Über die Bilder der Dinge

Modelle des Sehens

Katharina Bütikofer / Georg Peez

Ein Bild erweckt unsere Aufmerksamkeit: Es ist einerseits rätselhaft und andererseits assoziativ anregend. Im Ausschnitt und stellenweise koloriert wurde es auf dem Cover von Heft 287 der Zeitschrift Kunst+Unterricht im Jahr 2004 zur Illustration des Themas »Beurteilen und Bewerten« verwendet (Abb. 1), betitelt mit der Bildunterschrift: "Anonymer Stich, wahrscheinlich 17. oder 18. Jahrhundert, Quelle unbekannt" (K+U 287/2004, S. 3).


Abb. 1 bis 3

Bild-Beschreibung

Ein nahezu quadratisches Bildformat dieses schwarz-weißen Stichs öffnet den Blick auf die Darstellung einer leicht hügeligen, hellen Landschaft (Abb. 2). Dort befinden sich vier männliche Personen – zwei sitzend, zwei stehend -, die alle nach oben schauen. Die beiden Personen auf der rechten Seite sind eher dunkel dargestellt und richten ihre Körper nach links, während die beiden Figuren auf der linken Seite nach rechts gerichtet sind und direkt von hellem Licht beschienen werden. Ihre Köpfe im Profil, erstaunt oder beunruhigt auf etwas hinweisend, gestikulieren alle vier mit ihren Armen und Händen in den Himmel blickend. Sie betrachten einen über ihren Köpfen schwebenden, im Profil dargestellten Drachen; mit langem, nach links schmaler werdendem geschwungenem Schwanz, einem ovalen, leicht geschupptem Körper, zwei kurzen aufgesetzten fledermausähnlichen Flügeln sowie zwei angewinkelten Beinen mit Füßen und Krallen. Das kleine, nach rechts gerichtete Haupt des Drachens trägt zwei spitze Ohren. Sein schnabelähnliches Maul ist leicht geöffnet: Eine lange, schmale Zunge zeigt heraus.
Rechts eingefasst wird die Szene durch eine Baumgruppe mit zwei Stämmen, deren belaubte Krone rechts sowie oben vom Bildrand angeschnitten wird und den Boden unter dem Baum sowie die unter dem Baum sitzend platzierte Figur beschattet. Über dem Drachen schwebt ein leicht geschwungenes Schriftband mit einem zweizeiligen Text.
Insbesondere die männliche Figur links trägt höfisch anmutende Garderobe im Stile des Barock. Die drei anderen Personen sind schlichter gekleidet. Der weiter hinten stehende Mann stützt sich beim Gehen auf einen Stock.
So ungewöhnlich diese Szene an sich schon ist, so auffällig ist, dass vom Augenpunkt der Personen aus strahlenförmig viele gerade Linien zum Drachen führen – oder umgekehrt. Diese "Sichtlinien" der Vier überlappen sich unterhalb des Drachens. Somit scheint die Darstellung ein visuelles Phänomen bzw. das Sehen an sich zu thematisieren. Der Eindruck einer historischen wissenschaften Illustration wird dadurch verstärkt, dass für diesen Vorgang bedeutende Stellen im Bild mit Großbuchstaben von A bis F markiert sind.

Verwendungskontexte

Im einführenden Text zum Heft 287 der Zeitschrift Kunst+Unterricht hieß es: "Das Titelbild macht deutlich: Beurteilungen und Bewertungskriterien unterliegen verschiedenen Voraussetzungen, u.a. denen der Wahrnehmung. Von unterschiedlichen Standpunkten aus bietet derselbe Gegenstand völlig verschiedene Ansichten." (Peez 2004, S. 3) Das Bild dient also der "Visualisierung des konstruktivistischen Denkansatzes", "wonach es keine vom Beobachter unabhängige Wirklichkeit" (Klant 2008, S. 19) gebe – so der Kunstdidaktiker Michael Klant, sich auf dieses Titelbild beziehend. "Beurteilen zu können erfordert ein Bewusstsein über den eigenen Blickwinkel und Standpunkt, aber auch die Fähigkeit, die Vorstellungen und Kriterien der anderen annähernd zu verstehen." (Peez 2004, S. 3) Diese Abbildung wird hier demnach genutzt, um die Perspektivität der Wahrnehmung zu verdeutlichen. Denn Aspekte von Welt sind uns jeweils nur unter unserem eigenen, gegenwärtigen Blickwinkel zugänglich. Der Betrachter des Bildes wiederum kann – systemtheoretisch und konstruktivistisch gedacht – die Beobachtung der Beobachter beobachten und somit ist er durch das Bild in der Lage, eine Beobachtung zweiter Ordnung auszuführen.
Eine kurze Internetrecherche offenbart weitere Nutzungskontexte: vom Bewusstwerden der Abhängigkeit von äußeren Autoritäten im Rahmen einer Burnout-Prophylaxe, über die Illustration von Drachen und Dinosauriern, bis hin zur Erläuterung von Aspekten des Hinterfragens der Realität sowie Okultismus und gar Cannabis-Konsum.

Text auf dem Schriftband

Auf dem leicht geschwungenen, über dem Drachen platzierten Schriftband steht aus dem Lateinischen übersetzt geschrieben: "So flattern die Ebenbilder gleichsam wie Häutchen durch die Lüfte, wo es auch immer offensteht, wohin es auch immer erlaubt ist, werden sie verbunden getragen." Auf einer darunter liegenden Abbildung mit einem Baumstamm links und einer schematischen Darstellung eines Querschnitts durch einen Augapfel rechts (Abb. 3) befindet sich ein weiteres Band mit dem Spruch: "Unablässig wird jedes Ding von allen Dingen flüssig weggetragen und auf alle Seiten in alle Richtungen zerstreut. Lukrez". Die Darstellung des Augapfels bestätigt die Vermutung, dass es sich hierbei um Abbildungen darüber handelt, wie Sehen physikalisch vonstatten geht. Der römische Philosoph Lukrez wird als Quelle dieser Vorstellung genannt. Beides gilt für die ähnliche, offensichtlich stilistisch ältere Fassung dieser Thematik (Abb. 4).

Sehen ist Berührung

Lukrez, lateinisch Titus Lucretius Carus, war ein römischer Dichter und Philosoph, der im ersten Jahrhundert v. Chr. lebte. Sein einflussreichstes Werk ist das Lehrgedicht "De rerum natura" ("Über die Natur der Dinge"). Es thematisiert in Versen beispielsweise den Aufbau der Welt aus Atomen, die Bewegung der Atome und lieferte eine geschlossene Theorie der Wahrnehmung (Böhme 1997, S. 27). Abbildung 2 illustriert einen Ausschnitt aus dem sechsten Buch "Naturerscheinungen": So wie kleinste Teilchen, die Atome als Duft von den Dingen in unsere Nase und auf die Schleimhäute gelangen, um dort einen bestimmten Reiz zu evozieren, so verhält es sich nach Lukrez auch mit dem Sehen.
"Es muß notwendig aus allem, was irgend wir sehen,
Ständig ein Strom von Atomen erfließen und weiter sich breiten,
Die in die Augen uns dringen und unseren Sehnerv reizen;
Unaufhörlich entströmen gewissen Stoffen Gerüche, […]
Unaufhörlich durchfliegen verschiedene Töne die Lüfte; […].
So fließt allenthalben aus allerhand Stoffen der Stoffe
Ständiger Strom und verteilt sich sodann nach jeglicher Seite.
Nirgends gibt es da Ruhe noch Rast im beständigen Flusse.
Denn stets wach ist ja unser Gefühl, und wir können beständig
Alles erblicken und riechen und alle Geräusche vernehmen."
(http://www.textlog.de/lukrez-natur-atomstrom.html, VI, 921–935)
Lukrez erklärt die Wahrnehmung so, dass von der Oberfläche der Dinge ein ununterbrochener Strom feinster Materie abfließe, der die Luft als Transmitter nutze und im Vorgang des Sehens durch das leicht poröse Auge sich in uns übertrage. "Dieser selbstständige Bilderstrom macht das Sehen zur Berührung. […] Die Bilder machen sich selbst, lösen sich von den Dingen […] ab und füllen den Menschen im Wachen wie im Schlaf mit Vorstellungen." (Böhme 1997, S. 27) "Sehen erscheint in diesen ‚Empfangstheorien‘ als ein besonderer Fall des Tastens", so der Erziehungswissenschaftler Christoph Wulf (Wulf 1997, S. 448).
Die Schriften Lukrez‘ wurden erst in der Renaissance wiederentdeckt (Greenblatt 2012), dann vervielfältigt, gedruckt und gelesen. Ihr Einfluss auf die Naturwissenschaften dieser Zeit war groß. So bezieht sich etwa der deutsche Theologe, Philosoph, Erfinder und Optiker Johann Zahn (1641-1707) in seinem Hauptwerk "Oculus artificialis teledioptricus sive telescopium" (erste Auflage 1687; zweite, erweiterte Auflage 1702) auf Lukrez. Auch Isaac Newton (1643-1727) stellte sich das Licht als Teilchen vor. Auf die Darstellung aus der ersten Auflage des Buchs Johann Zahns (Abb. 4) greift die diesem Beitrag zugrunde liegende Abbildung 2 zurück, die für die zweite Auflage 1702 gestochen wurde.

Weiterführende Gedanken

• Durch die Erkundung des zunächst rätselhaft erscheinenden Bildes werden wir uns der Modellhaftigkeit unserer Vorstellung vom Sehen an sich gewahr. Jede Erklärung, wie Sehen erfolgt, sollte uns letztlich als ein Konstrukt bewusst sein. Ob Licht Welleneigenschaften besitzt oder Teilchencharakter hat, darüber wurde lange geforscht und gestritten. Die Quantenphysik spricht inzwischen vom "Welle-Teilchen-Dualismus", der besagt, dass mikroskopische Teilchen in bestimmten Situationen Wellen-Charakter zeigen. Oder anders ausgedrückt: Licht verhält sich je nach Situation wie eine Welle oder ein Teilchenstrahl. Die geläufigsten Erscheinungen mit Licht können mit Wellen erklärt werden. Der Photoelektrische Effekt jedoch – mit Licht bestrahltes Metall sendet Elektronen aus -, legt die Teilchennatur des Lichts nahe (Demtröder 2005, S. 109; Schwabl 2008, S. 59).
• Tief beeindruckt von Lukrez’ Gedankenansätzen war Albert Einstein, der 1905 das Lichtquantenmodell entwickelte, das – im Gegensatz zum im 19. Jahrhundert dominanten und anerkannten Wellenmodell – besagt, dass Licht aus Teilchen (Photonen) besteht. Zu der Lukrez-Übersetzung des Philosophiehistorikers und Religionswissenschaftlers Hermann Diels schrieb Albert Einstein im Geleitwort: "Auf jeden, der nicht ganz im Geiste unserer Zeit aufgeht, sondern seine Mitwelt und speziell der geistigen Einstellung der Zeitgenossen gegenüber sich gelegentlich als Zuschauer fühlt, wird das Werk von Lukrez seinen Zauber ausüben." (Einstein 1924, S. 671) Im Zitat Einsteins scheint letztlich das auf, was wir heute als Grundgedanke eines durchaus auch ästhetisch geprägtem Konstruktivismus identifizieren. Unterschiedliche Modelle über das Sehen wirken nicht nur durch ihre Logik oder Nachvollziehbarkeit, sondern können – auch für einen Physiker – einen "Zauber" entfalten.
• Ob Photon, Teilchen, Häutchen, Wellen, beständiger Strom oder Schüppchen: Unser Verständnis des Sehens fußt weitgehend auf Metaphorik, also auf sprachlichen Bildern. Nach Auffassung des Philosophen Hartmut Böhme wird durch die von Lukrez genutzen metaphorischen Verben die "Sphäre der Berührung und zarten Durchdringung" vielfältig deutlich (Böhme 1997, S. 28).
• Im "Materialismus" Lukrez‘ fällt besonders die Erklärung für die Entstehung der Phanasie und des Träumens auf, dass nämlich diese Häutchen der Dinge im Kopf verbleiben und dort vermischt in den (Alp-) Träumen wirksam sind:
"[…] Über die Bilder der Dinge: so nennen wir diese Gebilde,
Die von der Oberfläche der Körper wie Häutchen sich schälen
Und bald hierhin bald dorthin umher in den Lüften sich treiben.
Dies sind dieselben Gebilde, die nachts im Traum, wie im Wachen
Uns begegnen und schrecken. Da sehen wir öfter Gestalten
Wunderlich anzuschauen und Bilder dem Lichte Entrückter,
Die aus dem festesten Schlummer empor mit Entsetzen uns wecken.
Aber man bilde nicht etwa sich ein, die Seelen der Toten
Könnten dem Orkus entfliehn und als Schattengespenster umflattern
Uns Lebendige […]." (http://www.textlog.de/lukrez-natur-bilderlehre.html, IV, 30–41)
Nicht nur Albert Einstein betonte, dass es ein Hauptziel des Werkes von Lukrez war, die Leser "von der Notwendigkeit des atomistisch-mechanischen Weltbildes zu überzeugen" (Einstein 1924, S. 672) und somit aufklärerisch zu wirken, nämlich die Menschen von den durch Mystik und Aberglauben ausgelösten Ängsten zu befreien (Einstein 1924, S. 671f.; Greenblatt 2012). Die Seelen der Toten können nicht aus der Unterwelt wieder auftauchen, so argumentiert Lukrez; es gibt keine Geister oder Gespenster.
• Mit solchen Grundgedanken und den Modellen der visuellen Wahrnehmung sollten wir uns häufiger beschäftigen, um unser Wissen als "Experten für das Bild" (Freiberg 1995, S. 22; vgl. Kirschenmann 2002, S. 37) u.a. historisch zu erweitern und zu hinterfragen – und nicht zuletzt um die Haltung der Beobachtung zweiter Ordnung einzuüben.

• Programmatisch und handlungsleitend formulierte Johannes Kirschenmann dementsprechend: "Die exzessive Zeichenvermengung, das fortwährende Zitieren und Adaptieren, durch die bildgebenden Verfahren des Computers noch verstärkt, lassen die Bilder von Welt scheinbar recht schnell erkennen. […] Die Erfahrungsbilder der Kunst werden als Erkenntnisbilder einer historischen und vor allem heutigen Erfahrung wichtig. Die Kunstpädagogik spürt dabei die Ähnlichkeiten und Signaturen (Foucault) zwischen den Bildern auf. Die Bilder sollen also nach den Ähnlichkeiten ihrer Zeichen untersucht werden: im Pendeln zwischen Geschichte und Gegenwart, zwischen Kunstbild und massenmedialem Bild. Liegen Ähnlichkeiten im Zeichenvergleich vor, was geht kulturgeschichtlich ineinander über, was ist Zitat, was ist Ideologie? Was wird aus welchen Quellen gespeist?" (Kirschenmann 2002, S. 38)

Dank

Wir danken Gisela Meyer Stüssi lic. phil., Bern, für die Arbeitsübersetzung Latein-Deutsch der Texte auf Abb. 2 u. 3.

Literatur

Böhme, Hartmut: Elemente – Feuer Wasser Erde Luft. In: Wulf, Christoph (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim/Basel 1997, S. 17-45
Demtröder, Wolfgang: Experimentalphysik 3. Atome, Moleküle und Festkörper, 3. Auflage, Berlin/Heidelberg 2005
Einstein, Albert: Geleitwort zur Erstausgabe (1924). In: Lukrez/Diels, Hermann (Übersetzung): Von der Natur. Sammlung Tusculum, Mannhein 1994, S. 671-672
Freiberg, Henning: Thesen zur Bilderziehung. In: BDK-Mitteilungen 2/1995, S. 21-23
Greenblatt, Stephen: Die Wende. Wie die Renaissance begann, München 2012
Kirschenmann, Johannes: Zwischen den Bildern pendeln! In: Kunst+Unterricht, 268/2002, S. 37-38
Klant, Michael: Die Chimäre der Notengebung. In: Peez, Georg (Hg.): Beurteilen und Bewerten im Kunstunterricht. Modelle und Unterrichtsbeispiele zur Leistungsmessung und Selbstbewertung, Seelze 2008, S. 19-20
Kunst+Unterricht: Beurteilen und Bewerten, 287/2004.
Lukrez: De rerum natura. Übersetzung von Hermann Diels 1924. In: http://www.textlog.de/lukrez-natur-dinge.html (11.07.2013)
Peez, Georg: Zu diesem Heft. In: Kunst+Unterricht: Beurteilen und Bewerten, 287/2004, S. 3
Schwabl, Franz: Quantenmechanik für Fortgeschrittene, 5. Auflage, Berlin/Heidelberg 2008
Wulf, Christoph: Auge. In: Wulf, Christoph (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim/Basel 1997, S. 446-463
Zahn, Johannes: In quo Comprimis de materia & forma Artificiali apti Diaphani ad perfectionem Oculi Artificialis Teledioptrici: Deinde de varia lentium diaphanarum tam inter se quam cum Oculo Naturali combinatione: Tandem & de ipsis machinis sive instrumentis Teledioptricis cum Oculo Naturali comparatis Methodice, Genuine, ac Mathematice tractatur. Würzburg (Herbipoli Heyl) 1687. http://katalog.slub-dresden.de (11.07.2013)
Zahn, Johann: Oculus Artificialis Teledioptricus Sive Telescopium, 2. Auflage, Nürnberg 1702. In: http://www.bibliotheque-numerique-cinema.fr/notice/?i=33085 (11.07.2013)

Abbildungen

Abb. 1 Cover von Heft 287/2004 der Zeitschrift Kunst+Unterricht.
Abb. 2 Illustration, die Abb. 1 zugrunde lag, aus dem Buch "Oculus Artificialis Teledioptricus Sive Telescopium" von Johannes Zahn, 1702, S. 210.
Abb. 3 Illustration aus dem Buch "In quo Comprimis de materia" von Johannes Zahn, 1687, S. 203.


Bibliografische Angaben zu diesem Text:

Bütikofer, Katharina / Peez, Georg: "Über die Bilder der Dinge". Modelle des Sehens. In: Lutz-Sterzenbach, Barbara/ Peters, Maria/ Schulz, Frank (Hg.): Bild und Bildung. München (kopaed) 2014, S. 661-670