Georg Peez
Bewerten und Benoten ist selbstverständliche Praxis im Kunstunterricht, die aber immer wieder zu kontroversen Diskussionen Anlass gibt. Welche Verfahren des Bewertens werden gegenwärtig angewandt und haben sich bewährt? Welche Verfahren des Beurteilens vermitteln zwischen dem oft vorhandenen Unbehagen am Bewerten einerseits und seiner Notwendigkeit andererseits?
… in der Schule, in der Kunst, im Alltag
Zunächst ganz grundsätzlich: Beurteilungen und Bewertungen sind für nahezu alle Bereiche unserer Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Dies trifft sowohl auf die Pädagogik – insbesondere innerhalb der Schule – als auch auf die Kunst – hier auf Kunstkritik, Kunstmarkt und Kunstgeschichte zu. Bildnerische Gestaltungen und Kunst – ob angewandt oder frei – sind keinesfalls wertfreie Zonen. Bereits im Alltag fällen Kinder und Jugendliche ständig Urteile, die auf ästhetischen Vorlieben und Bewertungen basieren, sei es die "geile Grafik" eines Computerspiels, die Entscheidung für ein Poster, das man im Klassenraum aufhängen möchte und über das sich die Klasse nicht einig wird, sei es die Wahl für ein bestimmtes T-Shirt beim morgendlichen Anziehen.Zweifellos unterliegen bildnerische Gestaltungen sowohl im privaten wie auch im öffentlichen Raum ästhetischen Urteilen und bewertenden Einschätzungen (Abb. 1). Doch warum tut sich die Kunstpädagogik dennoch häufig schwer mit dieser Thematik? Im Studium wird dieses Thema aus den „"Niederungen der Praxis des Kunstunterrichts" gemieden bzw. ignoriert. Erst im Referendariat beginnt notgedrungen eine intensivere Auseinandersetzung.
Pluralität, Kontext, Transparenz und Motivation
Im Mittelpunkt dieses Themenheftes stehen verschiedene Konzepte der Leistungsbewertung – eine Bezeichnung, die sich in den meisten Lehrplänen des Schulfaches "Kunst" bzw. "Bildende Kunst" oder "Kunsterziehung" findet. Es wird bewusst auf Pluralität gesetzt. Denn eine Leistungsbewertung ist von den Schwerpunkten des jeweiligen Unterrichts abhängig, an dessen Ende die Bewertung erfolgt. Beispielsweise können soziale Aspekte in die Bewertung mit einfließen, wenn im Unterricht die Kooperation, etwa in Gruppenarbeit oder an Stationentischen, eine große Rolle für die Generierung der bildnerischen Unterrichtsergebnisse spielte. Der Thementeil stellt unterschiedliche Praxen der Leistungsbewertung im Kontext dazu gehörender Unterrichtseinheiten vor. Vornehmlich auf Deskription beruhend soll transparent werden, warum dieser Unterricht so und nicht anders durchgeführt wurde und wie und warum eine Bewertung von Schülerarbeiten daraufhin so und nicht anders erfolgte.Die Auswahl der Themenbeiträge für das vorliegende Heft richtete sich vornehmlich nach diesem Gesichtspunkt der Transparenz der Entscheidungsfindung vor allem für die Schülerinnen und Schüler; womit bereits ein wichtiges allgemeines Kriterium zur Güte eines Bewertungsverfahrens für den Kunstunterricht genannt ist. Insbesondere sollen durch die Transparenz der Beurteilungskriterien Antworten auf die Frage erreicht werden, wie und warum ästhetische Normen gesellschaftlich, aber auch intersubjektiv entstehen. Ein weiteres Gütekriterium ist dem pädagogischen Ethos geschuldet: die zur Weiterarbeit motivierende Ermutigung, die von der Beurteilung ausgehen sollte (ausführlich dargelegt in Legler 1989, S. 64ff.).
Beurteilen, Bewerten, Benoten
Im Wort "Beurteilung" klingt die eingehende, gewissenhaft abwägende Begründung für eine Meinungsäußerung durch wie auch tendenziell im Wort "Bewerten". Zentral ist aber der Unterschied zwischen Beurteilung und Bewertung auf der einen und Benotung bzw. Zensurengebung auf der anderen Seite. (censere lat. "zählen, schätzen") Die Ziffernzensur ist die quantifizierende Reduktion einer Leistungsbewertung am Ende eines Beurteilungsprozesses auf eine Zahl (zu den historischen Wurzeln: Graul 1996).Systemtheoretisch gesehen ist Pädagogik einerseits dem Individuum und andererseits der Gesellschaft verpflichtet. Dem Individuum gegenüber zielt Pädagogik auf Vermittlung von Wissen und Kompetenzen, der Gesellschaft gegenüber muss Pädagogik Selektionsfunktionen übernehmen. Der Bereich, in welchem die individuelle Aneignung von Wissen und Kompetenzen an die gesellschaftlich erforderten Selektionsoperationen ankoppelt, ist die Überprüfung der individuell, weitgehend verborgen erfolgten Aneignungsleistung. Für die soziale Gemeinschaft muss das Ergebnis dieser Überprüfung freilich leicht rezipierbar fixiert werden. Dies geschieht durch die Zensur (Kade 2003, S. 95).
Eine vergleichbare Vereinfachung so komplexer Leistungen findet sich zwar in keinem anderen gesellschaftlichen Subsystem (vgl. hierzu den immer noch lesenswerten Text von Gunter Otto 1972). Doch angesichts der Gefahr, dass "Bildende Kunst" nicht mehr als vollwertiges Unterrichtsfach betrachtet werde, sehen viele Kolleginnen und Kollegen die Benotung mit der Ziffernzensur als ein notwendiges Übel des schulischen Kunstunterrichts an. Die Zensur bildet eine Konzession an die Gleichwertigkeit gegenüber anderen Fächern (Krause 1998; Kirchner/ Otto 1998, S. 11). Und doch "schöpfen" Kunstlehrende die Notenskala selten "voll aus". Wichtige, teils konträre Funktionen der Note sind u.a.:
- Rückmeldefunktion für die Schülerinnen und Schüler,
- Rückmeldefunktion für die Eltern (die der Note im Fach Kunst allerdings nur perifäre Bedeutung beimessen),
- Disziplinierungsfunktion,
- Sozialisierungsfunktion (Gewöhnung an standardisierte Leistungsnormen in der Gesellschaft; vgl. die aktuelle Debatte um Bildungsstandards)
- die Funktion innerhalb eines Initiationsrituals (etwa in der Abiturprüfung, s. u.),
- Funktion der Hinführung zur Standardisierung von Unterrichts- und Lerninhalten,
- Anreizfunktion, die pädagogische Maßnahme zur Förderung der Lernentwicklung (zugleich aber auch Demotivation),
- die gesellschaftliche Funktion der Selektion, Klassifikation und Steuerung im Bildungssystem. (Bahr u.a. 1985, S. 18)
Die Schulformen, die stärker dem Fördergedanken als dem Selektionsgedanken verpflichtet sind (Grundschulen, Sonderschulen), haben bereits Erfahrungen mit der verbalen Beurteilung gesammelt ("Worte statt Zensuren"). Lehrende der Sekundarstufen können Einfluss darauf nehmen, dass die Ziffernnote im Unterricht nicht das Wichtigste ist, indem der Note eine eingehende verbale Beurteilung vorausgeht).
Schritt für Schritt
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich stets zu verdeutlichen, dass ein Bewertungsprozess in der Schule zweiphasig (Bahr u.a. 1985, S. 21ff.) verläuft:(1) Der erste Schritt ist die Ermittlung gewisser Beurteilungskriterien. Diese Bewertungskriterien haben mindestens vier Bezugsgrößen.
(1a) "objektive Relation" (Bezug zum Lernziel / Inhalt), vereinheitlichend, normiert leistungsbezogen, wie etwa in der PISA-Studie;
(1b) "intersubjektive Relation" (Bezug zur Lerngruppe), am Unterricht in einer bestimmten Klasse orientiert;
(1c) "subjektive Relation" (Bezug zur Schülerin bzw. Schüler), Ausrichtung nach den Vorkenntnissen und Fähigkeiten der einzelnen, deren individuellen Lernfortschritten;
(1d) ästhetisches Empfinden der Lehrerin oder des Lehrers (Kirschenmann/ Otto 1998, S. 101). Letzteres ist ein sicher kontrovers zu erörterendes Kriterium, weil es für die Subjektivität in der Notengebung steht und einem gerade im Fach "Kunst" sowieso wohl kaum zu erreichenden Objektivierungsanspruch widerspricht.
Wie diese Relationen zueinander zu gewichten sind, liegt im Ermessen der Lehrkraft. In der Schulpraxis wird – wohl meist unbewusst – eine Mischung aus allen vier Arten der Bewertungskriterien angewandt .
(2) Der zweite Schritt ist die Zensierung, d. h., die Zuordnung eines Gesamturteils zu einer Note oder Punktzahl. Letztlich ist der erste Schritt der für die inhaltliche Auseinandersetzung spannendere, weshalb er im Mittelpunkt dieses Themenhefts steht.
Ein wichtiger Gedanke, der von den unterschiedlichsten Autorinnen und Autoren immer wieder genannt wird (u. a. Kirschenmann/ Otto 1998, S. 101; Seydel 2003, S. 35), ist der, dass nicht jede (praktische) Aufgabe im Kunstunterricht sich dafür eignet, benotet zu werden. Dies gilt beispielsweise für Aufgabenstellungen mit einem großen Anteil biografisch-emotionaler Verarbeitung.
Abb. 2 Wilhelm Busch (1832-1908) Aufrisszeichnung zu „Maler Klecksel“ 1884. Das Urteil des Lehrers über die Schülerzeichnung ist im wahrsten Sinne des Wortes vernichtend, aber nur deshalb, weil die Zeichnung offenbar so treffend ist.
„Herr Bötel, der es nicht bestellt,
Auch nicht für sprechend ähnlich hält,
Schleicht sich herzu in Zornerregung;
Und unter heftiger Bewegung
Wird das Gemälde ausgeputzt.
Der Künstler wird als Schwamm benutzt.“
Prüfungen als Initiationsriten
Eine Prüfung kann als Initiationsritus angesehen werden. Nicht nur in traditionellen Gesellschaften finden Initiationen und hiermit zusammenhängende Riten vermehrt in der Zeit der Adoleszenz, in der Zeit des Aufbegehrens statt. (Denken wir an die Konfirmation oder Jugendweihe.) Die Herangewachsenen werden nach bestandener Prüfung und Anerkennung der Normen in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen. Einer solchen Prüfung gehen Belehrungen durch die Älteren voraus. Diese Belehrungen sind mit Druck und Ängsten gepaart (Abb. 2) (Meder 1993, S. 49). Wer sich dem initiierten Ritus der Älteren und ihren Normen nicht unterwerfen will, erfährt Sanktionen oder wird gar aus der Gemeinschaft verstoßen. Trennungsängste fördern die Anpassung.Die Leistungsbewertungen lassen sich als Mittel der Disziplinierung im oben umrissenen Sinne ansehen (Foucault 1977). Die Älteren erwarten, dass die Jüngeren das in ihrem Sinne fortsetzen, was sie einst begannen bzw. selber übertragen bekommen haben. Demgemäß bestimmen die Älteren die Normen, Prüfungsregeln und Bedingungen dieser unterschiedlichen Initiationsriten. Sie fällen die Urteile. Sie versuchen soviel Einfluss wie möglich darauf zu nehmen, wer später in diesen Schlüsselpositionen entscheiden darf (Selektion); beispielsweise das Abitur bestehen kann, um nach erfolgreicher Erster und Zweiter Staatsprüfung selbst Lehrerin bzw. Lehrer zu werden. Prüfungen und Notengebung als Zurichtung erfolgen also stets durch selber einstmals Zugerichtete (Meder 1993; Gudjons 1996).
In dem Maße aber, in dem sich zwanghafte Bindungen an Traditionen lockern, in denen weniger auf Tradition als auf Innovation gebaut wird, in dem Maße verlieren die Initiationsriten ihren bedrohlichen Charakter. Ein spielerisches Variieren ist möglich. Hier liegt neben der Bewusstwerdung und Transparenz eine Chance für Veränderungen.
Zentralabitur
Da das Zentralabitur in allen Bundesländern früher oder später eingeführt werden wird, spielen die Bedingungen und engen Determinierungen eine Rolle, die das Zentralabitur für unser Fach mit sich bringt. Ob mündlich oder schriftlich, fordert die Prüfungsrelevanz ganz grundsätzlich einen nicht unerheblichen Tribut, u. a. das Eingebundensein in ein stringentes Regelwerk, ein Zeitkorsett, bestimmte Arbeitsweisen sowie den Zwang zur Versprachlichung, die hiermit "einhergehende Unterordnung und Reduzierung des Sinnlichen und Kreativen" (Maiwald 1996, S. 116). Ferner kommen ganze Bereiche des Faches bei den zentralen Aufgabenstellungen kaum oder gar nicht vor.Der Kunstunterricht wird aus diesen Gründen der Überprüfbarkeit ein immer stärkeres Gewicht auf die Verfahren der Analyse von Kunstwerken legen müssen, da diese unter den Aufgabenstellungen des Zentralabiturs eine entscheidende Rolle spielen. Für den Diskurs im Fach mag es durchaus förderlich sein, wenn eklektizistische Sprach-, Methoden- und Kriterienregelungen einer zeitweisen Vergleichbarkeit weichen. Berichte und Einschätzungen von Kunstlehrenden, die bereits Erfahrungen mit dem Zentralabitur sammelten, liegen vor (z. B. Schuster 2001).
Allerdings: Angesichts des gegenwärtigen bildungspolitisch inszenierten PISA-Drucks, der Verkürzung der Schulzeit an Gymnasien ist damit zu rechnen, dass es Kunst als Abiturfach in wenigen Jahren nicht mehr geben wird. Das Zentralabitur im Fach Kunst wird wohl schon bald eine Episode der Fachgeschichte geworden sein.
Förderung des ästhetischen Urteilsvermögens mittels Benotung?
"Wer in seinem eigenen Arbeitsprozess qualitative Unterschiede erkannt und bewusst verarbeitet hat, der ist auch in der Lage, auf der Grundlage dieser Erfahrung in einem anderen Werk Qualitäten zu erkennen und zu beurteilen." (Sievert 2000, S. 61) Ästhetische Urteile selbstständig bilden zu lernen, ist ein wichtiges und ganz grundsätzliches Ziel von Kunstunterricht (Otto/ Kirschenmann 1998, S. 103). Die Beurteilung ästhetischer Prozesse und Produkte ist aber zugleich auch Teil der Leistungsbewertung, also der Fremdbeurteilung. In allen Beiträgen dieses Heftes werden Strategien und Methoden vorgestellt, ob und wie selbstständige ästhetische Urteilsbildung unter den Bedingungen der fremdbestimmten Beurteilung erfolgen kann oder gar gefördert werden kann. Ein mehrfach aufgezeigter Weg ist die gemeinsame Suche nach differenzierten ästhetischen Beurteilungskriterien . Dies schließt die Möglichkeit ein, Urteile auch revidieren zu können, Prozesse und Produkte unter anderen Blickwinkeln noch einmal neu zu bewerten.Wichtige Methoden, die ästhetische Urteilsbildung einzuüben, basieren auf Intersubjektivität, dem Gespräch:
– Prozesserfahrungen
austauschen,
– Arbeitsergebnisse
strukturieren und
– Präsentationen konzipieren (Seydel 2003, S.
34f.).
– Das individuelle,
persönliche Gespräch im Arbeitsprozess zwischen Schüler/in
und Lehrer/in über bildnerische Probleme (Manthey-Bail 1982, S. 135)
ist zudem eine häufig angewandte fachdidaktische Methode.
Zugleich müssen Lehrende aber auch die Fähigkeit ausbilden, Prozesse der ästhetischen Urteilsbildung in zunächst unscheinbaren Schüleräußerungen zu erkennen. Hier hilft genaues Hinhören, Hinschauen, um das eigene Beobachtungsvermögen zu schulen (Peez 2003).
Bewertungsmethoden und -kriterien – gestern und heute
Die Geschichte des Zeichen- bzw. später des Kunstunterrichts ließe sich auch als eine Geschichte der Leistungsbewertung in diesem Schulfach schreiben. Denn in den Beurteilungsverfahren und -kriterien der einzelnen Epochen spiegeln sich stets die jeweiligen Lernziele – neuerdings auch Bildungsstandards genannt. Einige historische Schlaglichter sollen dies verdeutlichen:Schülerarbeiten aus dem Zeichenunterricht des 19. Jahrhunderts ließen sich noch recht einfach bewerten: Je mehr das Ergebnis der Vorlage glich – seien es Ornamente, Landschaftsdarstellungen auf Stichen oder Gipsmodelle -, desto positiver fiel die Beurteilung aus (Otto 1998; Richter 2003). Die Inhalte waren durch das Vorlagenblatt streng vorgegeben. Als Kriterien in formaler Hinsicht dominierten detailreiche Korrektheit, Sauberkeit und Ordnung.
Ein Paradigmenwechsel in den Beurteilungsmaßstäben erfolgte erst durch die "Entdeckung" der "freien" Kinderzeichnung um 1900 (Staudte 1982). Pädagogen erkannten in ihr einen Wert an sich und waren bemüht, Beurteilungskriterien aus den nicht selten idealisierten "natürlichen" bildnerischen Äußerungen der Kinder zu entnehmen, etwa Einfachheit, Klarheit, aber auch Originalität und Expressivität. Denn hier ging es nicht um das bloße Abbilden, nicht um die naturalistische Wiedergabe, sondern um eine vom Kind erfasste und ausgedrückte "Ganzheitlichkeit". Diese Kriterien wurden zwar angeblich "vom Kinde aus" ermittelt, sie spiegelten aber zweifellos die weltanschaulichen Auffassungen der Erwachsenen vom idealisierten Kinde, vom "Genius im Kinde" (Hartlaub) wider (Staudte 1982).
Abb. 3 Bis in die 1960er Jahre hinein fanden sich in der kunstpädagogischen Literatur Werturteile wie diese. Aus: Betzler, Emil: Neue Kunsterziehung. Frankfurt a.M. (Hirschgraben Verlag) 2. Auflage 1956
"Diese Sehnsucht nach Vollkommenheit im angeblich Ursprünglichen steigerte sich in den Tendenzen der "Musischen Erziehung" vor und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg. Beziehungen zwischen der ebenso "natürlichen" Volkskunst und der Kinderzeichnung wurden systematisiert, um in einem zweiten Schritt hieraus Beurteilungsmaßstäbe abzuleiten. Schon als Kind, so ein führender Kunstpädagoge der Nachkriegsjahre, lege der Mensch Wert auf "gestalterische Qualität", die das "eigentliche Wesen alles Musischen" sei. Vor allem das Kind gebe "seinem Verlangen nach dem ideal Schönen und Vollkommenen Ausdruck" (Betzler 2 1956, S. 143). Bemüht sich ein Vierzehnjähriger hingegen um eine perspektivische Darstellungsweise, was seiner kognitiven Entwicklung entspricht, so wird das Ergebnis in einer Fachpublikation als "wertlos" oder "unecht" bezeichnet (Abb. 3 ) (ebd.). Diese auf diffusen, teils weltanschaulich kulturkritischen, teils nicht nachvollziehbar subjektiven Kriterien beruhende Intoleranz ließ die "Musische Erziehung" in der wirtschaftlich aufstrebenden BRD als ewig gestrig erscheinen.
Abb.
4 u. 5 Bekanntes Beispiel für ein ausgeklügeltes Bewertungssystem
mit Punkten: Bild 4 wurde mit „sehr gut“ (18 Punkte) benotet,
Bild 5 mit „mangelhaft“ (8 Punkte). Gunter Ottos Unterrichtsbeispiel
„Pflanzen auf dem Meeresgrund“ (7. Klasse) aus dem rationalisierten
Kunstunterricht der 1960er Jahre
Material: weißes Papier (A3), Probeblätter, Borstenpinsel,
Deckfarben, Schwamm
Zwei von insgesamt sieben Kriterien:
Ausmaß der Überdeckung der Einzelelemente:
Keine Überdeckung = kein Punkt
Vereinzelte Überdeckung = 1 Punkt
Häufige Überdeckung = 2 Punkte
Starke Überdeckung = 3 Punkte
Inhaltliche Intention / Thema:
Wasserpflanzen im Wasser = 4 Punkte
Wasser = 2 Punkte
Wasserpflanzen = 2 Punkte
Urwald = 0 Punkte
Bei strittigen Fällen = 1 Punkt
aus: Otto, Gunter: Das Problem der Zensur im Kunstunterricht. In: Otto,
Gunter: Kunst als Prozeß im Unterricht, Braunschweig (Westermann)
1964/1969, S. 142-160
Gegen so viel rückwärtsgewandte Subjektivität setzte der "formale Kunstunterricht" der 1960er Jahre Transparenz und Nachvollziehbarkeit. Gunter Otto stellte sich dem "Problem der Zensur im Kunstunterricht" (Otto 2 1969, S. 217ff.) mit einem ausgeklügelten Punktesystem mit insgesamt sieben Kriterienkategorien, die sich nach den mit der Aufgabenstellung intendierten Lernzielen richteten. Durch die exemplarisch dokumentierte Bewertung eines Klassensatzes, hatte das Bewertungsergebnis den Anspruch von Objektivität (Otto 2 1969, S. 159f.). Die Beurteilungskriterien waren fast ausschließlich formal, so wurden beispielsweise mit den Deckfarben des Wasserfarbenkastens gemischte Grün-Töne ausgezählt; man erfasste bis zu 65 Mischtöne in einem Bild. (Hier ließe sich bereits ein gerüttelt Maß an Willkür vermuten.) Oder Formenreichtum wurde positiv bewertet (Abb. 4 u. 5). Solche auf Punkten beruhende Bewertungssysteme finden in der Kunstpädagogik bis heute Anwendung (Krause 1998). Da dieses Verfahren äußerst zeitaufwändig ist, hat es sich aber in der Praxis kaum durchgesetzt, es hat jedoch sicher das Problembewusstsein vor allem in den Studienseminaren geschärft. Doch: "Wer mehrere Einzelbewertungen zusammenzählt, hat nicht unbedingt die Gesamtheit der Arbeit erfasst." (Hiebner 1985, S. 345) Denn wer leicht Operationalisierbares isoliert erfasst, wird der Komplexität einer Schülerarbeit, dem Zusammenspiel der Aspekte, nicht unbedingt gerecht. Kriterien wie Dynamik oder Originalität bleiben unberücksichtigt, wie das vergleichende Bildbeispiel zeigt.
Eine erneute Gegenbewegung formierte sich um 1970, diesmal sprach man sich vehement gegen die Überbetonung der formalen Aspekte aus. Lernziel: "Kritisches Denken" statt "Bildnerisches Denken" (Ehmer 1973, S. 6). Im Zentrum standen in der "Visuellen Kommunikation" und der frühen "Ästhetischen Erziehung" die Inhalte, die die Schülerinnen und Schüler beispielsweise in ihren Zeichnungen mitteilten. Die Beurteilung und Bewertung der Arbeiten erfolgte hier in der Regel innerhalb oder nach einem Unterrichtsgespräch, in dem "der Informationswert der Zeichnungen selbstverständlich besonders im Vordergrund steht, im Gegensatz zu eventuell auftretenden ästhetischen Fragen (wie z. B. gute Verteilung auf dem Blatt)." (Hinkel 1973, S. 65). Das allgemeine Leitziel Emanzipation musste herunter gebrochen werden auf Elemente, wie die Verbalisierung von Gesellschaftskritik. Doch diese Schülerleistung wurde kaum erreicht, denn "es bedurfte einiger Mühe, die Schüler zu berechtigter Kritik an schulischen Einrichtungen etc. zu animieren, da sie von zuhause mit eindeutigen – auf Wohlverhalten zielenden – Direktiven ausgerüstet waren" (ebd.); so die Erfahrung fortschrittlicher Kunstlehrer. Das Unterrichtsgespräch nahm eine wichtige Stellung im Kunstunterricht ein, es diente nicht nur der Bewusstwerdung und Reflexion, sondern bildete häufig auch die Grundlage für die Beurteilung, denn "Mitbestimmung" und "mehr Demokratie wagen" waren weitere Schlagworte der frühen 1970er Jahre, die auf diese Weise im Kunstunterricht wirkten. Noch lange beruhten Bewertungskonzepte im Fach auf dem Prinzip der "Mitbestimmung" (z. B. Knauf/ Knauf 1982, S. 134).
Lag der Unterricht der "Visuellen Kommunikation" nicht selten nahe an der Indoktrination im Unterrichtsgespräch, so kam in der "Ästhetischen Erziehung" der 1980er Jahre die Subjektivität immer stärker in den Blick, denn "intuitive, emotional gefärbte, individuelle sinnliche Zugriffsweisen sind Formen sinnlicher Erkenntnis" (Staudte 1982, S. 143). Das Dilemma lag vor über 20 Jahren und liegt sicher noch heute auf der Hand: der "strukturelle Widerspruch zwischen der pädagogischen Aufgabe des verständnisvollen, motivierenden, Subjektivität fördernden Kunsterziehers" (Staudte 1982, S. 144) und der Forderung nach distanzierender Gerechtigkeit, der Pflicht zur Neutralität in der Beurteilungssituation. Als Umgang mit diesem Dilemma wird in den 1980er Jahren vorgeschlagen, die Beurteilungssituation und all ihre Widersprüche mit Hilfe von Selbstreflexion "durchschaubar, nachvollziehbar, transparent" (ebd.) zu machen. Lösen lässt sich das Dilemma auf diese Weise freilich nicht.
In der Fachliteratur der letzten Jahre ist die Tendenz auszumachen, dass möglichst alle oben genannten Faktoren in den Beurteilungssystemen Berücksichtigung finden sollen. Kriterienkataloge werden vorgelegt, die angefangen von Ordnung und "Fleiß" (Fried 1990, S. 50) über die wissenschaftlich fundierte kritische Reflexion (Maiwald 1996) bis zu individuellen subjektiven Anteilen (Lehrplan Kunst Grundschule NRW 2003, S. 124) – heute meist "Biografieren" (vgl. K+U 280 u. 281/2004) genannt – fast alles fordern. Häufig sind diese Kriterienkataloge allumfassend (Lange 2003), um möglichst viel abzudecken. Lapidar stellen Otto/ Kirschenmann stellvertretend fest: "Bewerten ist so schwierig, weil man so viel auf einmal bewerten muss." (1998, S. 103) Wenn die Kriterienkataloge hingegen kurz sind, dann sind sie sehr allgemein oder es fehlt ihnen an Transparenz. Wie lassen sich etwa die Beurteilungskriterien "Kohärenz, Varianz, Signifikanz und Innovation" (Fried 1990, S. 52) einer Schulklasse vermitteln?
Evaluativer Ansatz
In Zeiten, in denen die Qualitätsdiskussion in Bezug auf das Bildungssystem und seine einzelnen Segmente an vorderster Stelle steht, können Lehrerinnen und Lehrer nicht Schülerinnen und Schüler bewerten ohne zugleich ihren eigenen Unterricht reflexiv zu betrachten. Wie eingangs dargelegt, ist der Unterricht selbst als Grundbedingung für die Bewertung nicht aus dem Nachdenken auszublenden, sondern integral mit einzubeziehen. (Vgl. oben die Kritik an Pfennigs "Wertgruppe C") Der eigene Unterricht und hiermit zusammenhängend die Prozesse des Bewertens sollten immer wieder neu überdacht werden (Kirschenmann/ Otto 1998, S. 103), weil ein enger systemischer Zusammenhang besteht zwischen der Lehrkraft, dem Einzelschüler, der Schulklasse und der Bewertung.Schülerleistungen können auch als Aussagen zum Verhalten der Lehrperson verstanden werden (Aissen-Crewett 1992, S. 112f.; Andresen 1996, S. 95f.; Seydel 2003). "Wie gut haben Sie die Kinder motiviert? Waren die gegebenen Anregungen angemessen? Haben Sie die Arbeit gut organisiert? Haben Sie das richtige Medium gewählt?" (Aissen-Crewett 1992, S. 113) Das Überdenken kann beispielsweise aufgrund von Rückmeldungen aus der Klasse geschehen, aber auch durch kritische Reflexivität oder kollegiale Hospitation mit supervisionsähnlichen Ansätzen. In den Leistungen einzelner oder denen der Klasse spiegelt sich letztlich nicht unwesentlich die eigene Leistung.
Literatur
- Aissen-Crewett, Meike: Kapitel 15, Bewertung. In: Aissen-Crewett, Meike: Kunstunterricht in der Grundschule. Braunschweig 1992, S. 112ff.
- Andresen, Ute: Zeugnisse für alle und alles. In: Friedrich Jahresheft "Prüfen und Beurteilen. Zwischen Fördern und Zensieren", 1996, S. 94-96
- Bahr, Eberhard/ Poschul, Diethard/ Zeinert, Peter: Bewertung im Kunstunterricht. Fragen – Untersuchungen – Ergebnisse auf fachspezifischer und allgemeiner Grundlage. Frankfurt a.M. (Peter Lang) 1985
- Bertram, Helmut: Zeugnisse im Kunstunterricht. Grundsätzliches, Fachspezifisches und Aktuelles. In: Zeitschrift für Kunstpädagogik, H. 6, 1980, S. 37-43
- Betzler, Emil: Neue Kunsterziehung. Frankfurt a.M. (Hirschgraben Verlag) 2 1956
- Dreidoppel, Heinrich: Das Antizeugnis. Ein Unterrichtsbeispiel aus Klasse 11. In: Kunst+Unterricht 16/1972, S. 46-51
- Ehmer, Hermann u.a.: Wie zensiere ich? Das Problem der Zensur im Kunstunterricht. In: Kunst+Unterricht, Heft 2, 1968, S. 28-33
- Ehmer, Hermann K.: Vorwort. In: Ehmer, Hermann K. (Hg.): Kunst / Visuelle kommunikation. Unterrichtsmodelle. Gießen (Anabas) 1973, S. 5-9
- Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1977
- Friedt, Anton: Keine Not mit der Note. Kunstdidaktische Anmerkungen zur Leistungsbemessung im Kunstunterricht und ein Experiment. In: Kunst+Unterricht, Heft 144, 1990, S. 48-54
- Friedrich Jahresheft "Prüfen und Beurteilen. Zwischen Fördern und Zensieren", 1996
- Graul, Margret: Leistungsnachweis statt Standesprivileg. In: Friedrich Jahresheft "Prüfen und Beurteilen. Zwischen Fördern und Zensieren", 1996, S. 128-129
- Gudjons , Herbert: Das Unbewusste und die Macht der Prüfungen. In: Friedrich Jahresheft "Prüfen und Beurteilen. Zwischen Fördern und Zensieren", 1996, S. 115
- Hiebner, Hans-Günther: Bewertung und Benotung bildnerischer Arbeiten im Kunstunterricht. In: Menzer, Fritz (Hg.): Forum Kunstpädagogik. Festschrift für Herbert Klettke. Baltmannsweiler (Schneider Verlag) 1985, S. 335-352
- Hinkel, Hermann: Zeichnen als Kommunikationsimpuls. Unterrichtsmodell für ein 1. Schuljahr. In: Ehmer, Hermann K. (Hg.): Kunst / Visuelle Kommunikation. Unterrichtsmodelle. Gießen (Anabas) 1973, S. 61-66
- Kade, Jochen: Wissen – Umgang mit Wissen – Nichtwissen. Über die Zukunft pädagogischer Kommunikation. In: Gogolin, Ingrid/ Tippelt, Rudolf (Hg.): Innovation durch Bildung. Opladen (Leske+Budrich) 2003, S. 89-108
- Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. 1790. In : http://gutenberg.aol.de
- Kirchner, Constanze/ Otto, Gunter: Praxis und Konzept des Kunstunterrichts. In: Kunst+Unterricht, Heft 223/ 224, 1998, S. 4-11
- Kirschenmann, Johannes/ Otto, Gunter: Werten, Begutachten, Ermutigen. In: Kunst+Unterricht, Heft 223/224, 1998, S. 100-103
- Knauf, Anne / Knauf, Tassilo: "… damit ich weiß, wie gut ich bin". In: Kunst+Unterricht, Sonderheft 1982, S. 133-134
- Krause, Wolfgang: "Es führt kein Weg dran vorbei". Zur Bewertung praktischer Schülerarbeiten im Fach Kunst. In: Kunst+Unterricht, Heft 223/224, 1998, S. 104ff.
- Lange, Marie-Luise: Das Problem der Bewertung. In: Lange, Marie-Luise: "… it happens …" Kreuzfahrten des Performativen, Kunst+Unterricht 273/ 2003, S. 8
- Legler, Wolfgang: Ermutigung und künstlerischer Anspruch. In: Bund Deutscher Kunsterzieher, Landesverband NRW (Hg.): "Schüler verstehen". Reader zum Kunstpädagogischen Landeskongreß des BDK-NRW im Oktober 1989 in Düsseldorf. BDK-Text 25. o. A. 1989, S. 64-85
- Maiwald, Klaus-Jürgen: Mit Picasso in die Prüfung. Ein Beispiel aus der Abiturpraxis im Fach Kunst. In: Friedrich Jahresheft "Prüfen und Beurteilen", 1996, S. 116-119
- Mantey-Bail, Hilmar: Prozesse und Produkte. Überlegungen zur Benotung im Fach Kunst in der Grundschule. In: Kunst+Unterricht, Sonderheft 1982, S. 135-136
- Meder, Oskar: Prüfung als Ritual. Oder: Zurichtung durch Zugerichtete. In: Pädagogik, 1. Beiheft 1993, S. 47-51
- Otto, Gunter: Das Problem der Zensur im Kunstunterricht. In: Otto, Gunter: Kunst als Prozeß im Unterricht, Braunschweig 2 1969, S. 142-160
- Otto, Gunter: Anmerkungen zur aktuellen Problematik von Leistung und Zensur – nicht nur im Kunstunterricht. In: Kunst+Unterricht 16/1972, S. 43-45
- Otto, Gunter/ Peters, Maria: Beurteilen – wo es besonders schwer scheint? Bewertung von Prozessen und Produkten in einem Leistungskurs Kunst. In: Friedrich Jahresheft "Prüfen und Beurteilen. Zwischen Fördern und Zensieren", 1996, S, 22-23
- Otto, Gunter: Johann-Christian zeichnet ohne "Ausmessungskraft". Zeichnen und Zeichenunterricht im 19. Jahrhundert – und vorher. In: Kunst+Unterricht, Heft 228, 1998, S. 16
- Peez, Georg: Über ästhetische Prozesse reflektieren, ein ästhetisches Urteil bilden. Empirische Wirkungsforschung anhand von Aussagen eines 12-jährigen Schülers. In: BDK-Mitteilungen, 2/ 2003, S. 34-36
- Pfennig, Reinhard: Beurteilung und Bewertung. In: Pfennig, Reinhard: Gegenwart der bildenden Kunst. Erziehung zum bildnerischen Denken, Oldenburg 5 1974, S. 180-182
- Richter, Hans-Günther: Eine Geschichte der Ästhetischen Erziehung. Niebüll ( Verlag Videel) 2003
- Schuster, Ulrich: Müssen bayrische Abiturienten sich vor Drucksachen bebeuysen? Kommentar zum Kunst-Abitur 2001 (hierzu auch weitere Kommentare und Links). In: http://www.kusem.de/lk/abi/abi.htm (Datum des Zugriffs: 15.04.04)
- Seydel, Fritz: Beurteilen lernen. Diskussionsbeitrag zu einem leidigen Thema: Zensuren im Kunstunterricht. In: BDK-Mitteilungen, Heft 1, 2003, S. 34-35
- Sievert, Adelheid: Kinderarbeiten bewerten – ja aber mit Sinn. In: Die Grundschulzeitschrift 135, 136/2000, S. 60-61
- Staudte, Adelheid: Subjektivität als Problem oder als Chance. Leistungsbeurteilung in der ästhetischen Erziehung. In: Kunst+Unterricht, Sonderheft 1982, S. 137-144
Bibliografische Angaben zu diesem Text: