumentiert. Post-its, die auf das Blatt an die beurteilten Stellen geklebt werden und Vorschläge für die Weiterarbeit enthalten (Abb. 4), komplettieren die Kombination aus sprachlich und bildnerisch vermittelten ästhetischen Urteilen.

Das Hauptaugenmerk der Station „Orakel“ (lat. „oraculum“: „Sprechstätte“; Rosenberger 2011, S. 7) liegt auf einem intensiven Gespräch mit Empfehlungen zur Fortsetzung der Arbeit. Eigene bildnerische Entscheidungen werden mittels des „Götterspruchs“ an Ort und Stelle kritisch überprüft oder auch gerechtfertigt.

Zum einen wird durch die Platzierung der Station „Orakel“ im Kunstraum der Leitgedanke der ästhetischen Urteilsbildung als wichtiges Element des Kunstunterrichts deutlich. Zum anderen werden die ästhetischen Urteile durch das „Hineinzeichnen“ auf dem Transparentpapier direkt ersichtlich. Auf der Basis dieser unmittelbaren bildbezogenen Rückmeldungen können die Schüler so die Fortführung der praktischen Arbeit gezielter vornehmen.

Literatur

Kansy, Ivonne: Selbstbewertung im Kunstunterricht. Praktizierte Ansätze und Methoden im Überblick. In: BDK-Mitteilungen 1 / 2010, S. 24–27.
Otto, Gunter: Projekte in der Fächerschule? In: Kunst+Unterricht 181/1994, S. 35–37.
Rosenberger, Veit: Griechische Orakel. Eine Kulturgeschichte. Darmstadt 2001.
Todt, Eberhard: Interesse haben – Interesse wecken. In: Kunst+Unterricht 107/1986, S. 33.


Bibliografische Angaben zu diesem Text:

Michl, Thomas / Peez, Georg: Kommentare, Klebezettel und ein Orakel. Verknüpfung von Produktions- und Reflexionsphasen. In: Kunst+Unterricht, Heft 373, Juni 2013, S. 18-19