Beurteilen als kulturelle Sinnpraxis

Ästhetische Urteilsbildung als Aufgabe und Forschungsfeld der Kunstdidaktik

Georg Peez

Die grundlegende Bedeutung des Ästhetischen für allgemeine Bildungsprozesse wird von Klaus-Peter Busse in der Hinsicht konkretisiert, dass das Ästhetische eine Vielzahl von sinnlichen Handlungsmöglichkeiten des Menschen bezeichnet. Dies sind unter anderem das Bauen und Konstruieren, das Musizieren, das Kleiden und das Zeichnen. In dieser Hinsicht umfassen die „Bildumgangsspiele“ die performative Ebene des ästhetischen Verhaltens. Zudem sei das Ästhetische keinesfalls auf das Künstlerische einzugrenzen, so Klaus-Peter Busse (Busse 2007, S. 212). Obwohl die Einführung von sogenannten Bildungsstandards, die Karl-Josef Pazzini "nicht operationalisierbare Könnensbehauptungen" nennt (nach Herring 2011, S. 32f.), kritisch zu sehen ist, setzt sich die Kunstdidaktik mit dieser Thematik auseinander. Ernsthaft zu fragen ist, "welchen Beitrag das Fach Kunst zu übergreifenden Standards leistet und welche Lernstandards intersubjektiv im Bereich der visuellen oder ästhetischen Literalität formulierbar sind" (Busse 2004, S. 227). Teil der Entwicklung einer "künstlerischen Haltung" (ebd.) ist die ästhetische Urteilsbildung. "Beurteilen Schülerinnen und Schüler Bildhandlungen, dann denken sie nicht nur implizite Kunstbegriffe und Voreinstellungen auf, sondern lernen kulturelle Sinnpraxis." (Busse 2004, S. 230) Hieran anknüpfend möchte ich im Folgenden selektiv und pointiert der Frage nachgehen: Wie lässt sich die Kompetenz der ästhetischen Urteilsbildung bei Schülerinnen und Schülern – wie sie inzwischen in allen Bildungsstandards und Kerncurricula des Faches Kunst genannt ist – näher eingrenzen? Welche fachspezifischen Aspekte hängen mit der Kompetenz der ästhetischen Urteilsbildung zusammen?

Präferenzforschung

Was finden Kinder und Jugendliche schön? Welche Bilder bevorzugen Heranwachsende? Was finden sie interessant? Diese Fragen stellt man sich in der Kunstpädagogik. Eine inzwischen 40 Jahre alte, doch noch häufig zitierte Studie untersuchte die Reaktionen von rund 500 Grund- und Hauptschülerinnen und -schülern der Schuljahre 1 bis 9 (also vom 6. bis 15. Lebensjahr) auf die formale und inhaltliche Gestaltung von Kunstwerken (Hinkel 1972; zusammenfassend und kritisch hierzu Kirchner 1999, S. 37ff.; Uhlig 2005, S. 135ff.). Hermann Hinkel – damals Universität Gießen, später Vorgänger von Klaus-Peter Busse in Dortmund – ging es um das "ästhetische Urteil" (Hinkel 1972, S. 138). Er fragte die jeweilige Versuchsperson "welches Bild ihr am besten gefalle" (Hinkel 1972, S. 143), nach den unbeliebtesten Bildern sowie nach der "Begründung dieser Wahl" (ebd.). Eins der damaligen Ergebnisse lautet, dass von den Kindern und Jugendlichen naturalistische Gemälde bevorzugt werden, wohingegen "unrealistische" Darstellungen "mit aller Deutlichkeit zurückgewiesen werden" (Hinkel 1972, S. 148). Mit zunehmendem Alter sind sie nicht nur am meist subjektiv bedeutsamen Bildmotiv interessiert, sondern auch an formalen Bildmerkmalen. Die rezeptiven Bildpräferenzen korrelieren offenbar zum Teil mit den Vorlieben im Zeichnen: "Der Wunsch nach Natürlichkeit wird im 1. Schuljahr noch nicht geäußert. Er taucht im 2. Schuljahr auf und nimmt bis ins 4. stetig zu." (Hinkel 1972, S. 151) (Abb. 1). Die Kinder und Jugendlichen würden grundsätzlich "von Bildern angesprochen, die deutlich, klar und gut erkennbar sind, deren Aufbau wirklichkeitsgetreu ist und die auf kräftige und natürliche Farben zurückgreifen" (Hinkel 1972, S. 157). Auch narrative Bildinhalte würden klar bevorzugt. 1990 zweifelte Johannes Eucker aus kunstdidaktischer Sicht diese Ergebnisse an, allerdings ohne selbst empirisch geforscht zu haben (Eucker 1990, S. 2ff.).

Abb. 1 Ein Bild, wie es den Kindern aus Gießen und Umgebung in der Studie zu Beginn der 1970er Jahre gut gefiel: Hans Hoffmann (um 1530-1592) Zwei Eichhörnchen ca. 1512, Aquarell und Deckfarben auf Pergament (1972 noch Albrecht Dürer zugeschrieben)

Erst in den letzten Jahren kam es dann vorwiegend durch qualitative Fallstudien – teils im Rahmen von Präferenzforschung – zu differenzierten und anderen Ergebnissen (Mollenhauer 1996; Neuss 1999; Kirchner 1999; Uhlig 2005, 2007; Savas 2009). U. a. wurde an der Untersuchung Hermann Hinkels die eingeschränkte Bildauswahl kritisiert. Im Gegensatz zur Untersuchung von 1972 nehmen heutige Studien in der Bildauswahl Bezug zu der medialen Lebenswelt von Kindern und bieten den Probanden nicht nur Reproduktionen von Kunstwerken an. Zudem werden in Fallstudien etwa mittels Leitfadeninterviews stärker die soziokulturellen und biografischen Vorerfahrungen des einzelnen Kindes bei der Bildpräferenz fokussiert. Fragte Hermann Hinkel noch, "welches Bild" dem jeweiligen Kind bzw. Jugendlichen "am besten gefalle" (Hinkel 1972, S. 143), so lautet die heute (kunst-) didaktisch relevantere, am Bildungsprozess orientierte Frage, ob die Kinder an einem Bild Interesse entwickeln (Mollenhauer 1996; Kirchner 1999; Uhlig 2005, 2007; Savas 2009). "Das ist insofern ein wesentlicher Unterschied, als das Gefallen sich auf ein momentanes ästhetisches Urteil beschränkt, das Interesse aber einen Prozess einleitet, der den Einsatz und die Beteiligung der Person erfordert. Dahinter steht die Auffassung, dass Kunst sich nicht im Wohlgefallen erschließt, sondern in der Auseinandersetzung." (Uhlig 2005, S. 137) Auch bei der Beurteilung von Schülerarbeiten im Kunstunterricht sollte es beispielsweise nicht darum gehen, ob sie "schön" sind, sondern ob sie "interessant" sind, d. h. ob sie etwa eine intensive ästhetische Auseinandersetzung vermitteln, was auf ästhetische Bildungsprozesse hinweist (Mollenhauer 1996, S. 235ff.).

Die Ergebnisse aktueller Studien sind nicht so einheitlich wie vor 40 Jahren: "Bilder werden von (2 bis 10 Jahre alten; G.P.) Kindern vor allem dann präferiert, wenn diese für sie subjektiv bedeutsam sind und formale und inhaltliche Anknüpfungspunkte an ihre konkrete Alltags- und Lebenswelt bieten, d. h. wenn (…) Erinnerungen, (Vor-) Erfahrungen, Emotionen, Identitätsbilder, Hobbys, Träume und Wünsche in einem Bild wieder zu finden sind. Kindliche Präferenzen und Lebensweltbezüge lassen sich allerdings nicht nur im Bekannten finden, sondern auch im Neuen, Unbekannten, Nichtalltäglichen, Ungewohnten und in der Differenz entdecken." (Savas 2009, S. 50) Weitere wichtige Einflussfaktoren sind die Geschlechtsspezifik, bei jüngeren Kindern die Vorlieben der Freundinnen bzw. Freunde und nicht zuletzt der Humor (Savas 2009, S. 48f.).

Bild-Präferenzen von Jugendlichen

Studien zur Bild-Präferenz gibt es bis ins späte Grundschulalter; s. alle oben genannten Studien. Die Jugendphase ist hingegen eigentlich nicht erforscht. Anzunehmen ist, dass die medialen Einflüsse (auch kurzlebige Trends) sowie individuelle Faktoren zu einer starken Ausdifferenzierung führen, so dass die Ergebnisse keine einheitliche Richtung vorzugeben vermögen. Deshalb kann es im Folgenden leider lediglich bei Andeutungen bleiben.

• So schreibt Oliver M. Reuter über den Handygebrauch Jugendlicher, es werde darauf geachtet, "ästhetisch ansprechende Fotos oder Filme zu erstellen, um Situationen, Stimmungen oder Motive ansprechend darzustellen" (Reuter 2010, S. 5). Was konkret "ästhetisch ansprechend" für Jugendliche ist, wird jedoch nicht erörtert.

• Zu untersuchen wäre nach inhaltlichen und formalen Gesichtspunkten, welche selbst erstellten Videofilme Jugendliche z. B. auf YouTube hochladen, welche Video-Favoriten angelegt werden, auch in privaten Playlists (Zaremba 2010a, S. 6f.).

• In einem aktuellen Forschungsprojekt der Pädagogischen Hochschule Zürich werden fotografische Bildpraxen von Jugendlichen untersucht. Deren Fotos zeichnen sich u. a. aus durch "gesteigerte Expressivität", sie öffnen sich "auf das Imaginative hin" oder zeigen in Schatten und Spiegelungen "ein Nachdenken über die Wirklichkeit des Bildes" (Kunz 2010, S. 32f.) (Abb. 2).

Abb. 2a u. b Fotos von Jugendlichen aus dem Forschungsprojekt "Unterwegs" der Pädagogischen Hochschule Zürich (Kunz 2010).

• Über die in eigens hierfür geschaffenen Internet-Portalen öffentlich zugängliche "visuell-bildnerische Fanprodukte" von Jugendlichen (vor allem Zeichnungen und Malerei) schreibt Jutta Zaremba: "Bei der FanArt geben Jugendliche ihre Bildkompetenzen, Medienpraxen und affektiven Ästhetiken weiter und handeln untereinander immer wieder die Bildpragmatik von Wertschätzen – Verwerfen, (…) Besprechen – Beurteilen – Bewerten aus." (Zaremba 2010b, S. 9). Auf "mangacarta.de" lässt sich die Bedeutung differenzierten ästhetischen Urteilens ablesen, hier heißt es auf der Startseite: "In unserer Galerie erwartet dich die Möglichkeit, deine fertigen Bilder zu präsentieren, ohne dass sie wie in vielen Communities zwischen lustlosen Kritzeleien untergehen werden. Im Forum bekommst du garantiert mindestens zwei konstruktive Kommentare, außerdem kannst du deine Skizzen präsentieren, Rat für Bilder einholen, an denen du gerade arbeitest (…)."

• Über ästhetische Präferenzen Jugendlicher bei der Auswahl von Bildschirmspielen berichtet Lars Zumbansen; z. B. sind dies: "die erhöhte Stofflichkeitsillusion, die übertrieben porentiefe Sichtbarkeit artifiziell erzeugter Materialoberflächen, aber auch ‚die Ästhetik der Unordnung’" (Zumbansen 2010, S. 14) (Abb. 3).

Abb. 3 Screenshot aus dem Spiel HALF-LIFE 2 (USA 2004, Sierra/ Valve, PC DVD) (aus Zumbansen 2010b, S. 4).

• Weitere Ausdifferenzierungen der Jugendkultur können hier nur erwähnt werden, wie etwa Cosplay, Gothic oder Mangas und Anime. – Klar wird: Ästhetische Werturteile sind stark (jugend-) kulturabhängig, aber stets konstitutiv vorhanden und kaum bis gar nicht erforscht.

Geschmacksbildung als kulturelle Kompetenz

Ästhetische Werturteile können auch (selbst-) reflexive Aspekte enthalten. Der Wiener Philosoph Robert Pfaller erläutert dies mit den Beispielsätzen: "Das gefällt mir, und es freut mich, dass es mir gefällt." "Das gefällt mir zwar nicht, aber das ist eigentlich traurig, und ich würde mir wünschen, dass es mir gefallen könnte." "Mir gefällt das, aber es missfällt mir, dass es mir gefällt." (Gaigg/ Hübel/ Pfaller 2010, S. 103) Hier zeigt sich das, was u. a. bei Immanuel Kant oder Pierre Bourdieu (1987) aufscheint, nämlich dass man sich mit seinen ästhetischen Urteilen nach anderen Menschen und deren Geschmack richtet. Die soziale Interaktion ist entscheidend. Ein Doppelcharakter wird sichtbar: Es geht nicht um die Eigenschaften eines ästhetischen Objekts, sondern primär um den inneren (selbst-) reflexiven Vorgang.

Kunstunterricht findet stets als kommunikative Interaktion in der Klasse oder im Kurs statt. Dem Ganzen wohnt – von der Kunst aus, aber auch von der Gruppe aus – eine gewisse Plastizität, Dynamik und Chance zur Weiterentwicklung inne. Zugleich spielt natürlich auch die (soziale) Distinktion eine Rolle: Mein Geschmack kann mir deshalb Lust verschaffen, weil er sich von anderen Geschmäckern unterscheidet oder umgekehrt: mit diesen übereinstimmt. In beiden Fällen bietet er aber eins, nämlich den "Genuss des Urteilens" und damit "die Gelegenheit zur Subjektwerdung" (Gaigg/ Hübel/ Pfaller 2010, S. 107). Dieser Gedankengang ist für den Kunstunterricht von hoher Relevanz, denn der "Geschmack funktioniert als Subjektbildner", so Pfaller (ebd.). Folgendes wäre dann ein Ziel des Kunstunterrichts in Bezug auf die ästhetische Urteilsbildung: Stets bieten Kunst und Kultur die Chance, nicht zu verharren, sondern ihr bei gewissen „Ausreißversuchen“ aus dem traditionellen Geschmack zu folgen; denken wir in diesem Sinne an die vielen Kunststile des späten 19. und des 20. Jahrhunderts (z. B. Dadaismus oder Pop-Art) oder subkulturelle Ausdrucksformen. Aufgabe des Kunstunterrichts wäre es dann, "Kontexte zur Vermittlung von einsehbaren Zusammenhängen" (Bering 2008, S. 2) herzustellen, um kommunikativ die Subjektbildung zu unterstützen. Die Kompetenz, ein ästhetisches Urteil in diesem Sinne (selbst-) reflexiv bilden zu können, würde demnach im Mittelpunkt des Kunstunterrichts stehen. Es ginge nicht darum, ein bestimmtes Urteil zu haben oder sich anzueignen, wie noch in der Erziehung zum „guten Geschmack“ in den 1960er Jahren (Meyers 1966) (Abb. 4). Auf der Meta-Ebene geht es nicht um die Inhalte (Welche Merkmale hat guter Geschmack?), sondern um die Kompetenz, ein ästhetisches Urteil (selbst-) reflexiv bilden zu lernen.

Abb. 4 Im Jahre 1966 trat der Frankfurter Kunstpädagoge Hans Meyers stellvertretend für die Richtung der Musischen Bildung eine "Didaktik der Formerziehung" ein (Meyers 1966, S. 89): "Die Materialwirkungen des Porzellans kommen am reinsten zum Ausdruck, wenn jeder zusätzliche Dekor entfällt." (ebd. S. 64) "Ich habe immer wieder festgestellt, dass es schon zehn- oder elfjährigen Kindern gelingt, eine innerlich wahre von einer verlogenen Form zu unterscheiden, wenn man ihnen die Merkmale zu Anfang klar und drastisch genug herausstellt. (…) Gut können sie formschöne Vasen, Kaffeekannen und Tassen, Stühle und Schränke von formverwilderten unterscheiden. (…) Nur bewusste Lenkung setzt diese Kraft im Menschen in Bewegung." (Meyers 1966, S. 112)

Das Fällen, Austesten und Verteidigen von ästhetischen Werturteilen, das permanent und unterschwellig in Kunstunterricht geschieht, ist also legitimativ als zentrales fachspezifisches Kompetenzfeld des Kunstunterrichts bewusst zu machen und kultivieren.

Selbstbewertung im Kunstunterricht zwischen Kompetenzorientierung und Bildungsanspruch

Die übergreifende Bedeutung und Komplexität der Thematik ästhetischer Urteilsbildung ist Ausgangspunkt der hier dargelegten Erörterungen und soll nun abschließend exemplarisch auf kunstdidaktische Methoden der Selbstbewertung im Kunstunterricht bezogen werden. Im Element der Selbstbewertung – als Teil eines Beurteilungsprozesses von Schülerleistungen – zeigt sich ganz offensichtlich die ästhetische Urteilsbildung als eine zu fördernde und zu erwerbende Fähigkeit im Kontext der Selbstbildung.

Zwei konträre Positionen, die sich im gegenwärtigen pädagogischen Diskurs abzeichnen, können rahmend verortet werden:

(1) Wie im gesamten Erziehungssystem, so auch in der Kunstdidaktik, verweist man seit dem "PISA-Schock" im Jahre 2000 Bezug nehmend auf sogenannte Bildungsstandards und die "Output-Orientierung" auf die Bedeutung übertragbarer und nachhaltiger Kompetenzen – im Gegensatz zu den früher anvisierten Lernzielen (vgl. die kunstpädagogische Diskussion in Kirschenmann/ Schulz/ Sowa 2006, S. 278; Lindström 2008; Billmayer 2008; Bering/ Höxter/ Niehoff 2010). So heißt es u. a. entsprechend in den Standards des BDK, Fachverband für Kunstpädagogik, für den mittleren Schulabschluss unter dem Stichwort "Werten":

"• sachbezogene Gespräche über Bilder (auch eigene) führen,

• Deutungen am jeweiligen Bild belegen, die Deutung in der Diskussion vertreten und bewerten,

• eigene Wertungen von Bildern begründet vertreten." (BDK-Mitteilungen 3/2008, S. 4; s. auch Kunst+Unterricht 341/2010, S. 11). Wenn die Kunstpädagogik zukünftig verstärkt von den Kompetenzen her zu denken sein wird (Schoppe 2008) – und eine derzeitige Überarbeitung vieler Richtlinien in den Bundesländern legt dies nahe – , dann rückt die "Entwicklung von Beurteilungskompetenz" (Seydel 2007, S. 8) immer deutlicher als wichtige Fähigkeit in den Mittelpunkt. Doch was ist hiermit genauer gemeint? "Bildkompetenz", so Fritz Seydel, werde längst zu den Schlüsselkompetenzen gezählt. Bildkompetenz enthält das Merkmal "Bilder im Kontext beurteilen" zu können, d.h.

• "hinsichtlich bildnerischer Qualitäten, ihrer stilistischen Zuordnung, Wirkung";

• "hinsichtlich ihrer Geschichtlichkeit" und

• "hinsichtlich ihrer Relevanz für den eigenen Bildervorrat Bilder auf ihre Verwendung hin untersuchen" (Seydel 2008, S. 425). In dieser Aufzählung klingt freilich der Funktionalismus der Kompetenzorientierung stark durch.

(2) Kritiker markieren deshalb eine gegensätzliche Position: Das, was mit Kompetenz gemeint ist, wird nämlich nicht vom Individuum her bestimmt, sondern ökonomisch und bildungspolitisch von beruflichen Anforderungen und zukünftigen Tätigkeiten her. An dieser Stelle soll hingegen – nicht zuletzt im Anschluss an Friedrich Schiller – der subjektorientierte, allgemein- bzw. selbstbildende Anspruch ästhetischer Urteile durch die Elemente der Selbstbewertung herausgestellt werden. Doch auch wenn der Kompetenzbegriff vielfach deutlich abgelehnt wird (Krautz 2010) und vom "Bluff der Kompetenzorientierung" die Rede ist (Tagung "Bildungsstandards auf dem Prüfstand", Universität zu Köln im Juni 2010), da die Kompetenzorientierung zur Unmündigkeit führe, soll die Kompetenzdiskussion nicht ignoriert werden. Angesichts der gegenwärtig vielfach vorgenommenen Überarbeitung u. a. der Kerncurricula und Schulcurricula wird dieser Aspekt zumindest im Folgenden deutlicher problematisiert und die Gefahren einer unkritischen Kompetenzorientierung werden angesprochen.

Der Kompetenz- und Qualifikationsbegriff steht also in einem Spannungsverhältnis zu einem Verständnis von Bildung, wie es seit dem Neuhumanismus des 19. Jahrhunderts (Humboldt) die Diskussionen um das Lehren und Lernen in Deutschland bestimmt. Immer wieder aktualisiert, ist der Bildungsauftrag der Schule im heutigen Verständnis dadurch geprägt, dass er die Dimensionen Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität als wesentliche Grundfähigkeiten benennt, die mittels Bildungsprozessen zu fördern sind (in Berufung auf Wolfgang Klafki: Duncker 2007, S. 14) (Abb. 5). Dieses Merkmal unterstreicht den Bildungsaspekt in Form einer Allgemeinbildung und auch das Element der Solidarität.

Abb. 5 "Wenn wir über einen Gegenstand ein ästhetisches Urteil fällen, starren wir ihn nicht einfach an und sagen: ‚Oh, wie wunderbar!’" Ludwig Wittgenstein (2000, VÄ I, § 17) … sondern wir machen uns Gedanken, reflektieren, wägen ab und beratschlagen. – Situation aus dem Kunstunterricht zwischen Wandtafel, Mona Lisa, Google-Bildersuche und Paul Klee (aus dem Unterricht von Stefan Bergmann, Oberhausen).

Die Herausforderung für Schule – und damit für den Kunstunterricht – heute lautet, wie sie sich zwischen Bildung und Qualifikation verorten kann. Zweifellos geht von Methoden der Selbstbewertung im Rahmen der ästhetischen Urteilsbildung eine Stärkung des Bildungsaspekts aus, da hier insbesondere Selbstbestimmung und Mitbestimmung bei der Aneignung von Welt ein größeres Gewicht erhalten. Denn eng festgeschriebene Ziele und Lernwege sind in diesen Erfahrungszusammenhängen nicht determinierbar. Die Gefahr des Qualifikationsgedankens, dass nur gelehrt und gelernt wird, was extern überprüft werden kann (vgl. Kunst+Unterricht 341/2010 "Bildkompetenz – Aufgaben stellen"), widerspricht dem Bildungsgedanken. Doch auf der anderen Seite werden von den Verfechtern einer an Bildungsstandards orientierten Kunstpädagogik ebenso die Kompetenz zur Selbstbewertung und das ästhetische Urteilsvermögen als zentral proklamiert: "Gerade für gestalterische Arbeit, bei der dauernd Entscheidungen getroffen werden müssen, ist die Fähigkeit zur Einschätzung der eigenen Arbeit unerlässlich." "Die Schülerinnen und Schüler sollen deshalb lernen, ihre eigenen Fähigkeiten und ihr eigenes Lernen zunehmend selbst einzuschätzen." (Billmayer 2008, S. 165).

Nachvollziehbar wird, warum der Gießener Erziehungswissenschaftler Ludwig Duncker mit pragmatisch orientiertem Blick auf die Schule für beides plädiert, dass nämlich das Spannungsverhältnis von Bildung und Qualifikation nicht im Sinne von einer der beiden Seiten aufgelöst werden kann (Duncker 2007, S. 17), sondern dass es Schule heute elementar prägt. Der Gedanke, das ästhetische Urteilsvermögen zu stärken, ist für beide Konzepte grundlegend.

Vorläufiges Fazit

Das Element der Selbstbewertung hat zweifellos eine methodische Tradition im Kunstunterricht (Kansy 2010, S. 24). Zur Förderung des ästhetischen Urteilsvermögens braucht es fachspezifische Unterrichtsmethoden (Peez 2008). Mittels dieser Methoden und deren Anteil an Selbstbewertungsaspekten lässt sich das Vermögen einer differenzierten ästhetischen Urteilsbildung begünstigen und entwickeln. Planen, so Klaus-Peter Busse, heißt "für Schülerinnen und Schüler zugleich Mitplanen, Inhalte des Kunstunterrichts werden begründet und in den Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen verortet, ‚Vorhersehbares‘ (sicheres Wissen und Standards) wird vermittelt und ‚Unvorhersehbares‘ ermöglicht, Wahrnehmungen öffnen und verändern sich" (Busse 2008, S. 3). Innerhalb der Bildumgangsspiele nimmt die Leistungsbewertung, und hierin eingeschlossen die Anteile der ästhetischen Urteilsbildung, einen wichtigen Platz ein. Für die Kunstdidaktik stellt sie ein bedeutsames und – wie gezeigt wurde – weites Forschungsfeld dar.

Literatur

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Bibliografische Angaben zu diesem Text:

Peez, Georg: Beurteilen als kulturelle Sinnpraxis. Ästhetische Urteilsbildung als Kompetenz im Kontext. In: Engels, Sidonie/ Preuss, Rudolf/ Schnurr, Ansgar (Hg.): Feldvermessung Kunstdidaktik. Positionsbestimmungen zum Wissenschaftsverständnis. München (kopaed) 2013, S. 79-91